Es gibt nicht nur Schwarz oder Weiß
2019 ist ein besonderes Jahr für die Ukraine: Der Maidan, die Annexion der Krim und der Beginn des Krieges im Donbass jähren sich zum fünften Mal. Außerdem stehen zentrale politische Weichenstellungen bevor: Am 31. März finden die Präsidentschaftswahlen und Ende Oktober die Parlamentswahlen statt. Aus mehreren Gründen sind diese Wahlen entscheidend für die Zukunft der Ukraine: Der angestoßene Reform- und Demokratisierungsprozess steht auf dem Spiel ebenso wie die Souveränität des Landes und seine Annäherung an Europa.
Es gibt Befürchtungen, dass Russland durch eine latente Einmischung in den Wahlprozess noch mehr Instabilität im Land verbreiten könnte und den Einfluss vor Ort wieder ausdehnt. Erst vor Kurzem kam es laut dem Leiter der ukrainischen Cyberpolizei zu Cyberattacken auf die Wahlinfrastruktur. Leonid Krawtschuk, der erste ukrainische Präsident (1994–2005), blickt auf diese Gefahr mit Sorge. Wenn die Ukrainer eine falsche Wahl träfen, könnte dies seiner Meinung nach die letzte freie Willensäußerung in der Geschichte der Ukraine gewesen sein, teilte er kürzlich mit.
Trotz vieler Probleme, welche die Ukraine seit der Unabhängigkeit plagen – z. B. die grassierende Korruption oder der große Einfluss der Oligarchen auf Politik und Wirtschaft – wäre es unfair, die jüngsten Fortschritte in der Ukraine klein zu reden. So zählen die vergangenen fünf Jahre zu den dynamischsten in der jungen Geschichte des Landes. Obwohl sich das alte politische System gegen Reformen stemmt, wurden zahlreiche Erfolge erzielt, z. B. bei der Bekämpfung der Korruption, der Stabilisierung der Währung, der Sanierung des Staatshaushaltes oder im Bankensektor.
Eine der aussichtsreichsten Reformen ist die seit 2014 laufende Dezentralisierungsreform, die derzeit das administrative System in der Ukraine neu ordnet. Das Hauptziel besteht darin, schwierig zu verwaltende Kleinkommunen in größeren Territorialgemeinden zusammenzufassen, was bisher äußerst positiv aufgenommen wurde. Bereits mehr als 3.000 Kleinkommunen fusionierten zu gut 800 größeren Territorialgemeinden, und laufend kommen neue hinzu. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung und Entwicklung der ukrainischen Regionen, weil Ressourcen, Finanzmittel und Kompetenzen gebündelt werden, was die dort lebenden Menschen in Form neuer Straßen, Schulen oder Ämter unmittelbar zu spüren bekommen – und was die Attraktivität der von Abwanderung gebeutelten ländlichen Regionen erhöht.
Seit einiger Zeit wird der Versuch unternommen, in der Ukraine eine liberale und funktionierende Marktwirtschaft aufzubauen. Die Wirtschaft erholt sich nach der tiefen Krise von 2014/15 langsam wieder, und dank des Assoziationsabkommens floriert der Handel mit Europa. Internationale Marktführer haben in den letzten Jahren Dutzende neue Betriebe eröffnet, Global Player wie IKEA oder H&M drängen auf den lukrativen Markt. Auch ukrainische Unternehmen entwickeln sich rasant, etwa in den Bereichen IT und Design, Waren des täglichen Bedarfs oder Landwirtschaft. Im Zuge der Visaliberalisierung konnten mehr als 555.000. Ukrainer visumsfrei in die EU reisen. Der große Pool an gut ausgebildeten ukrainischen Fachkräften füllt aktuell die Lücken auf den boomenden Arbeitsmärkten in Warschau und Prag.
Für die Menschen in der Ukraine sind die Souveränität ihrer Kirche und die Freiheit des Glaubens von zentraler Bedeutung. Zwar wurde die Unabhängigkeit vom Moskauer Patriarchat, dem die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche seit Jahrhunderten faktisch unterstand, durch die Spaltung der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche in mehrere Kirchen deutlich erschwert. Dennoch erkannte der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel die neue, von Moskau unabhängige Ukrainisch-Orthodoxe Kirche am 6. Januar 2019 offiziell an. Die Autokephalie wird jetzt schon als eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres gewertet.
Trotz dieser Fortschritte – es könnten noch weitere Beispiele genannt werden wie etwa Reformen im Bildungs- oder Gesundheitssektor – existieren immer noch zahlreiche Problemfelder, weswegen die ukrainischen Reformbemühungen weiterhin – und zu Recht – von der EU und der internationalen Gemeinschaft kritisiert werden. Bemängelt wird vor allem, dass die Intensität des Reformprozesses nachlasse und manche Reformen nur partiell umgesetzt werden. Ein Beispiel dafür ist die Polizeireform von 2015. Durch ein neues Prüf- und Auswahlverfahren sollten ungeeignete Polizeikräfte entlassen und durch besser qualifizierte Bewerber ersetzt werden. In der Praxis verlief die Neuattestierung der Polizeikräfte jedoch nicht nach entsprechenden Qualitätskriterien und fast 90 Prozent aller Polizisten, die bereits in den alten Strukturen gedient hatten, konnten ihre Arbeit fortsetzen. Und selbst diejenigen, die aus dem Polizeidienst entlassen wurden, erwirkten per Gericht ihre Wiedereinstellung, so dass der Effekt der Reform praktisch verpuffte.
Und auch wenn bereits die Gründung und bloße Existenz des neuen unabhängigen Antikorruptionsbüros (NABU) und der Antikorruptionsstaatsanwaltschaft, die auf die Verfolgung korrupter höherer Amtsträger spezialisiert ist, ein großer Erfolg ist – die Etablierung eines so wichtigen unabhängigen Antikorruptionsgerichts kommt nur schleppend voran und wird daher sowohl innerhalb des Landes als auch von Brüssel und Washington deutlich kritisiert. Bei der letzten Auswahlrunde der zukünftigen Richter, an der auch internationale Experten beteiligt waren, fielen 42 der verbliebenen 113 Kandidaten wegen Integritätsbedenken durch. Im nächsten Schritt muss die Oberste Qualifizierungskommission aus den verbliebenen Kandidaten zwischen 35 und 39 Richter ernennen, die Präsident Poroschenko dann noch bestätigen muss. Daher wird das Gericht, auf dem große Erwartungen ruhen, voraussichtlich erst zum Sommer seine Arbeit aufnehmen.
Politikverdrossenheit und instabiles Parteiensystem
Die Komplikationen auf dem Weg der Reformen und die prekäre wirtschaftliche Situation der Bevölkerung (z. B. lag 2017 das Durchschnittsgehalt bei niedrigen 192 Euro) gehen einher mit Politikverdrossenheit und Demoralisierung und sind nicht zuletzt mit für die massenhafte Migration verantwortlich (alleine 2017 sollen mehr als eine Million Ukrainer das Land verlassen haben). Die Menschen stimmen mit den Füßen ab und zeigen so ihre Enttäuschung über die Situation im Land. Auch der ukrainisch-russische Konflikt, der fast täglich Opfer fordert, prägt im Vorfeld der Wahlen die Stimmung in der Bevölkerung.
Im Dezember 2018 machten in einer Umfrage der "Stiftung Demokratische Initiative" (DIF) 14 Prozent der Bevölkerung die Aussage, dass sie auf eine Teilnahme bei der Präsidentschaftswahl verzichten würden (im September waren es noch 23 Prozent). Hauptursache dafür sei, dass sie keinen einzigen vertrauenswürdigen Kandidaten sehen. Ähnliches gilt auch für die Parlamentswahlen. Hier glauben 40 Prozent der Bevölkerung nicht an eine glaubwürdige und ehrliche Wahl. Ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung hat sich noch nicht entschieden, wem sie ihre Stimme geben wird. Das macht die bevorstehenden Wahlen äußerst unberechenbar.
Das ukrainische Parteiensystem ist nach wie vor sehr instabil. Die Parteien sind keine bürgerlichen Parteien im Sinne demokratisch gewachsener Volksparteien, sondern eher politische Projekte, deren Existenz vielfach mit Korruption und der Abhängigkeit von Mäzenen und Oligarchen in Zusammenhang steht. Sie sind geprägt von den Interessen der jeweiligen Parteichefs und nicht von politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Ideologien. Das spiegelt sich auch im Wählerverhalten wider: Laut DIF-Erhebung legen 57 Prozent der Bevölkerung mehr Wert auf die Persönlichkeit der Politiker, als auf die politische Programmatik – die nur bei 36 Prozent der Ukrainer die Wahlentscheidung beeinflusst.
Programmatischen Parteien hingegen fehlt es oft an finanziellem Rückhalt. Dies ist einer der Gründe, warum die Chancen der Zivilgesellschaft, sich in der Politik zu etablieren, wenig Aussicht auf Erfolg haben. Solange neue reformorientierte Parteien kein Geld besitzen, können sie sich kaum in der Politik durchsetzen, wie etwa das Beispiel von "Syla Ljudej" zeigt, die ohne finanzkräftige Unterstützer einen schweren Stand hat. Obwohl 2016 ein Gesetz über die staatliche Finanzierung der Parteien in Kraft getreten ist, welches den Weg für neue Bürgerparteien erleichtern soll, hat sich nicht viel verändert. Es bedarf noch deutlicherer Anstrengungen, damit die Parteien nicht von singulären Interessen getrieben werden, sondern von denen der Wähler.
Sehnsucht nach neuen Gesichtern
Präsident Petro Poroschenko führt zurzeit nur in einem Rating haushoch: Dem Misstrauens-Rating, das diejenigen Kandidaten beinhaltet, die jemand auf gar keinen Fall wählen würde. Trotz seiner Bemühungen, Staatsoberhaupt zu bleiben, spricht dieses Resultat nicht gerade für eine erfolgreiche Wiederwahl. Dieses Misstrauensvotum geht vor allem auf seine Untätigkeit zurück, die fest verwurzelte oligarchische Ordnung aufzubrechen, sowie auf den Krieg im Osten der Ukraine, den er nicht wie versprochen beenden konnte und der von zwei Drittel der Bevölkerung als größte Sorge bezeichnet wird. In dieser Hinsicht könnte Poroschenkos Akzent auf der Erhaltung des Staates ein letzter Strohhalm sein, zumal bisher noch keiner der Konkurrenten einen klaren Vorschlag zur Konfliktlösung unterbreitet hat. Auch wenn Poroschenko viele Versprechen nicht erfüllt hat, scheint er die Person zu sein, der im politischen Kiew die Fortsetzung des Reformkurses am ehesten zugetraut wird getreu dem Motto: "Da weiß man wenigstens, was man hat".
Am 8. Februar teilte die Zentrale Wahlkommission mit, dass 44 Kandidaten – darunter vier Frauen – zur Wahl zugelassen wurden; so viele wie noch nie. In den aktuellen Umfragen kristallisieren sich zwei Punkte heraus: Erstens wird es voraussichtlich keinen klaren Sieger in der ersten Runde geben, was eine Stichwahl erforderlich machen würde. Zweitens gibt es im Grunde nur drei Kandidaten, die eine wirkliche Aussicht auf Erfolg haben: Neben Amtsinhaber Poroschenko ist das zum einen die altbekannte Populistin Julija Tymoschenko, die bereits zum dritten Mal kandidiert. Führte sie die Umfragen zunächst an, hat sie inzwischen an Zustimmung verloren, und ein völlig neues politisches Gesicht stürmte innerhalb weniger Wochen an die Spitze der Umfragen – der Schauspieler und Komiker Wolodymyr Selenskyj, den viele Ukrainer aus seiner populären Serie "Diener des Volkes" kennen, in der er einen Lehrer spielt, der unverhofft Präsident wird. In den jüngsten Umfragen liegt er deutlich vor Poroschenko und Tymoschenko und würde auch in einer Stichwahl klar gewinnen. Dass Selenskyj so schnell aufsteigen konnte, erklärt sich wohl vor allem dadurch, dass viele Menschen die alten politischen Eliten satthaben – 66 Prozent der Ukrainer wollen laut aktuellen Umfragen neue Gesichter in der Politik sehen. Allerdings weckt seine Kandidatur bei vielen Beobachtern auch Kritik: Zum einen wegen seiner Verbindung zum Oligarchen und ehemaligen Gouverneur der Oblast Dnipropetrowsk Ihor Kolomojskyj, auf dessen Fernsehsender "Diener des Volkes" läuft; zum anderen weil seine politische Unerfahrenheit in Zeiten großer politischer und wirtschaftlicher Instabilität als großes Risiko gesehen wird. Ob Selenskyj seine Fernsehrolle als reformorientierter Präsident auch in der Realität ausfüllen kann – und in welche Richtung er das Land dann lenken wird, weiß niemand.
Es wird vor allem von der Fähigkeit des neuen Präsidenten abhängen, ob die Ukraine nach den Wahlen in ein Regierungschaos verfällt, denn dieser muss mit dem Parlament kooperieren, um eine tragfähige Regierung zu bilden. Für Selenskyj könnte bereits das problematisch werden, da seine junge Partei in aktuellen Umfragen zwar führt, aber nicht im aktuellen Parlament vertreten ist.
Wahlrechtsreform notwendig
Daneben gibt es ein weiteres viel diskutiertes Thema im Superwahljahr: die Wahlrechtsreform, die von entscheidender Bedeutung für die Parlamentswahlen im Oktober ist. Derzeit existiert in der Ukraine ein gemischtes Wahlsystem – 50 Prozent der Sitze werden nach dem Mehrheitswahlrecht vergeben und die anderen 50 Prozent nach dem Verhältniswahlrecht. Der Nachteil dieses Systems mit Blick auf die ukrainische Realität besteht darin, dass Stimmen bzw. Mandate leicht gekauft werden können. Es kann bereits ausreichen, in ein nicht besonders aufwändiges Infrastrukturprojekt im eigenen Wahlkreis zu investieren oder schlicht Lebensmittel an Rentner zu verschenken, um einen Sitz zu erlangen. Clevere, charismatische Kandidaten mit finanziellen Mitteln können in Mehrheitswahlkreisen viel einfacher gewinnen, wenn sie als unabhängige Parteilose kandidieren. Daher böte die Idee offener Wahllisten, wie es sie in vielen EU-Staaten gibt, die Chance, perspektivisch ein stabiles Parteiensystem in der Ukraine zu schaffen und neuen progressiven Kräften den Einzug ins Parlament zu erleichtern. Die dafür notwendige Änderung des Wahlgesetzes, worüber demnächst in der Werchowna Rada entschieden werden soll, schreckt jedoch viele Abgeordnete ab. Denn ein politisches Mandat sichert auch fünf Jahre nach dem Majdan trotz aller Reformen nicht nur politisches Kapital, sondern auch ökonomisches – und das gibt niemand gerne freiwillig ab.
Fazit
In diesem Superwahljahr kommen spannende Zeiten auf die Ukraine zu. Das Wichtigste ist, dass der Reformprozess und die Nachhaltigkeit der ukrainischen Entwicklung weder von den Politikern noch von der Bevölkerung in Frage gestellt werden. Da aktuell keiner der offiziellen Präsidentschaftskandidaten eine klare Mehrheit hat, wird es aller Voraussicht nach zu Stichwahlen kommen, die laut aktuellen Umfragen der politisch unerfahrene Selenskyj gewinnen würde – dessen politische Agenda unklar ist. Auch die bevorstehenden Parlamentswahlen im Herbst sind von entscheidender Bedeutung, da ihr Ergebnis die Ausrichtung des Landes in den kommenden Jahren mitbestimmen wird. Wie auch immer die beiden Wahlen ausgehen werden – ihr Ausgang wird eine große Auswirkung auf die Stabilität in der Ukraine und ganz Europa haben.