Die Inklusion von Menschen mit Behinderung in der Ukraine

Von Sarah D. Philips (Indiana University, Bloomington)

Zusammenfassung
Nicht zuletzt der bewaffnete Konflikt in der Ostukraine hat durch die wachsende Zahl von Invaliden die Themen Behinderung und Inklusion verstärkt in die ukrainische Öffentlichkeit gerückt. Der Alltag von Menschen mit Behinderung birgt viele Probleme. Zwar gab es zuletzt einige Gesetzesreformen, die die Rechte von Menschen mit Behinderung gestärkt haben, aber die staatliche Unterstützung ist in vielen Bereichen unzureichend und viele Maßnahmen scheitern an der Umsetzung. Hinzu kommen die weitverbreitete Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit Behinderung und der noch aus sowjetischer Zeit stammende Ansatz, sie von der Gesellschaft abzuschotten. Auch die Förderung inklusiver Bildung und die Integration in den Arbeitsmarkt stocken. Positive Akzente setzt die Zivilgesellschaft: Sozialunternehmer entwickeln neue Beschäftigungsmodelle für Menschen mit Behinderung, NGOs treiben Reformen voran und eine neue Generation junger Aktivisten wirbt für eine inklusive Gesellschaft.

Einleitung

Im Januar 2018 lebten laut einem Bericht des Nationalen Verbands der Menschen mit Behinderung in der Ukraine (kurz NAIU) etwa 6 Prozent der ukrainischen Bevölkerung (ca. 2.635.600 Menschen) mit einer Behinderung, darunter 159.000 Kinder. Behinderung wird definiert als Verlust der Gesundheit durch Krankheit, Trauma (bzw. dessen Folgen) oder einen angeborenen Defekt, der Aktivitäten des täglichen Lebens einschränken kann. Der Staat ist verpflichtet, die Voraussetzungen für die Wahrung der Rechte von Menschen mit Behinderung zu schaffen und ihren sozialen Schutz zu gewährleisten. Die offizielle Feststellung einer Behinderung erfolgt durch eine medizinische Expertenkommission. Es werden drei "Stufen" von Behinderung unterschieden, abhängig vom Grad der Beeinträchtigung und den daraus resultierenden Einschränkungen im Alltag. Jede Person mit Behinderung erhält von der medizinischen Expertenkommission eine Empfehlung für ein individuelles Rehabilitationsprogramm, das idealerweise körperliche, psychologische, berufliche und soziale Rehabilitationsmaßnahmen einbezieht, die zum Ziel haben, dass beeinträchtigte oder verlorene Körperfunktionen kompensiert werden und die soziale und materielle Unabhängigkeit und die Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft gefördert werden.

Prekäre Lage trotz Reformen

Das Gesundheitsministerium versucht in jüngerer Zeit verstärkt, die Situation von Menschen mit Behinderung zu verbessern. So übernahm es 2017 die "Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit" der Weltgesundheitsorganisation (WHO) offiziell für das Rehabilitationswesen. Auch das Pilotprojekt "Aufbau eines Systems von Frühfördereinrichtungen" für Kinder mit Behinderung (2017–20) gilt als wichtige Innovation.

Die Ukraine hat die "Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen" ratifiziert und 2012 einen "Nationalen Aktionsplan" zur Umsetzung dieser verabschiedet. Die Konvention verpflichtet die ukrainische Regierung, Menschen mit Behinderung und ihren Familien die nötigen Mittel für eine angemessene Lebensqualität bereitzustellen und die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen kontinuierlich zu fördern – einschließlich des diskriminierungsfreien Zugangs zu Renten, staatlichen Unterstützungsleistungen und Sozialprogrammen. Allerdings stellte 2015 das UN-Komitee für die Rechte von Menschen mit Behinderungen Mängel bei der Umsetzung der Konvention in der Ukraine fest. Die Invaliditätsrenten seien viel zu niedrig, um die Grundbedürfnisse, einschließlich Nahrung und Medizin, zu befriedigen. Ende 2017 betrug die durchschnittliche monatliche Invalidenrente 1.982 Hrywnja – umgerechnet 60 Euro.

Tatsächlich genießen Menschen mit Behinderung in der Ukraine nach wie vor weitaus weniger Privilegien als in anderen europäischen Ländern oder den USA. Viele leben in extremer Armut. Trotz der Verabschiedung umfassender Gesetze, die Menschen mit Behinderung gleiche Rechte im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt sowie eine Reihe von sozialen Unterstützungsleistungen und barrierefreien Zugang zu Verkehr und öffentlichen Gebäuden und Anlagen garantieren, werden viele Kinder und Erwachsene mit Behinderung weiterhin stigmatisiert und diskriminiert. Sie leben abgeschottet, haben keinen Zugang zu Bildung und bekommen keine Arbeit. Oft ist ihr Gesundheitszustand schlecht, weil ihnen eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung verwehrt bleibt.

Besonders gefährdet sind Binnenvertriebene, die aufgrund des anhaltenden bewaffneten Konflikts in der Ostukraine ihre Häuser (und Arbeitsstellen) verlassen mussten. Im Juli 2016 gab es 72.356 Binnenvertriebene mit Behinderung (4,07 Prozent der Binnenvertriebenen).

Schwierige Integration in den Arbeitsmarkt

Der Übergang zur Marktwirtschaft war in der Ukraine für Menschen mit Behinderung besonders schwierig, da ihre Bedürfnisse in den Arbeitsmarktreformen der letzten zwei Jahrzehnte kaum berücksichtigt wurden. Obwohl Verfechter der Rechte von Menschen mit Behinderung betonen, dass gleiche Beschäftigungsmöglichkeiten von entscheidender Bedeutung seien für das Empowerment, ist die Zahl der Menschen mit Behinderung, die eine bezahlte Arbeit haben, in den letzten Jahren nicht wesentlich gestiegen. Im Januar 2015 hatten laut NAIU 742.591 Menschen mit Behinderung einen Job, im Januar 2016 waren es 652.900 und im Januar 2018 stieg die Zahl wieder leicht auf 670.200.

Aktuell werden in der Ukraine wichtige Arbeitsmarkt- und Gesundheitsreformen diskutiert, die erhebliche Auswirkungen auf die Sozial- und Steuerpolitik für Menschen mit Behinderung haben werden. U. a. steht derzeit das Quotensystem für Unternehmen zur Debatte (wonach in bestimmten Unternehmen Menschen mit Behinderung mindestens vier Prozent der Belegschaft ausmachen müssen); darüber hinaus geht es um die Weiterentwicklung der unterstützten Arbeitssuche und Einarbeitung für Menschen mit Behinderung und um die vorrangige Einstellung von Bewerbern mit Behinderung im öffentlichen Dienst. Obwohl die unterstützte Beschäftigung für Menschen mit Behinderung in der Ukraine offiziell gefördert wird, bekommen Arbeitgeber vom Staat bisher zu wenig (finanzielle) Förderung, um unterstützte Beschäftigung umzusetzen.

Ein vielversprechender Weg, den einige Behindertenverbände in der Ukraine verfolgen, ist das Soziale Unternehmertum [vgl. dazu auch Ausgabe 210 der Ukraine Analysen]. Ein Beispiel für ein sehr erfolgreiches Sozialunternehmen, das Arbeitnehmer mit geistiger Behinderung beschäftigt, ist die Bäckerei Good Bread from Good People in Kiew. Allerdings untersagen die geltenden Gesetze in der Ukraine Menschen mit Behinderung zum Teil, eine Invaliditätsrente zu erhalten und gleichzeitig einer bezahlten Beschäftigung nachzugehen. Menschrechtsverteidiger hoffen auf Gesetzesreformen, die verhindern, dass Menschen mit Behinderung zwischen Rente und Arbeit wählen müssen.

Obwohl in der Ukraine die Barrierefreiheit in den letzten zwei Jahrzehnten im Mittelpunkt der Bemühungen um die Rechte von Menschen mit Behinderung stand, sind viele öffentliche und private Räume weiterhin nur schwer oder gar nicht zugänglich für Menschen mit Behinderung, etwa Personen mit eingeschränkter Mobilität oder eingeschränktem Sehvermögen. Zwar müssen per Gesetz alle Gebäude, die neu oder umgebaut werden, barrierefrei sein, die Umsetzung dieser Vorschrift ist aber mangelhaft.

Sowjetisches Erbe als Hindernis für Inklusion

Die Gesetzgebung zu inklusiver Bildung wurde in den letzten Jahren überarbeitet und garantiert allen Schülern mit und ohne Behinderung den gleichen Zugang zu Bildung. Grundsätze der Inklusion, angemessene Vorkehrungen und Universelles Design haben Eingang gefunden in die Gesetzgebung im Bildungsbereich. Die Umsetzung eines gleichberechtigten Zugangs zu Bildung lässt jedoch zu wünschen übrig. Menschen mit Behinderung werden weiterhin in speziellen Schulen unterrichtet, etwa in Internaten oder Heimeinrichtungen für Kinder mit Behinderung.

In der Sowjetunion war es üblich, Menschen mit Behinderung außer Sichtweite der "gesunden" Gesellschaft unterzubringen. 2008 lebten in der Ukraine schätzungsweise noch 38.000 Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Behinderung in Wohnheimen. Eltern, die Kinder mit einer schweren Behinderung zur Welt bringen, bekommen von Ärzten noch immer gesagt, dass diese Kinder in einer Anstalt besser aufgehoben seien. Inzwischen gibt es aber auch Elterninitiativen, die sich gegen solche Einrichtungen und stattdessen für die Unterstützung von Kindern mit Behinderung durch Familien und die Gemeinden einsetzen, wie beispielsweise das Bildungs- und Rehabilitationszentrum "Dscherelo" in Lwiw. Kleinere Pilotprojekte des Unterstützten Wohnens für Menschen mit Behinderung sind erfolgreich, zum Beispiel im ostukrainischen Charkiw, wo die NGO "Emmaus" das "Flying House" gründete – ein Wohnprojekt für fünf junge Frauen mit Behinderung.

Im Dezember 2017 setzte der ukrainische Präsident eine Arbeitsgruppe ein, die Empfehlungen entwickeln soll für die Reform des Systems der Heimunterbringung von Kindern, einschließlich Kindern mit Behinderung. Die Arbeitsgruppe brachte zutage, dass von den 159.000 Kindern mit Behinderung in der Ukraine 55.000 individuell unterrichtet werden (z. B. von einem Lehrer zu Hause), 39.000 in spezialisierten Einrichtungen (z. B. Internate, Wohnheime) lernen und 10.000 gar keinen Unterricht besuchen). Nur 8.000 Kinder mit Behinderung werden in inklusiven oder Sonderklassen an regulären Schulen unterrichtet. Darüber hinaus zeigt die Forschung eine ungleiche regionale Verteilung der Internate für Lernende mit Behinderung. Kinder mit Behinderung, die in Regionen mit vielen Internaten leben, nehmen seltener an inklusiven Lernangeboten teil. Die Hindernisse für inklusive Bildung sind vielfältig und beinhalten auch den Widerstand einiger Lehrer gegen inklusive Bildungsangebote sowie das Fehlen einer inklusionsorientierten Lehrerausbildung.

NGOS und Aktivisten sind Motor für Reformen

Der wichtigste Motor für politische und soziale Reformen der Rechte von Menschen mit Behinderung in der Ukraine ist der bereits erwähnte Nationale Verband der Menschen mit Behinderung in der Ukraine, eine 2001 gegründete landesweite Koalition von NGOs. Die beteiligten Organisationen setzen sich für die Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderung ein, indem sie deren Rechte verteidigen, Gesetzesreformen einfordern und sich für die Inklusion und einen verbesserten sozialen Status von Menschen mit Behinderung einsetzen. Im Januar 2017 zählte der Verband 26 nationale Organisationen und 77 regionale NGOs, einschließlich solcher, die sich an spezielle Gruppen richten, etwa Jugendliche, Frauen, Eltern/Kinder/Familien, Tschernobyl-Opfer, Veteranen, Menschen mit eingeschränkter Mobilität, Menschen mit geistiger Behinderung, Menschen mit Sehbehinderung, Menschen mit Hörbehinderung und andere.

Der Verband führt eine Vielzahl von Projekten durch, von denen viele von internationalen Organisationen wie USAID, UNICEF oder der NATO unterstützt werden. Dazu gehören Programme zur Frühförderung von Kindern mit Behinderung, Rehabilitations- und Beschäftigungsmaßnahmen für Menschen mit Behinderung aus den Strafverfolgungsbehörden und dem Militärapparat (z. B. verwundete Veteranen aus dem bewaffneten Konflikt in der Ostukraine), Barrierefreiheit-Audits, inklusive Bildungsangebote und Projekte, die die politische Partizipation von Menschen mit Behinderung fördern.

Die jüngere Generation von Aktivisten für die Rechte von Menschen mit Behinderung nutzt kreative Advocacy-Strategien, oft unter Einbeziehung von Social Media und Massenmedien. Dmytro Schtschebetyuk, selbst im Rollstuhl sitzend, hat regelmäßig Auftritte in der beliebten ukrainischen Comedy-Nachrichtenshow "Toronto Television". Unter dem Titel "Inklusion" stellt Schtschebetyuk den Zuschauern alltägliche Hindernisse vor, mit denen Menschen mit Behinderung (insbesondere jene mit Einschränkungen der Mobilität) in der Ukraine konfrontiert sind, und bietet eine hilfreiche (und humorvolle!) persönliche Perspektive auf das Thema Inklusion. Ebenfalls in den Sozialen Medien sehr beliebt ist die Sportlerin, Aktivistin und ehemalige Nachrichtensprecherin Uljana Ptscholkina, die gemeinsam mit ihrem Mann, dem Aktivisten Witalij Ptscholkin (beide sitzen im Rollstuhl und leiten die NGO "Active Rehabilitation Group"), zeigt, wie "cool" Inklusion ist.

Obwohl die EuroMaidan-Revolution 2014 dazu führte, dass sich mehr Menschen im Land ehrenamtlich engagierten und für Menschenrechte eintreten, brachte sie keine deutlichen Verbesserungen in der Gesetzgebung für und im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Dass es aufgrund des anschließenden bewaffneten Konflikts im Donbas eine steigende Zahl von Veteranen mit Behinderung gibt (insbesondere junge Männer), ist eine wichtige Tatsache, wenn man das Thema Behinderung in der Ukraine aktuell betrachtet. Die hohe Zahl von Veteranen mit Behinderung, die nach medizinischer, sozialer und beruflicher Rehabilitation streben, hat die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit auf das Thema Behinderung und Inklusion gelenkt. Dass durch die Veteranen Behinderung, Patriotismus und staatliche Verantwortung miteinander verknüpft werden, kann durchaus nützlich sein für die Arbeit der Interessenvertreter von Menschen mit Behinderung.

Fazit

Wenn auch in der Ukraine in den letzten Jahrzehnten bedeutende Fortschritte erzielt wurden, was die Rechte und soziale Inklusion von Menschen mit Behinderung angeht, bleibt noch viel zu tun. Barrierefreiheit im öffentlichen Raum für Menschen mit körperlicher Behinderung wird durch die ukrainische Öffentlichkeit zunehmend unterstützt. Die Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung ist jedoch nach wie vor ein problematisches Thema – insbesondere für Menschen mit Entwicklungsstörungen oder Menschen mit geistiger Behinderung, die oft ausgeschlossen werden – sowohl von der Gesellschaft als auch von der Diskussion über die Rechte und die Interessen von Menschen mit Behinderung.

Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Eduard Klein

Lesetipps / Bibliographie

  • Sarah D. Phillips. 2010. Disability and Mobile Citizenship in Postsocialist Ukraine. Bloomington: Indiana University Press.
  • Sarah D. Phillips. 2009. »There are No Invalids in the USSR!« A Missing Soviet Chapter in the New Disability History. Disability Studies Quarterly 29(3). http://dsq-sds.org/article/view/936/1111.

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