Der Text ist eine gekürzte Version eines längeren Artikels der zuerst erschienen ist in Osteuropa 1-2/2021 zum Thema »Babyn Jar. Der Ort, die Tat und die Erinnerung« (siehe »Lesehinweis« auf der nächsten Seite).
Der gesamte Volltext ist frei zugänglich unter https://www.zeitschrift-osteuropa.de/site/assets/files/34496/oe210101.pdf.
Die Redaktion der Ukraine-Analysen dankt der Zeitschrift Osteuropa, dem Autor und der Bundeszentrale für politische Bildung für die freundliche Genehmigung zur Zweitnutzung.
Die meisten Menschen in Mitteleuropa verbinden den nationalsozialistischen Massenmord an den Juden bis heute in erster Linie mit den Todeslagern im besetzten Polen, die von den Deutschen bewusst abseits der großen Zentren angelegt wurden. Das größte Einzelmassaker des Zweiten Weltkriegs auf europäischem Boden aber haben deutsche Polizisten, SS-Männer, Wehrmachtsangehörige und einheimische Milizionäre jedoch unmittelbar am Rande einer Großstadt verübt – in einem Außenbezirk von Kiew. Das Gelände von Babyn Jar, übersetzt »Altweiberschlucht«, liegt nur vier Kilometer Luftlinie westlich des Hauptbahnhofs der ukrainischen Hauptstadt. Hier erschossen sie im September 1941 binnen zweier Tage mehr als 33.000 Juden und ermordeten in den folgenden zwei Jahren Tausende weitere Menschen.
In Richtung Stadtzentrum grenzt Babyn Jar bis heute an einen umfangreichen Komplex von insgesamt sechs Friedhöfen, jenseits der Schlucht befand sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts ein ausgedehnter Sommerübungsplatz des Militärs, südlich davon erstreckte sich ein Industriegebiet mit einer heterogenen Bebauung aus Fabrikhallen und Holzbaracken sowie einem Güterbahnhof. Babyn Jar selbst bot sich Anfang der 1940er Jahre als weitgehend kahles, sandiges Gelände dar, in das sich im Laufe der Jahrhunderte eine bis zu zehn Meter tiefe Erosionsrinne eingegraben hatte, von der zahlreiche kleinere Seitentäler mit steilen Hängen abgingen, die teilweise als Müllkippe genutzt wurden. Es war dieses Bodenrelief, das die Organisatoren des Massakers an den Juden Kiews dazu bewog, die Erschießungen so nahe am Stadtzentrum und nicht weiter außerhalb durchzuführen – für die große Anzahl an Opfern hätten so rasch keine Massengräber ausgehoben werden können.
Die Einnahme Kiews durch die Wehrmacht und die ersten Erschießungen
Kiew, seit 1934 Hauptstadt der Ukrainischen Sowjetrepublik, gehörte vor dem deutschen Überfall vom 22. Juni 1941 zu den wichtigsten Zentren jüdischen Lebens in der Sowjetunion. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kiew etwa 930.000 Einwohner und war eine ausgeprägt multiethnische Stadt. Ukrainer bildeten eine relative Mehrheit, die größten Minderheiten stellten Russen und Juden mit jeweils etwa einem Viertel der Bevölkerung. Ein großer Teil der Einwohner war geflüchtet oder evakuiert worden, als die Wehrmacht im August 1941 auf Kiew vorrückte, darunter etwa zwei Drittel der jüdischen Einwohner. Die jungen jüdischen Männer waren zum Wehrdienst eingezogen worden. Bei den Juden, die zurückblieben, handelte es sich großteils um Frauen, Kinder und alte Leute.
Das Vorgehen der deutschen Besatzer gegenüber der Bevölkerung von Kiew erfolgte nach dem seit Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges eingespielten Muster zur »Säuberung« besetzter Städte: Zunächst sollten alle Rotarmisten ermittelt werden, die sich der Gefangennahme entzogen hatten, besonderes Augenmerk war dabei auf Personen zu legen, die »asiatische Merkmale« aufwiesen und nach der nationalsozialistischen Rassenideologie schon äußerlich dem Typus des »Untermenschen« entsprachen. Zwei Tage nach der Besetzung Kiews verfügte der Befehlshaber der 6. Armee, Generalfeldmarschall Walter von Reichenau, sämtliche wehrfähigen Männer in ein Untersuchungslager zu bringen; dort sollten Abwehroffiziere der Wehrmacht sie verhören. Die dabei ermittelten Soldaten, »Partisanen« und Juden sollten in das Durchgangslager 201 abgeschoben werden, das die Heeresgruppe Süd in den jeweils frontnahen Städten einrichtete. Die »jüdische Intelligenz« stand neben Politkommissaren der Roten Armee und kommunistischen Funktionären seit Beginn des Feldzugs im Fokus der Verfolgung; je länger der Krieg andauerte, desto weiter fassten die Deutschen die Gruppe ihrer jüdischen Opfer. So nun auch in Kiew: Ab dem 22. September ergingen mehrere Befehle an die Streifen der Wehrmacht, speziell alle männlichen Juden festzunehmen. Die 99. Leichte Division verhaftete darüber hinaus »verdächtige« jüdische Frauen und überstellte sie an die deutsche Sicherheitspolizei (Sipo). Bereits am Tage des Einmarsches in Kiew hatte die Führung der 75. Infanteriedivision darüber hinaus festgelegt, für Aufräumarbeiten und Minenräumungen Juden heranzuziehen.
Auf diese Weise waren Wehrmachtsangehörige bereits von Anfang an in die Verfolgung der Kiewer Juden eingebunden. Deren Ermordung sollten jedoch die Beamten der Einsatzgruppen der Sipo und des Sicherheitsdienstes (SD) des Reichsführers SS übernehmen. Gemeinsam mit den Verbänden der 6. Armee war am 19. September 1941 ein 50 Mann starkes Vorauskommando des Sonderkommandos (Sk) 4a in Kiew eingerückt, das von den SS-Obersturmführern August Häfner und Adolf Jansen befehligt wurde, zwei Tage später traf der Chef des Sk 4a, SS-Standartenführer Paul Blobel, in der ukrainischen Hauptstadt ein, am 25. September folgte der Rest des Kommandos. Es umfasste insgesamt rund 120 Mann – zumeist frühere Gestapo- und Kripobeamte. Gemeinsam mit ihnen traf an diesem Tag auch der Stab der Einsatzgruppe C unter SS-Brigadeführer Dr. Dr. Otto Rasch ein, zu der das Sk 4a gehörte, sowie der Stab des Höheren SS- und Polizeiführers (HSSPF) Russland-Süd, Friedrich Jeckeln, und das ihm unterstellte Polizeiregiment Süd mit den Polizeibataillonen 45, 303 und 314. In ihrem Gefolge bewegten sich zwei Einheiten ukrainischer Milizen. Insgesamt waren in Kiew nun rund 2000 Polizisten, SS-Männer und Milizionäre eingetroffen.
Bereits das Vorkommando des Sk 4a hatte sich an der Fahndung nach Juden beteiligt. Nachdem die Wehrmacht Kiew am 20. September für die Sipo freigegeben hatte und alle Angehörigen des Sk 4a eingetroffen waren, durchsuchten sieben Verhörgruppen die Stadt und die beiden von der Wehrmacht eingerichteten Lager. Sie befanden sich in der Kerosinna-Straße (heute Žoludenka-Straße) nordwestlich vom Hauptbahnhof. Nördlich eines großen Lagers für rund 8000 Kriegsgefangene auf dem Gelände einer Kaserne befand sich im Zenit-Fußballstadion ein weiteres Lager für ausgesonderte Politkommissare der Roten Armee sowie Zivilisten. Hier hielten die Deutschen auch die etwa 1600 Kiewer Juden fest, die vom Sk 4a bis zum 28. September verhaftet wurden.
Spätestens am 27. September – zwei Tage vor dem großen Massaker – begannen die deutschen Besatzer in Babyn Jar mit Erschießungen: An diesem Tag wurden die Polizeibataillone 45 und 303 erstmals für eine »Säuberungsaktion« und für »Absperrdienste« eingesetzt. Die genaue Zahl der Opfer dieser ersten beiden Massaker lässt sich nicht mehr feststellen. Die Gruppen wurden in verschiedenen Seitentälern auf dem Gelände von Babyn Jar erschossen. Zeugen und Überlebende des Zenit-Lagers sprechen übereinstimmend davon, dass allein für den Abtransport der jüdischen Gefangenen ein Dutzend Lastwagen eingesetzt wurden, die mehrmals hin- und herfuhren und auf den Rücktouren jeweils nur noch mit Oberbekleidung beladen waren. Möglicherweise wurden also bereits in diesen Tagen alle bis dahin verhafteten 1600 Juden ermordet. Über die Zahl der damals erschossenen Rotarmisten gibt es keinerlei Angaben; sie gingen zu Fuß in den Tod. 1943 ließen die Deutschen die sterblichen Überreste der von ihnen ermordeten Kriegsgefangenen durch KZ-Häftlinge exhumieren und verbrennen, als sie Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen suchten. Überlebende Häftlinge und deutsche Bewacher schätzten die Zahl der anhand von Uniformresten als Rotarmisten identifizierbaren Leichen später auf bis zu 20.000. Zu den ersten Opfern der deutschen Besatzer gehörten in Kiew zudem Sinti und Roma: Bereits am 23. September wurden einige Dutzend von ihnen in Babyn Jar erschossen.
Die Beschlussfassung zum großen Massaker und Vorbereitungen
Am 20. September – dem Tag nach dem Rückzug der Roten Armee aus Kiew – explodierte in der Zitadelle südöstlich des Stadtzentrums eine erste, vom sowjetischen Geheimdienst gelegte Zeitzündermine. In den Tagen ab dem 24. September erfolgten dann weitere derartige Bombenanschläge auf Gebäude entlang des zentralen Chreščatyk-Boulevards, in denen deutsche Besatzungsstellen untergebracht waren. Auch der Sitz des Oberkommandos der 6. Armee (AOK 6) wurde getroffen. Bei den Explosionen und Bränden kamen neben vielen Einheimischen auch zahlreiche deutsche Soldaten ums Leben. Noch während der Löscharbeiten fand am 26. September im Dienstsitz des Stadtkommandanten von Kiew, Generalmajor Kurt Eberhard, eine Besprechung statt, um »Vergeltungsmaßnahmen« zu beschließen. Neben Eberhard nahmen an diesem Treffen unter anderem Jeckeln, Blobel, ein Vertreter der Einsatzgruppe C und der Abwehroffizier des 29. Armeekorps, Major Gerhard Schirner, teil. Die Anwesenden beschlossen, einen Großteil der Kiewer Juden zu ermorden – und zwar mindestens 50.000 der auf bis zu 150.000 Personen geschätzten Gemeinde.
In den zeitgenössischen deutschen Dokumenten wurde das Massaker durchweg als militärische Reaktion auf die Bombenanschläge dargestellt. Doch handelte es sich dabei um einen Vorwand, um den ohnehin geplanten Massenmord zu legitimieren: Auffällig war schon allein, dass nur Juden erschossen werden sollten. Zwischen Blobel und von Reichenau bestand hinsichtlich des Judenmords große Einigkeit. Schon einen Monat vorher hatte von Reichenau persönlich die Tötung von 90 jüdischen Kindern in der südlich von Kiew gelegenen Stadt Bila Cerkva angeordnet, deren Eltern die Männer des Sk 4a zuvor erschossen hatten.
Die Erschießung Zehntausender Menschen musste allerdings genau geplant und gründlich vorbereitet sein. Die entsprechenden Absprachen wurden am 27. September bei einem weiteren Treffen über »Abwehrangelegenheiten« getroffen, an dem verschiedene Abwehr- und Pionieroffiziere der Wehrmacht sowie Vertreter der Sipo und der deutschen Zivilverwaltung teilnahmen. Die eigentlichen Erschießungen sollten hauptsächlich die Männer des Sk 4a unter Blobel übernehmen, dem Teile der 3. Kompanie des Waffen-SS-Bataillons zur besonderen Verwendung und des 3. Zuges der 3. Kompanie des Polizeireservebataillons 9 zugeteilt waren. Blobel konnte in Kiew auch auf mehrere Angehörige des Stabs der Einsatzgruppe C zurückgreifen, zudem stellte ihm Jeckeln die Polizeibataillone 45, 303 und 314 zur Verfügung. Zur Absperrung des Exekutionsgeländes wurden schließlich Wehrmachtseinheiten eingesetzt, darunter ein Musikkorps, und ukrainische Milizionäre.
Um die Opfer zum Ort der Exekution zu bringen, griffen die Deutschen zu einer schon mehrmals angewandten List: Am 28. September wurde die jüdische Bevölkerung mit einem dreisprachigen Plakatanschlag dazu aufgerufen, sich am folgenden Morgen um acht Uhr an einer Straßengabelung bei den Friedhöfen am westlichen Kiewer Stadtrand einzufinden. Den Text, der nicht unterzeichnet war, hatte das Sk 4a so formuliert, dass die Betroffenen glauben sollten, sie würden umgesiedelt. So waren die Menschen aufgefordert, warme Kleidung, Ausweise und Wertsachen mitzubringen; in der Nähe des Sammelpunktes lag ein Güterbahnhof. Stolz vermeldete die Sipo nach Abschluss des Massakers, die Juden hätten infolge der guten Organisation bis unmittelbar vor der Exekution noch an ihre Umsiedlung geglaubt. Das traf möglicherweise auf jene zu, die sich tatsächlich an dem angegebenen Sammelpunkt einfanden. Allerdings nahmen sich in diesen Tagen in Kiew so viele Juden das Leben, dass ein Mangel an Särgen entstand. Zahlreiche andere Personen versteckten sich oder schlüpften bei Bekannten unter.
Das Massaker vom 29. und 30. September 1941
Am Morgen des 29. September klopfte bei der Lehrerin L. Nartova aufgeregt ein Nachbar an der Tür. Sie solle sich ansehen, was sich auf der Straße tut.
»Ich renne auf den Balkon hinaus und sehe Menschen, die in einer schier endlosen Kolonne vorüberziehen; sie füllen die ganze Straße und die Bürgersteige aus. Es gehen Frauen, Männer, junge Mädchen, Kinder, Greise, ganze Familien. Viele führen ihr Hab und Gut auf Schubkarren mit sich, aber die meisten tragen ihre Sachen auf den Schultern. Sie gehen schweigend, leise. Es ist unheimlich.«
Einige der Abertausenden, die die Mel’nykov-Straße entlanggingen, die aus dem Stadtzentrum Kiews hinaus die knapp vier Kilometer zu den Friedhöfen führt, hatten sogar ihre Haustiere dabei. Angehörige des Polizeibataillons 45 führten derweil in der ganzen Stadt mithilfe von Melderegistern Hausdurchsuchungen durch und trieben aufgefundene Juden in die Menschenmenge in Richtung Sammelpunkt. Entlang der Strecke zum Sammelplatz waren nur wenige Polizisten präsent, erst hinter der Kreuzung Mel’nykov- und Pugačev-Straße, etwa einen Kilometer von der Erschießungsstätte entfernt, hatten deutsche Bewaffnete einen Panzergraben mit Stacheldrahtverhau zu einer Sperre umgebaut. Wer sie passiert hatte, befand sich innerhalb des abgeschirmten Bereichs um das Exekutionsgelände und wurde nicht mehr zurückgelassen. Die nichtjüdischen Begleiter mussten an dieser Stelle umkehren. Vermutlich an dieser Sperre wurden die Eintreffenden gezählt, so dass die Sipo später die angesichts des Ausmaßes des Massakers irritierend exakte Zahl von 33.771 erschossenen Männern, Frauen und Kindern nach Berlin übermitteln konnte.
Vom Sammelplatz unmittelbar hinter der Sperre wurden die Eintreffenden in Gruppen zu je 200 bis 500 Personen entlang der Mel’nykov-Straße weiter getrieben. Nachdem die Gruppen um zwei Straßenecken herum zwischen den Friedhöfen hindurch gelaufen waren, trafen sie schließlich am oberen, dem südlichen, Ausläufer von Babyn Jar ein.
Die ganze Strecke war beidseitig durch Postenketten deutscher und ukrainischer Polizisten abgesperrt. Auch das Exekutionsgelände war vollständig von deutschen Bewaffneten umstellt, darunter zahlreiche Wehrmachtsangehörige. Bereits auf dem Sammelplatz hatten die Menschen ihre Koffer und Taschen an der Mauer zum jüdischen Friedhof ablegen müssen, hinter der nächsten Kreuzung standen in der Sim’ï-Chochlovych-Straße Polizisten, die den Vorbeigehenden die warme Oberbekleidung, ihre Ausweise und Wertsachen abnahmen. Die Ausweise warfen sie ins Feuer, die Wertsachen in bereitstehende Körbe und die Oberbekleidung auf große Haufen, die im Laufe des Tages mit LKW abtransportiert wurden. Als sich abzeichnete, dass es zu lange dauerte, so viele Menschen einzeln zu durchsuchen und die Kleidung abzutransportieren, wurden die Menschen ohne Halt an den Rand der Erschießungsstätte getrieben, wo sie sich entweder auf einem Plateau oberhalb der Schlucht oder auf deren Sohle bis auf die Unterwäsche entkleiden mussten. Die Kleiderhaufen wurden dann nach Abschluss des Massakers von Angehörigen des Sk 4a durchsucht.
Von den Juden, die sich auf dem Sammelplatz einfanden, sind nur ganz wenige dem Massaker entkommen. Einige haben nach der Befreiung Kiews durch die Rote Armee berichtet, es sei ihnen unbemerkt gelungen, vor der Sperre an der Kreuzung Pugačev-Straße umzukehren, da sie in der Ferne Schüsse wahrgenommen hätten. Andere konnten auf dem Weg vom Sammelplatz nach Babyn Jar durch die Postenketten schlüpfen und sich auf den beiderseits des Weges gelegenen Friedhöfen verstecken. Nur eine Person ist bekannt, die die Erschießungen überlebte: Dina Proničeva warf sich vor den Schüssen auf die Toten vor ihr und floh im Schutz der Dunkelheit aus der Schlucht. Auf die andauernden Schusssalven wurden auch die nichtjüdischen Anwohner der an Babyn Jar angrenzenden Umgebung aufmerksam: Vom Luk’janivs’ke-Friedhof aus konnten sich Zeugen der Schlucht auf weniger als zweihundert Meter nähern und so zwar nicht die Erschießungen selbst beobachten, sehr wohl aber die Kolonnen der Juden bis zu der Fläche, an der sie ihre Kleider ablegen mussten.
Unten in der Schlucht standen die verschiedenen Mordkommandos bereit. Kurt Werner, ein Angehöriger des Sk 4a, berichtete nach dem Krieg vor Gericht über den Ablauf der Erschießungen:
»Es dauerte nicht lange und es wurden uns schon die ersten Juden über die Schluchtabhänge zugeführt. Die Juden mussten sich mit dem Gesicht zur Erde auf die Muldenwände hinlegen. In der Mulde befanden sich drei Gruppen von Schützen, mit insgesamt etwa zwölf Schützen. Gleichzeitig sind diesen Erschießungsgruppen von oben her laufend Juden zugeführt worden. Die nachfolgenden Juden mussten sich auf die Leichen der zuvor erschossenen Juden legen. Die Schützen standen jeweils hinter den Juden und haben diese mit Genickschüssen getötet. Mir ist heute noch in Erinnerung, in welches Entsetzen die Juden kamen, die oben am Grubenrand zum ersten Mal auf die Leichen in der Grube hinuntersehen konnten.«
Regelmäßig rotierten die Angehörigen der Mordkommandos bei der Ausführung ihrer blutigen Tätigkeit. Nachdem Werner den Vormittag in der Schlucht verbracht und dort mal selbst geschossen, mal die Magazine nachgeladen hatte, wurde er nach der Mittagspause am oberen Rand der Schlucht eingesetzt. Dort war er nun bis zum Abend dafür zuständig, seinen Kameraden die Juden »zuzuführen«. Die je zwölf Männer des Sk 4a waren nicht die einzigen Schützen, die an diesem Tag mordeten. Jedes der Kommandos hatte in dem ausgedehnten Gelände ein eigenes Seitental zugeteilt bekommen, in dem sie ihre Gräueltaten vollführten.
Da absehbar war, dass die Exekution viele Stunden dauern würde, ließen die Organisatoren Küchenwagen bereitstellen, die warme Mahlzeiten und Getränke, einschließlich Schnaps, für 400 Mann boten (für die 120 Männer des Sk 4a sowie die Angehörigen der anderen Kommandos, die bei diesem Massenmord mitwirkten). Bei Einbruch der Dunkelheit brach Blobel die Erschießung ab; zu diesem Zeitpunkt hatten seine Männer etwa 22.000 Menschen ermordet. Die verbliebenen Juden wurden die Nacht über in den großen Garagen des Panzerbataillons am Sammelplatz östlich der Friedhöfe eingesperrt und am folgenden Tag, dem 30. September, umgebracht.
Nach Beendigung des Massakers sprengten Pioniere der Wehrmacht die steilen Ränder der Seitentäler der Schlucht, um die Leichen mit Sand zu bedecken. In den darauffolgenden Tagen mussten sowjetische Kriegsgefangene diese Bereiche einebnen. Ihre Tätigkeit hat Johannes Hähle, ein Fotograf der Propagandakompanie 637, in Farbdias festgehalten, als er das Exekutionsgelände in der ersten Oktoberwoche besichtigte. Er nahm auch Bilder von den zahlreichen Kleiderhaufen auf, die unmittelbar neben den einzelnen Exekutionsstätten lagen. Nach dem Massaker in Kiew und dem zehn Tage zuvor im etwa 140 Kilometer weiter westlich gelegenen Žytomyr verübten Massenmord an mehr als 3000 Juden fielen insgesamt 137 Lastwagenladungen Kleidung an, die in erster Linie an sogenannte Volksdeutsche verteilt wurden. In Kiew funktionierte man eine geräumte Schule zu einem Zwischenlager um: Nach Aussagen von Zeugen lagerten im Erdgeschoss die Nahrungsmittel, im ersten Stock die Wäsche, im zweiten die Oberbekleidung, im dritten schließlich wurden die Wertsachen aufbewahrt, die man den Juden auf ihrem Weg zu der Erschießungsstätte abgenommen hatte.
Ein Verbrechen diesen Ausmaßes, das derart nahe einer Großstadt verübt wurde, blieb natürlich nicht unbemerkt. Anfangs mochten viele gedacht haben, die Kiewer Juden würden tatsächlich im Wortsinn »umgesiedelt« – hier spielten wohl die Erfahrungen mit den russischen und dann den sowjetischen Behörden eine Rolle, die mehrmals große Bevölkerungsgruppen deportiert hatten, weshalb das deutsche Vorgehen zunächst nicht völlig ungewöhnlich schien. Schnell aber verbreitete sich in der Stadt die Nachricht, dass die abgeführten Menschen keineswegs auf dem westlich Kiews gelegenen Güterbahnhof Luk’janovka Eisenbahnwaggons bestiegen hatten. Irina A. Chorošunova notierte am 2. Oktober in ihr Tagebuch:
»Schon sagen alle, dass die Juden ermordet werden. Nein, nicht ermordet werden, sondern schon ermordet worden sind. Alle, ohne Ausnahme – Greise, Frauen und Kinder. Jene, die am Montag nach Hause zurückgekehrt waren, sind auch schon erschossen worden. Das ist noch Gerede, aber es kann keinen Zweifel daran geben, dass es den Tatsachen entspricht. […] Ein russisches Mädchen hat seine Freundin auf den Friedhof begleitet und sich von der anderen Seite durch die Umzäunung [auf den russischen Friedhof] geschlichen. Sie hat gesehen, wie entkleidete Menschen in die Richtung von Babij Jar geführt wurden, und Gewehrschüsse gehört. Es gibt immer mehr von diesen Gerüchten und Berichten.«
Das Wissen um das Massaker blieb nicht auf Kiew beschränkt. So traf wenige Tage später eine achtundzwanzigköpfige Gruppe ausländischer Korrespondenten in Kiew ein, die auf Einladung des Auswärtigen Amtes und betreut von Wehrmachtsoffizieren eine Rundreise durch die besetzte Ukraine unternahmen. Obwohl ihr Besuch in der ukrainischen Hauptstadt sorgfältig geplant und überwacht wurde, erfuhren die Journalisten von den Erschießungen. Bereits im November 1941 war im New York Herald Tribune vom zehntausendfachen Mord an den Kiewer Juden zu lesen.
Nicht alle nichtjüdischen Einheimischen blickten entsetzt auf den Strom ihrer jüdischen Mitbürger, der sich in Richtung Babyn Jar bewegte. Viele nutzten die Gelegenheit, um ihre Nachbarn oder die in ihrem Haus einquartierten Personen zu denunzieren. Die Krankenschwester Ol’ga R. Muchortova-Pekker, als Jüdin und Parteimitglied gleich doppelt gefährdet, berichtete nach der Befreiung, wie sie allein in den ersten Wochen der Besatzung ein halbes Dutzend Mal die Bleibe wechseln musste, weil sie denunziert worden war. Der ehemalige Chef der Sicherheitspolizei in Kiew, Dr. Hans Schumacher, berichtete nach Kriegsende, es seien in seiner Dienststelle so viele Denunziationen eingegangen, dass seine Beamten diese gar nicht alle hätten bearbeiten können. Im Fall von Kiew haben sich von diesen Anzeigen nur wenige erhalten, da die entsprechenden Akten vermutlich vernichtet wurden. Umso aufschlussreicher ist ein Dokument, das sich in den Akten der Wohnungsverwaltung Kiew erhalten hat. Es handelt sich um eine Eingabe eines Hauswarts, mit der er im November 1941 um seine Wohnung kämpfte, die er erst einen Monat zuvor von der deutschen Ortskommandantur zugeteilt bekommen hatte – als Belohnung dafür, dass er mit acht weiteren Ukrainern 19 Juden in seinem Haus festgehalten und am 29. September »am angegebenen Sammelpunkt« abgegeben habe. Wenn alle Hausmeister so pflichtbewusst seien wie er, so schloss er seine Eingabe, dann gäbe es in Kiew keine Juden mehr. Vergeltung für erlittene Repressionen unter dem bolschewistischen Regime, für die oftmals die Juden haftbar gemacht wurden, und Habgier gingen nahtlos ineinander über. Viele Kiewer nutzten die Gelegenheit des Zusammenbruchs der alten Ordnung, sich die Wohnungen ihrer geflohenen oder ermordeten jüdischen Nachbarn oder zumindest deren Hausrat anzueignen.
Andere Mitbürger beschränkten sich nicht darauf, Juden zu denunzieren, sondern erschlugen sie gleich selbst. Vermutlich am 1. Oktober 1941 (das genaue Datum ließ sich nicht ermitteln) ermordeten beispielsweise Bewohner des Kiewer Stadtteils mehrere jüdische Personen, darunter eine Jugendliche. An diesem Tag holten ukrainische Milizionäre denunzierte Juden mit einem offenen LKW ab, um sie der deutschen Sicherheitspolizei zu übergeben. Als der bereits teilweise besetzte LKW auf dem Boulevard Nyžnij Val anhielt, griffen Umstehende die Juden an, die aus umliegenden Häusern herausgezerrt wurden. Kinder bewarfen sie mit Steinen, im Laufe des Tages erschlugen Anwohner insgesamt sieben Juden und verscharrten sie gleich an Ort und Stelle in Splitterschutzgräben, die in der Grünanlage auf dem Mittelstreifen des Boulevards angelegt worden waren. Dort lagen die Leichname, bis sie nach Abzug der Deutschen im Dezember 1943 exhumiert und die drei Haupttäter verhaftet wurden. Insgesamt hatten sich einige Dutzend Personen an diesen Morden beteiligt. Unklar ist, wie viele vergleichbare Fälle es an anderen Orten in Kiew gegeben hat, sicher ist jedoch, dass direkte Gewalt seitens nichtjüdischer Personen an ihren jüdischen Nachbarn anders als in Ostgalizien deutlich seltener vorkam.