Der neue Kontext: größere Bedeutung, hervorgehobene Rolle von Parteien, Covid-19 gegen die Zentralregierung
Durch die fortschreitende Dezentralisierung und die steigenden Einnahmen der Gemeinden hat ein Sieg bei den Lokalwahlen beträchtlich an Bedeutung gewonnen. Im Zuge der Vergrößerung sind etwa 1.400 neue Territorialgemeinden entstanden, die über deutlich größere Finanzmittel verfügen, ebenso wurden die 490 Rajone zu 136 Rajone fusioniert und somit vergrößert. In den vorübergehend okkupierten Oblasten Donezk, Luhansk und auf der Krim fanden keine Wahlen statt. Kurz gesagt: Der Druck von Russland und einige mehrdeutige Aussagen der Regierung, dass die Wahlen am 25. Oktober theoretisch gleichzeitig auf dem gesamten Territorium des Donbas stattfinden könnten, sorgten für so große Empörung in der ukrainischen Gesellschaft, dass Kyjiw schließlich bei seiner ursprünglichen Haltung blieb. Auch in den 18 frontnahen Gemeinden fanden wegen Sicherheitsbedenken keine Wahlen statt (etwa 0,5 Millionen und damit 1,74 Prozent der 28,6 Millionen Wahlberechtigten), was sowohl von der Opposition als auch von Wahlexperten kritisiert wurde. Wie schon 2015 wurden in den regierungskontrollierten Gebieten des Donbas mit Ausnahme der Wahlen zu den Radas der Oblaste Wahlen abgehalten. Allerdings durften Binnenflüchtlinge an ihrem neuen Aufenthaltsort wählen, wenn sie zuvor einen Antrag bei der Meldebehörde gestellt hatten. Erstmals waren mindestens 40 Prozent der Kandidaten weiblich.
Eine Besonderheit dieser Wahlen war die gestiegene Bedeutung von Parteien. In den Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern wurde ein Verhältniswahlsystem mit offenen Listen eingeführt, das die Aufstellung von unabhängigen Kandidaten ausschloss. Die Initiative, die Schwelle von 90.000 auf 10.000 Einwohner herabzusenken, ging auf die Regierungspartei Diener des Volkes zurück, weil dies die Möglichkeit bot, sich an die Zustimmungswerte des Präsidenten »anzuhängen«, der trotz sinkender Umfragewerte nach wie vor der beliebteste Politiker im Land ist. Außerdem hat sich in dieser Frage ein Konsens der stärksten Kräfte gebildet, da die großen Parteien von dieser Regelung profitieren. Dies beeinträchtigte die Rechte der unabhängigen Kandidaten und lokalen Aktivisten erneut stark. Experten betonen, dass diese Schwelle zur nächsten Wahl wieder angehoben werden sollte.
Dennoch bringt die Verhältniswahl den Vorteil, dass es in den meisten Radas keine dominierende Kraft geben wird. Stattdessen werden sich de facto Koalitionen und spontane Allianzen bilden müssen.
Einen erheblichen Einfluss auf die Wahlergebnisse hatte Covid-19, weil die Zentralregierung zu Beginn der Pandemie sehr strenge Maßnahmen getroffen hatte. Diese stellten sich im Nachhinein als unverhältnismäßig heraus und schwächten die Wirtschaft massiv. Umfragen belegen aber, dass die Ukrainer einen wirtschaftlichen Abschwung mehr fürchten als das Virus. Die Lokalregierung inszenierte sich als Beschützerin der einfachen Bürger vor der »Willkür« der Zentralregierung. Als sich das Coronavirus später stark ausbreitete und die Zeit für harte Maßnahmen tatsächlich gekommen war, schreckte die Zentralregierung davor zurück, diese so kurz vor den Wahlen durchzusetzen, um nicht noch mehr Wähler an die Bürgermeister zu verlieren. Wie die Wahlergebnisse zeigen, werden die Möglichkeiten der Zentralregierung auch weiterhin begrenzt sein.
Der Verlauf des Wahlkampfs und die Wahlen
Für gewöhnlich ist die Wahlbeteiligung in der Ukraine bei Lokalwahlen niedriger als bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Nach Angaben der Zentralen Wahlkommission lag sie diesmal bei nur 36,9 Prozent. Das sind 10 Prozent weniger als bei den Lokalwahlen 2015. Die höchste Wahlbeteiligung gab es in der Oblast Ternopil (47 Prozent), die niedrigste in der Oblast Donezk auf dem der Ukraine unterstehenden Territorium (32 Prozent).
Eine Erklärung für die niedrigere Wahlbeteiligung liefert die Covid-19-Pandemie. Nichtsdestotrotz blieb die Beteiligung der älteren Generation (die der Risikogruppe angehört) laut einer Umfrage von Rating Group auch unter diesen Umständen hoch. 56 Prozent der Wähler waren über 50 Jahre alt (unter allen Wahlberechtigten macht diese Altersgruppe 45 Prozent aus). Gleichzeitig waren nur 11 Prozent der Wähler zwischen 18 und 29 Jahre (18 Prozent aller Wahlberechtigten). Besonders groß war das Übergewicht der älteren Wählerschaft im Osten und im Süden des Landes, wo 60 Prozent der Wähler über 50 Jahre alt waren (http://ratinggroup.ua/research/ukraine/mestnye_vybory_2020_analiz_vozrastnoy_struktury_izbirateley.html). Das führte dort zu einem Zugewinn an Stimmen für die Nachfolgepartei von Janukowytschs Partei der Regionen: der Oppositionsplattform – Für das Leben, deren Wählerschaft schon immer überwiegend aus älteren Menschen bestand.
Der zweite wichtige Faktor in Bezug auf die geringe Wahlbeteiligung ist die Enttäuschung nach der Euphorie von Selenskyjs Sieg und der sogenannten »grünen Erfolgswelle« (Grün ist die Farbe der Selenskyj-Partei Diener des Volkes, Anm. d. Redaktion) bei den Parlamentswahlen 2019. 63 Prozent der Wahlberechtigten, die an den Wahlen nicht teilgenommen haben, gaben an, von der Situation im Land enttäuscht zu sein (http://ratinggroup.ua/research/ukraine/rezultaty_elektoralno-povedencheskogo_issledovaniya_v_den_vyborov.html).
Bei einer niedrigen Wahlbeteiligung wächst die Bedeutung jeder einzelnen Stimme. Die Listen erschweren zwar die Wahlfälschung, dafür kommt es in den kleinen Gemeinden auf ein paar wenige Stimmen an. So betrug die Differenz bei den Bürgermeisterwahlen in Marhanez in der Oblast Dnipropetrowsk gerade einmal fünf Stimmen. Eine rechtlich nicht begründete Neuauszählung der Stimmen ergab einen knappen Sieg für die Oppositionsplattform. Nun wird vor Gericht über den Bürgermeisterposten entschieden.
Die Wahlslogans der Parlamentsparteien entsprachen eher nationalen als lokalen Wahlen. Die Talkshows in den zentralen Medien ließen sich über landesweite politische Skandale aus und gingen kaum auf Lokalpolitik ein. Zudem führten Parlamentsabgeordnete und sogar Regierungsmitglieder die Listen ihrer Parteien für die Oblast-Radas an.
Im Wahlkampf kritisierte die Oppositionsplattform Präsident Selenskyj und akzentierte soziale Fragen und den Frieden im Donbas.
Auch die Europäische Solidarität des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko kritisierte Selenskyj und fokussierte ihren Wahlkampf auf die Verhinderung einer »prorussischen Revanche« durch die Oppositionsplattform.
Vaterland, die Partei der ehemaligen Premierministerin Julija Tymoschenko, betonte vor allem die Themen Rente, kommunale Nebenkosten und Gehälter, die jedoch ebenfalls nicht auf lokaler Ebene entschieden werden.
Im Rahmen der Kampagne von Diener des Volkes reiste Selenskyj durch das Land und eröffnete Straßen, Stadions und soziale Einrichtungen. Das alles wurde nicht von Staatssymbolen, sondern von den Symbolen der Präsidenten-Partei begleitet.
Die erste und wichtigere Stimme bei den Rada-Wahlen geht an eine Partei. Doch laut der Stiftung Demokratytschni iniziatywy (Demokratische Initiativen) wussten noch im August nur 34 Prozent der Wahlberechtigten, dass es in ihrer Stadt ein Büro der Partei gab, die sie wählen wollten. Bei der Wahl der Bürgermeister gaben nur 20 Prozent an, dass die Parteizugehörigkeit für sie relevant sei (https://dif.org.ua/article/mistsevi-vibori-2020-elektoralni-nastroi-gromadyan). Daher bekamen in vielen Fällen bevorzugt die lokalen Parteien die Stimmen, die Parteien der Bürgermeister »in der jeweiligen Stadt/Oblast« sind. Nachdem sie ihr Kreuz bei einer der Parteien gemacht hatten, konnten die Ukrainer noch einzelne Kandidaten aus den Parteilisten wählen. Aber das Wissen über diese war minimal, weil in den Medien nur unzureichend über sie berichtet worden war. In den Umfragen von Rating Group gaben 40 Prozent der Wähler an, dass sie Schwierigkeiten hatten, sich auf dem Wahlzettel zu orientieren. Letztlich waren die Möglichkeiten der Kandidaten auf einen der oberen Plätze der Liste zu kommen trotz der offenen Listen sehr begrenzt. Auch das muss zukünftig von den Gesetzgebern, den Teilnehmern der Wahlen und den Medien berücksichtigt werden.
Eine nicht repräsentative Umfrage von Selenskyj
Als die Umfragewerte von Diener des Volkes fielen, unternahm man gerade mal 12 Tage vor den Wahlen noch den Versuch, wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken und kündigte am 13. Oktober eine »Umfrage des Präsidenten« an. Diese enthielt größtenteils Suggestivfragen oder Fragen, die bestimmte soziale Gruppen mobilisieren sollten – vor allem natürlich die potenziellen Wähler von Diener des Volkes. Selenskyjs Team verkündete gleich zu Beginn, dass die Umfrageergebnisse keine juristischen Konsequenzen haben, aber bei den entsprechenden Gesetzentwürfen berücksichtigt würden.
Betrachtet man jedoch die methodologische Grundlage der Umfrage (oder vielmehr das Fehlen einer solchen), stellt man fest, dass es sich weder um eine Wahltagsbefragung noch um eine »landesweite Umfrage« handelte (letztere ist auch nicht in der Gesetzgebung vorgesehen). Soziologen betonen, die Umfrage des Präsidenten sei nicht repräsentativ – nicht für die Ukraine, und noch nicht einmal für die Menschen, die an den Lokalwahlen teilgenommen haben.
Bei der Umfrage wurde weder die Abstimmung noch die Auszählung der Stimmen kontrolliert und so war es beispielsweise möglich, dass mehrere Umfragezettel ausgefüllt werden konnten. Es wird sogar von kuriosen Fällen berichtet, bei denen Ausländer abgestimmt haben sollen. Finanziert wurde die Umfrage von Diener des Volkes, was eine Einflussnahme des Präsidenten auf die Wahlen darstellt. Dies wurde auch in der Erklärung der OSZE vermerkt, die den Ablauf der Wahlen jedoch insgesamt als positiv einstufte (https://www.osce.org/odihr/elections/468249).
Laut den Angaben von Selenskyjs Team waren 90 Prozent der Befragten für die Minimierung der Zahl der Volksabgeordneten auf 300; 83 Prozent für lebenslange Haftstrafen wegen Korruption in besonders schweren Fällen; 74 Prozent für das Recht der Ukraine, von den Sicherheitsgarantien des Budapester Memorandums Gebrauch zu machen, um die territoriale Einheit wiederherzustellen; 65 Prozent für die Legalisierung von medizinischem Cannabis. Die Einrichtung einer Sonderwirtschaftszone im Donbas unterstützten knapp 47 Prozent; 46 Prozent waren dagegen. Das entspricht in etwa auch den Angaben aus der Umfrage von Rating Group.
Trotz der vielen Einwände gegen die Umfrage gelang es Selenskyjs Team, eine öffentliche Debatte über deren Ergebnisse auszulösen. Sogar die oppositionellen Fernsehsender berichteten, dass die Fragen des Präsidenten eine Zustimmung von 70 bis 90 Prozent erhalten hätten (mit Ausnahme der Sonderwirtschaftszone). Der Koordinator der Umfrage, Artjom Gagarin (Fernsehmoderator und Co-Autor von Selenskyjs Show 95 kwartal), erklärte, die Umfrage habe »ein lebhaftes Interesse bei den Ukrainern hervorgerufen« (https://nv.ua/ukraine/politics/opros-zelenskogo-kogda-budut-rezultaty-novosti-ukrainy-50119936.html). In Wirklichkeit haben nach Angaben von Rating Group nur 46 Prozent der Wähler an der Umfrage teilgenommen. Bedenkt man dabei, dass nur 37 Prozent gewählt haben, kommt man auf ein Ergebnis von 17 Prozent (46 Prozent x 37 Prozent = 17 Prozent). Schließlich gaben das auch die Vertreter von Diener des Volkes zu.
Damit beträgt die Zustimmung für Selenskyjs Fragen landesweit zwischen 7 Prozent (für eine Sonderwirtschaftszone im Donbas) und 16 Prozent (für eine Minimierung der Abgeordnetenzahl). Das ist weder eine landesweite Zustimmung noch ein Argument für entsprechende Gesetzesinitiativen. Auch wenn eine Sonderwirtschaftszone im Donbas, eine Minimierung der Abgeordnetenzahl oder die medizinische Anwendung von Cannabis durchaus im Parlament diskutiert werden können –dafür bedurfte es keiner »Umfrage des Präsidenten« am Wahltag.
Die Wahlergebnisse
Am 09. November war die Auszählung der Stimmen noch nicht überall abgeschlossen. Doch die bisherigen Ergebnisse bestätigen die Tendenz, die Soziologen bereits während des Wahlkampfs festgestellt haben: Die Zustimmungswerte für Diener des Volkes fallen, die der Oppositionsparteien steigen – der Europäischen Solidarität im proeuropäischen Segment, und der Oppositionsplattform im prorussischen Segment. Ebenso konnten die Parteien der Bürgermeister signifikante Erfolge verbuchen. Die amtierenden Bürgermeister haben in großen Städten entweder die Wahl gewonnen oder haben gute Chancen, ihre Posten auch weiterhin zu behalten. Das heißt, dass die lokalen Eliten ihre Macht unter Beweis stellen konnten. Vertreter der Partei Diener des Volkes wurden in etwa 17 Prozent aller Städte und Dörfer in das Amt des Bürgermeisters gewählt. Etwa 50 Prozent der Ämter gingen dabei an unabhängige Kandidaten (https://www.cvk.gov.ua/pls/vm2020/pvm003pt001f01=695pt00_t001f01=695.html). Doch die Partei Diener des Volkes muss vor allem bei den Bürgermeisterwahlen in den Großstädten eine herbe Niederlage einstecken – Chancen auf einen Bürgermeisterposten hat sie nur noch in Uschhorod und Poltawa, wo ihre Kandidaten in eine Stichwahl gegangen sind.
Bei den Wahlen der Abgeordneten für die Oblast-Radas sind die vorläufigen Ergebnisse laut Diener des Volkes (https://www.pravda.com.ua/rus/news/2020/10/27/7271452/):
- Diener des Volkes: etwa 20 Prozent der Mandate
- Europäische Solidarität: 16 Prozent der Mandate
- Oppositionsplattform: 13 Prozent der Mandate
- Vaterland: 10 Prozent der Mandate
Bei den Radas der Rajone:
- Diener des Volkes: ungefähr 17 Prozent der Mandate
- Oppositionspattform: 15 Prozent der Mandate
- Europäische Solidarität: 13 Prozent der Mandate
Verglichen mit den Parlamentswahlen, bei denen Diener des Volkes über die Parteiliste 43 Prozent der Stimmen und insgesamt 254 von 450 Sitzen bekommen hatte, ist das landesweit ein schwerer Verlust, auch wenn die Partei nun in allen Radas der Oblaste vertreten sein wird. In vier Radas der Oblaste erzielte sie eine einfache Mehrheit (Dnipropetrowsk, Sumy, Schytomyr, Tscherniwzi).
Die Europäische Solidarität ist ebenfalls in alle Oblast-Radas eingezogen und hat in den Oblasten Lwiw, Riwne, Ternopil und Kyjiw eine relative Mehrheit bekommen; in Kyjiw überholte sie gar Der Schlag, die Partei des amtierenden Bürgermeisters Witalij Klytschko, und erzielte eine Mehrheit.
Die Oppositionsplattform hat im Westen des Landes den Einzug in einige Oblast-Radas nicht geschafft, dafür gewann sie die Mehrheit in vier Oblasten: Mykolajiw, Cherson, Odesa und Saporischschja (in den beiden letzteren dicht gefolgt von den Parteien der jeweiligen Bürgermeister).
Die unter Einfluss des Oligarchen Kolomojskyj stehende Partei Für die Zukunft gewann in den zwei Oblasten Chmelnyzkyj und Wolyn.
Vaterland gewann in der Oblast Kirowohrad, die rechte Freiheit in Iwano-Frankiwsk. In den restlichen sieben Oblasten holten die Parteien der lokalen Eliten den ersten Platz.
Die vorläufigen Ergebnisse der Wahlen lassen sich wie folgt darstellen.
In den Oblasten unterscheidet sich die Lage stark voneinander. Das Ergebnis der Lokalwahlen ist ein Mosaik, kein einheitliches Bild für die gesamte Ukraine. Einerseits ist das gut, weil es kein Machtmonopol geben wird, wie es sich nach den Wahlsiegen von Selenskyj 2019 abzeichnete, nicht einmal in den Radas im Osten und Süden des Landes. Wurde dort bis 2014 alles von der Partei der Regionen kontrolliert, so hat nun nicht nur die Oppositionsplattform an Einfluss gewonnen, sondern auch ihr Widersacher, die Partei Oppositionsblock von Achmetow. In einige Radas im Süden und Osten hat auch die prorussische Partei Scharij den Einzug geschafft, die eine überwiegend junge Wählerschaft hinter sich versammelt. Auch vertreten sind die Parteien der Bürgermeister und einige weitere Parteien. Dementsprechend wird die Politik im Süden und Osten des Landes zunehmend pluralistisch. Die allgemeine Tendenz ist aber keine Polarisierung entlang der Linie Ost-West, sondern ein Widerstreit der Kräfte: lokale Eliten gegen die Zentralregierung. Es stehen sehr unterschiedliche Koalitionsbündnisse im Raum. Wird beispielsweise Der Schlag von Klytschko in der städtischen Rada von Kyjiw mit der Europäischen Solidarität koalieren, um eine Konfrontation mit der Bankowa zu provozieren? Denn die Bankowa hält bekanntlich noch ein Ass im Ärmel und könnte versuchen, nicht den gewählten Bürgermeister, sondern ihren eigenen Kandidaten zum Oberhaupt der Kyjiwer Stadtverwaltung zu ernennen.
Andererseits bergen die Erfolge des Achmetow nahestehenden Bürgermeisters von Mariupol Wadym Bojtschenko (Partei Bojtschenko-Block) und umstrittener Personen wie Hennadij Kernes in Charkiw (Kernes-Block Erfolgreiches Charkiw) oder Hennadij Truchanow (Partei: Doweraj delam) in Odesa die Gefahr einer Art Feudalisierung der jeweiligen Gegenden. Hier ist der Gesetzgeber gefragt: Sind die Parteien, die es nur in einzelnen Städten gibt, legitim? (einige Expertenmeinungen zu diesem Thema: https://zn.ua/internal/mestnye-vybory-2020-rabota-nad-oshibkami.html) Festhalten lässt sich jedenfalls, dass die Pluralität sogar im Süden und im Osten des Landes gemessen an den Zeiten unter Janukowytsch gestiegen ist.
Auswirkungen auf die nationale Politik: Eine unerwartete Wende
Bereits 2019 prognostizierten Experten, dass sich trotz der Gefahr eines Machtmonopols in der Fraktion von Diener des Volkes eine Differenzierung vollziehen würde. Und so kam es auch. Nun haben die Diener ihre Fraktionen in den Stadt- und Oblast-Radas bekommen und können zu einem normalen Parteiaufbau übergehen. Aber sie haben ihr Monopol eingebüßt: Die Lokalregierungen sind nun in der Lage ein Gegengewicht zum Einfluss der Zentralregierung zu schaffen.
Auch die Position des Präsidenten ist geschwächt und er wird die entstehenden Bündnisse berücksichtigen müssen – sowohl innerhalb der eigenen heterogenen Fraktion als auch zwischen den anderen politischen Kräften. Mit wem wird Selenskyj koalieren? Mit der Europäischen Solidarität und der Stimme, wie schon während der Abstimmung über die Bodenreform und das Bankengesetz? Leider ist zu erwarten, dass der Einfluss von Kolomojskyj (seine Partei Für die Zukunft verzeichnete große Erfolge bei den Kommunalwahlen), Achmetow und den lokalen Eliten zunehmen wird. Das wiederum heißt, dass der Zeitpunkt für wichtige Reformen versäumt wurde. In dieser Hinsicht ist Selenskyj derselbe Fehler unterlaufen wie schon Juschtschenko, Janukowytsch und Poroschenko, die anfangs ebenfalls die Unterstützung der Werchowna Rada und der Gesellschaft gehabt hätten, um Reformen durchzuführen.
Die sinkenden Zustimmungswerte der Diener deuten darauf hin, dass Selenskyj keine vorgezogenen Parlamentswahlen abhalten wird. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass er, um die Werte wieder in die Höhe zu treiben, nach der »Umfrage des Präsidenten« ein Referendum mit ähnlich populistischen Fragen wie der Minimierung der Zahl der Rada-Abgeordneten oder der lebenslangen Haftstrafen für Korruption abhält.
Eine unerwartete Möglichkeit, seine Niederlage zu kompensieren, bescherte Selenskyj die Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 27. Oktober, die den Kampf gegen Korruption, insbesondere durch die Aufhebung von elektronischen Vermögenserklärungen, massiv behinderte. Das sorgte sowohl in der Ukraine als auch im Westen für Empörung. Der Präsident sprach von einer Gefahr für die nationale Sicherheit, berief unverzüglich eine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates ein und legte am 29. Oktober einen Gesetzentwurf zur Auflösung des gegenwärtigen Verfassungsgerichts vor, womit er gegen die Verfassung verstieß. Diese populistische »Kavallerieattacke« könnte zur Wiederherstellung seiner Popularität und Stärkung seiner Position beitragen, die nach den Kommunalwahlen ins Wanken geraten waren. Möglich ist aber auch die entgegengesetzte Wirkung, da der alternative Gesetzentwurf vom 02. November, der einen Kompromiss und einen rechtsstaatlichen Ausweg aus der Krise vorsieht, den Rada-Vorsitzenden Dmytro Rasumkow und mehr als 120 Abgeordnete sowohl aus den Reihen der Diener als auch der Opposition vereinte (http://w1.c1.rada.gov.ua/pls/zweb2/webproc4_1?pf3511=70306ada.gov.ua/pls/zweb2/webproc4_1?pf3511=70306).
Übersetzung aus dem Russischen von Maria Rajer