Die Lokalwahlen 2020 und ihre Bedeutung für Dezentralisierung und Konfliktlösung in der Ukraine

Von Maryna Rabinovych (Kyiv School of Economics), Oleksandra Deineko (Nationale W.-N.-Karasin-Universität, Charkiw)

Zusammenfassung
Die Lokalwahlen von 2020, die am 25. Oktober in der Ukraine stattfanden, galten als Zerreißprobe für die Regierung und vor allem das Team um Präsident Selenskyj. Sie waren die ersten Lokalwahlen, nachdem eine ambitionierte Dezentralisierung fast vollständig umgesetzt worden war. Zum anderen bestand bis einen Monat vor den Wahlen noch die Hoffnung, diese auch in den derzeit nicht unter ukrainischer Kontrolle stehenden Territorien der Ostukraine abhalten zu können. Wie wirkten sich die Lokalwahlen auf die Dezentralisierung und die Lösung des Donbass-Konflikts aus?

Die Lokalwahlen von 2020, die am 25. Oktober in der Ukraine stattfanden, galten als Zerreißprobe für die Regierung und vor allem das Team um Präsident Selenskyj. Neben dem Umstand, dass die Regierung zeigen musste, dass sie inmitten der Pandemie sichere Wahlen organisieren konnte, hat dies zwei Gründe. Zum einen waren die Wahlen die ersten Lokalwahlen, nachdem eine ambitionierte Dezentralisierung fast vollständig umgesetzt worden war, die den Transfer zahlreicher neuer Kompetenzen und finanzieller Ressourcen an die Amalgamierten Territorialgemeinden (ATGs) mit sich gebracht hatte. Zum anderen bestand bis einen Monat vor den Wahlen noch die Hoffnung, diese auch in den derzeit nicht unter ukrainischer Kontrolle stehenden Territorien der Ostukraine abhalten zu können. Wegen des Stillstands bei den internationalen Friedensgesprächen im Rahmen des Minsker Prozesses erfüllte sich diese Hoffnung nicht.

Wie wirkten sich die Lokalwahlen auf die Dezentralisierung und die Lösung des Donbass-Konflikts aus? Die große öffentliche Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde, und die Größenordnungen der Wahlkampagnen zeigen, dass die Dezentralisierung unumkehrbar ist; der Fokus verschiebt sich vom Zentrum auf die Lokalpolitik. Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass erweiterte Kompetenzen lokaler Behörden die Lokalpolitik stärken und zur Konfliktlösung beitragen. In der Ukraine könnten einige Besonderheiten bewirken, dass hier eine gegenläufige Tendenz stattfindet.

Idealerweise bewirkt Dezentralisierung eher eine Machtumverteilung als eine Schwächung der Zentralmacht. Eine solche Schwächung findet in der Ukraine derzeit allerdings offensichtlich statt. Laut den Ergebnissen von Befragungen am Wahltag wurde keiner der von der Pro-Präsidenten-Partei Diener des Volkes vorgeschlagenen Kandidaten zum Bürgermeister gewählt. Stattdessen behalten die amtierenden Bürgermeister der großen Städte Kyjiw, Odessa, Dnipro, Charkiw und Lwiw ihre Ämter wohl, während diese Großstädte in den Medien immer öfter als »Königreiche« oder »Pfründe« der Bürgermeister bezeichnet werden. Besonders deutlich wurde die wachsende Bereitschaft der Bürgermeister zur Opposition gegen die Zentralregierung bisher an deren Umgang mit der Corona-Pandemie: Viele Bürgermeister – auch kleinerer Städte wie Tscherkasy oder Poltawa – widersetzten sich mit Zustimmung ihrer Wählerschaft geltenden Quarantäne-Vorschriften, wobei keiner dieser Fälle vor Gericht kam. In vielen Oblasten bekamen die Parteien der amtierenden Bürgermeister – etwa die Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen UDAR, angeführt von Kyjiws Bürgermeister Witalij Klitschko, oder der Kernes-Block Erfolgreiches Charkiw, angeführt von Charkiws Bürgermeister Hennadiy Kernes – außerdem auf Oblast- und lokaler Ebene mehr Stimmen als landesweit vertretene Parteien. Diese regionale Polarisierung von politischen Präferenzen verstärkt das Konfliktpotential zwischen Zentrum und Peripherie. Bedrohlich ist dabei der starke Zulauf, den prorussische Parteien erhalten, denn er könnte zu einer Wiederbelebung separatistischer und revanchistischer Bewegungen in der Südostukraine führen. So erhielt beispielsweise die Partei Oppositionsplattform Für das Leben in Mariupol 30,69 Prozent, in Odesa 22,38 Prozent und in Charkiw 16,99 Prozent der Wählerstimmen. Die ebenfalls im Aufstieg begriffene Partei von Anatoliy Schariy bekam in Odesa, Charkiw und Mykolajiw jeweils sechs bis sieben Prozent der Stimmen. Solche Bewegungen lassen sich nicht ausschließlich mit der vielfach geäußerten Desillusionierung in Bezug auf die Pro-Maidan-Bewegung und mit prorussischen Gefühlen begründen.

Entscheidend ist dabei auch der Entwurf für den Staatshaushalt 2021 vom 14. September. Durch das Zusammentreffen von Corona-Krise und wirtschaftlichem Abschwung unter wesentlich erschwerten Bedingungen zustande gekommen, enthält er keine Subventionen zur Unterstützung der sozioökonomischen Entwicklung in den ATGs (nach den coronabedingten Veränderungen waren dafür 1,7 Milliarden UAH für 2020 eingeplant). Auch für die Infrastruktur in den ATGs sind keine Subventionen eingeplant (ursprünglich waren für 2020 rund 2,1 Milliarden UAH vorgesehen, wegen der Corona-Maßnahmen wurden sie komplett gestrichen). Der Haushaltsentwurf für 2021 sieht zwar andere Subventionen vor (etwa für Bildung, Maßnahmen gegen Covid-19 und kommunale Gesundheitseinrichtungen), die für die sozioökonomische und infrastrukturelle Entwicklung fehlenden Subventionen werden in den ATGs allerdings als Schwächung der Dezentralisierungsgrundlage wahrgenommen. In Bezug auf die zur Verfügung stehenden Subventionen haben die ATGs auf unklare Mechanismen für deren Verteilung hingewiesen – und damit ein weiteres Mal ein Konfliktpotential zwischen ATGs untereinander sowie zwischen verschiedenen Regierungsebenen aufgezeigt (ATGs, Oblasten und Zentrum).

Diese Punkte könnten den Eindruck erwecken, die Lokalwahlen 2020 hätten sich ausschließlich negativ auf die Konfliktlösung ausgewirkt. Zumindest drei Faktoren geben jedoch auch für vorsichtigen Optimismus Anlass. Erstens: Politische Polarisierung gilt gemeinhin als Auslöser für politische Konflikte. Im Fall der Lokalwahlen 2020 zeigen die Führungspositionen, die unterschiedliche politische Parteien in verschiedenen Teilen der Ukraine einnehmen, jedoch eher, dass die Wahlen tatsächlich frei sind und dass sich das Zentrum nicht in die Lokalpolitik einmischt. Dies ist zweifellos ein wichtiges Signal an die Bevölkerung der nicht unter ukrainischer Kontrolle stehenden Gebiete, das ihr Vertrauen in die Zentralregierung stärken und ihre Haltung in Bezug auf eine Wiedereingliederung in die Ukraine verändern könnte. Zweitens zeigt ein Blick auf die von Selenskyj initiierte Volksbefragung mit zwei direkt auf den Donbas bezogene Fragen, dass die Lösung des Konflikts in der Ostukraine von entscheidender Bedeutung für den Präsidentendiskurs ist. Außerdem zeigen die Ergebnisse der Befragung, dass die Schaffung einer Sonderwirtschaftszone im Donbass – wie auch immer deren territoriale Ausmaße und rechtliche Konstruktion aussähen – bei der Bevölkerung in den von der Ukraine kontrollierten Landesteilen höchst umstritten ist. Wirtschaftliche (Wieder-)Eingliederung wird langfristig jedoch mehr bringen als die regelmäßig vor dem Stillstand stehenden und hochgradig politisierten Friedensgespräche. Und letzten Endes könnte der Ukraine das Budapester Memorandum über Sicherheitsgarantien von 1994, auf das die Selenskyj-Befragung hinweist, als vergessene Sicherheitsgarantie der Ukraine in politischen und Sicherheitsfragen zum Vorteil gereichen.

Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Lokalwahlen 2020 zur Konsolidierung der neuen Realität der Dezentralisierung beigetragen haben und in Bezug auf den Konflikt zwei Trends verdeutlichen: Polarisierung und Konfliktpotential wachsen angesichts der Corona-Herausforderung stark an, die Regierung sucht in dieser Lage allerdings auch nach neuen Wegen, um den Stillstand bei den Minsker Gesprächen zu überwinden und den Donbas wieder zu integrieren.

Übersetzung aus dem Englischen von Sophie Hellgardt

Dieser Text entstand mit Unterstützung des Norwegischen Forschungsrats im Rahmen des Projekts Accommodating Regional Diversity in Ukraine (ARDU) der Oslo Metropolitan University. Weitere Informationen über das Projekt finden sich hier: https://uni.oslomet.no/ardu/.

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