Da sitze ich also an einem düsteren Novembertag in meinem temporären Büro in einer der großen EU-Hauptstädte, in die ich visumfrei einreisen konnte, und lasse mich von einem Lied einer populären krimtatarischen Sängerin zum Euromaidan inspirieren, um eine Antwort auf die Frage zu finden: Wo stehen die Ukraine und Europa fünf Jahren nach dem Maidan? Das ist keine leichte Aufgabe. Zufälligerweise heißt die Institution, die ich vertrete, »Neues Europa«. Lassen Sie mich das als ersten Referenzpunkt nehmen für meine Bewertung der Entwicklungen, die ihren Anfang nahmen, als die Ukrainer genau vor fünf Jahren auf die Straße gingen, weil ihre europäische Zukunft auf dem Spiel stand. Denn das, was vor uns liegt, ist das Neue Europa – in einer Vielzahl von Bedeutungen.
Widmen wir uns zuerst der Ukraine. In diesem Teil Europas ist der Satz, dass es »seit 2014 mehr Veränderungen im Land gegeben hat als in den vorherigen 23 Jahren der Unabhängigkeit«, fast schon zum Allgemeinplatz geworden. Die Energiereform, die Einstellung der Gasimporte aus Russland, Reformen im öffentlichen Beschaffungswesen, Dezentralisierung, Polizei, vielversprechende Reformansätze in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Korruptionsbekämpfung, Ratifizierung des Assoziierungsabkommens, Einführung des visafreien Reisens in die EU, die Reform der ukrainischen Armee, die Verbesserung im Doing Business Index der Weltbank, in dem die Ukraine langsam, aber stetig von Platz 112 im Jahr 2014 auf Platz 71 im Jahr 2018 geklettert ist – all das wird noch verstärkt durch ein gestiegenes gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein und eine nachgewiesene Kompetenz der Zivilgesellschaft, sich je nach Umständen gegen den Staat zu erheben oder ihm eine helfende Hand zu reichen. Das ist beeindruckend für ein Land, das von einer der mächtigsten Militärmächte der Welt angegriffen wurde, dadurch faktisch 7,2 Prozent seines Territoriums verlor und 2014 in eine tiefe Wirtschaftskrise geriet.
Allerdings sind die Dämonen der Ukraine noch nicht vollständig besiegt. Der ukrainische Staat versäumte es, seine Eliten auszutauschen. Und so belegen alte Bekannte wie die Populistin Julia Tymoschenko oder Jurij Boiko, ein enger Vertrauter des Ex-Präsidenten Janukowytsch und des Oligarchen Dmytro Firtasch, Spitzenplätze in den Meinungsumfragen zu den Präsidentschaftswahlen. Russland verfügt immer noch über unsichtbare Soft-Power in der Ukraine – und wird sie definitiv nutzen – und rund 48 Prozent der Ukrainer gaben im September 2018, also nach mehr als vier Jahren anhaltenden Konflikts in der Ostukraine, an, eine sehr positive oder überwiegend positive Haltung gegenüber Russland zu haben (<https://www.kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=795>). Die Unterstützung für die EU wächst nicht, und in einigen Regionen wie z. B. der Oblast Odessa, nimmt sie sogar ab, während sich das bisherige »pro-russische« Lager in der Bevölkerung zunehmend neutral verhält. Ob es ein tatsächlicher Mentalitätswandel ist oder sie ihre pro-russischen Ansichten schlicht für sich behalten, ist umstritten.
Am bedenklichsten ist die Welle der Angriffe auf Aktivisten. Berichten aus der Zivilgesellschaft zufolge gab es seit 2017 bereits 55 Angriffe, von denen vier tödlich endeten. Das Versagen der ukrainischen Behörden, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen untergräbt das Vertrauen der Öffentlichkeit in die politischen Eliten weiter.
Wie steht es um das heutige Bild der Ukraine im übrigen Europa? Es befindet sich in einem fundamentalen Wandel. Vor fünf Jahren war Europa »tief beunruhigt« und irritiert über die Entwicklungen auf dem Maidan. Gleichzeitig stand die Ukraine für kurze Zeit im Blickpunkt der EU-Hauptstädte. Nun müssen die ukrainischen Botschafter hart darum kämpfen, die Entwicklungen in der Ukraine für die politischen Entscheidungsträger der EU relevant zu halten und die Erfolgsgeschichten zu erzählen, ohne gleich den Vorwurf der Voreingenommenheit zu ernten. Auch die Politiker in den EU-Staaten haben sich verändert. In einigen Ländern regieren nun EU-kritische Kräfte, die 2013 nur eine geringe Popularität besaßen und nun davon träumen, die EU von innen zu demontieren. Es ist beinahe unnötig zu sagen, dass für sie die Ukraine ein Ärgernis ist. Erstaunlicherweise wurden die Sanktionen gegen Russland in diesen vier Jahren beibehalten, aber jede weitere Verlängerungsrunde kann nicht als selbstverständlich erachtet werden. Selbst die Beziehungen der Ukraine zu ihren unmittelbaren Nachbarn – deren Unterstützung für die Ukraine vor zehn Jahren noch unbestreitbar war – sind mit Problemen behaftet, da Ungarn den Dialog zwischen der Ukraine und der NATO blockiert und die Unterstützung Polens eher passiv ist als engagiert. Vor allem aber steht die EU vor einer Flut von populistischen Angeboten und Forderungen, die sie im Kern fundamental verändern. Die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament werden zeigen, ob die alten europäischen Parteien – diejenigen, die Europa die längste Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg regierten – ihren Wählern eine attraktive Alternative gegen die süße populistische Pille bieten können.
Wenn ich den wichtigsten Wandel zusammenfassen müsste, der meinem Land in diesen fünf Jahren durch innere und äußere Entwicklungen widerfahren ist, dann wäre es: Selbstständigkeit – die gestiegene Sensibilität und das Bewusstsein dafür, dass Unterstützung ebenso wenig selbstverständlich ist, wie Veränderungen »irreversibel« sind. Die Ukraine muss nun ihre innere Hydra bekämpfen und ihre Menschen, ihr Territorium und ihre Souveränität zurückgewinnen. Die EU muss sich neu erfinden – und die Ukraine braucht dringend kreative und produktive Ideen, wie sie der EU dabei helfen kann – und damit sich selbst helfen kann. Wenn mich also jemand fragt, ob der Maidan erfolgreich war oder gescheitert ist – ich würde antworten: Der Kampf geht weiter.
Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Eduard Klein