Drei Jahrzehnte der ukrainischen Unabhängigkeit

Von Michail Minakow (Kennan Institute/Wilson Center, Washington)

Das Ende der Sowjetunion

Vor etwa 30 Jahren begann die letzte Phase der Auflösung der Sowjetunion. Der Putschversuch sowjetischer Konservativer brachte im August 1991 keinen Machtwechsel, aber er schaffte es, den Prozess zum Abschluss eines neuen Unionsvertrages zu zerstören. Obwohl die Mehrheit der Sowjetbürger im März 1991 eine »reformierte Union« unterstützt hatte (darunter 71 % derjenigen, die in der Ukraine lebten), begannen die Regierungen der Unionsrepubliken bereits Ende August 1991 mit Vorbereitungen für die Auflösung der Union.

Diese Vorbereitungen orientierten sich an sehr unterschiedlichen Ambitionen der jeweiligen Eliten. Einige Republiken wollten ihre Verhandlungsposition für einen neuen Unionsvertrag verbessern, andere erwogen durch eine national-kommunistische Agenda und eine Abgrenzung vom zu liberalen Moskau unter Boris Jelzin ihre Herrschaft zu sichern, wieder andere sahen wirklich eine Chance einen unabhängigen Nationalstaat zu schaffen. Diese Ziele zeigen sich in den Unabhängigkeitserklärungen, die von den Obersten Sowjets der Unionsrepubliken nach Jelzins Sieg über den Putsch verabschiedet wurden. Die ukrainische Unabhängigkeitserklärung, die am 24. August 1991 angenommen wurde, ist ein Beispiel für resultierende Kompromisse.

Aber die praktischen Schritte zur Auflösung der Sowjetunion und zur Schaffung eines neuen Staates – ein Prozess der kreativen Zerstörung – waren sichtbarer in der Dekommunisierung von 1991–92. In der kurzen Zeit von Ende August bis Dezember 1991 wurde in der Ukraine die Kommunistische Partei aufgelöst, ihr Besitz enteignet und der KGB verboten, während Parteien- und Meinungsfreiheit eingeführt wurde. Alle Personen, die auf dem Gebiet der Ukrainischen Republik wohnten, erhielten die Staatsbürgerschaft des neu entstehenden unabhängigen Staates. Im Unterschied zu vielen anderen Sowjetrepubliken verhinderten diese Schritte einen Konflikt: die ukrainischen Nationalkommunisten und Nationaldemokraten waren sich einig über die Schaffung eines neuen Staates und es gab keine politische Kraft, die dieses Ziel in Frage stellte. Die Entscheidung der Eliten wurde in einem Referendum am 01. Dezember 1991 unterstützt.

Hoffnungen

Mittlerweile, 30 Jahre später, ist es nicht einfach angemessene Kriterien zu finden, um zu bewerten, was mit uns – den Bürgern der Ukraine – passiert ist. Wahrscheinlich lohnt es sich, den aktuellen Zustand mit den Erwartungen derjenigen zu vergleichen, die 1991 einen neuen Staat schufen.

Diese Erwartungen sind kein absoluter Vergleichsmaßstab. 1991 war eine historische Zäsur – die nachhaltige historische Veränderung des kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Lebens vieler Menschen in Osteuropa und Nord-Eurasien. Der Wandel wurde geleitet von Hoffnungen, die gleichermaßen geteilt wurden von Experten und Bevölkerung, externen Beobachtern und Menschen, die die Transformation selber durchlebten.

Ein Beispiel für entsprechendes Wunschdenken war der berühmte Bericht einer Expertengruppe unter Leitung von Jürgen Corbert im Auftrag der Deutschen Bank zur Bewertung der wirtschaftlichen Perspektiven der Sowjetrepubliken. Die Autoren formulierten 1990 eine Mischung aus beeindruckender Weitsicht und Blindheit gegenüber dem, was die post-kommunistische Zukunft bereithielt: Sie sahen die Auflösung der Sowjetunion vorher (S. 5), lagen aber völlig daneben, als sie der Ukraine die erfolgreichste Wirtschaftstransformation vorhersagten, wobei sie »das Niveau der wirtschaftlichen und kulturellen Standards Westeuropas erreichen werde« (S. 7). Die Schlussfolgerungen dieses Berichts wurden in der Unabhängigkeitskampagne in der Ukraine viel zitiert und passten zu den Erwartungen der ukrainischen Bevölkerung gegen Ende der Sowjetunion.

Die verschiedenen Hoffnungen des Jahres 1991 bezogen sich auf drei Entwicklungslinien der post-kommunistischen Transformation: Demokratisierung, marktwirtschaftliche Reformen und Europäisierung. Dementsprechend schlage ich vor das dreißigjährige Jubiläum der ukrainischen Unabhängigkeit für diese drei Entwicklungslinien zu bewerten.

Demokratisierung

Die post-sowjetische Demokratisierung beinhaltete die Schaffung eines Nationalstaates, ideologischen Pluralismus, Versammlungs- und Pressefreiheit, ein Mehrparteiensystem, freie und faire Wahlen und eine starke Zivilgesellschaft. Die dreißigjährige Demokratisierung sah Erfolge und Misserfolge, aber die Ukraine existiert eindeutig als voll anerkannter unabhängiger und souveräner Staat. Die Souveränität ist allerdings beschädigt durch die illegale Annexion der Krim und die fortwährende Existenz von Gebieten in der Ostukraine außerhalb der Kontrolle der ukrainischen Regierung sowie den andauernden militärischen Konflikt im Donbas.

Die Ukraine hat eines der freiesten politischen Regime unter den post-sowjetischen Staaten, aber weder in den Bewertungen von Freedom House noch in denen des Varieties of Democracy-Projektes wird die Ukraine als vollständige Demokratie eingestuft. Das Land schwankte vielmehr zwischen mehr und weniger freien hybriden politischen Regimen, mit den besten Phasen für liberale Demokratie in der ersten Hälfte der 1990er Jahre und von 2005 bis 2009. Die ungleichmäßige politische Entwicklung provozierte zwei tiefe politische Krisen – die Orange Revolution 2004 und den Euro-Maidan 2013–14 – in deren Verlauf die Existenz der Ukraine als ein Land gefährdet wurde. Trotz einer lebhaften Erfahrung der Meinungsfreiheit und Debatte in den letzten Jahrzehnten, hat die ukrainische Bevölkerung dieses Jahr beunruhigende Schritte des Staates gesehen, die zu dieser Erfahrung im Widerspruch stehen. Die demokratische Entwicklungslinie hat also eine gemischte Bilanz, in der Freiheit und ihr Gegenteil in einer andauernden politischen Transformation aufeinandertreffen. Ich bezweifele, dass wir den Traum eines freien ukrainischen Staates und einer offenen ukrainischen Gesellschaft bereits erfüllt haben.

Marktwirtschaftliche Reformen

Die post-sowjetische Wirtschaftsentwicklung der Ukraine wurde geleitet von den Zielen der Transformation zu einer freien Marktwirtschaft und wohlhabenden Gesellschaft. Im Zuge dieser Transformation haben wir einen dramatischen Wirtschaftseinbruch in den frühen 1990ern erlebt, Wirtschaftswachstum 2002–07 und instabile Stagnation in den restlichen Jahren. Der Privatisierungsprozess war am Anfang schnell, wurde aber dann von den neu aufkommenden Oligarchen gestoppt. Wie andere post-sowjetische Staaten musste die Ukraine Reichtum und Armut neu erfinden, was die wirtschaftlichen Grundlagen für instabile politische Verhältnisse und die Macht der Oligarchen schuf. Die Einführung der Marktwirtschaft, der Traum von 1991, ist nicht erfüllt worden und geht weiter: erst letztes Jahr hat die Ukraine endlich die Märkte im Energiesektor und für landwirtschaftliche Nutzflächen liberalisiert. Wirtschaftliche Freiheit – genau wie politische Freiheit – schwankte zwischen Extremen. Verzögerungen bei Wirtschaftsreformen, Dominanz der Oligarchen und der andauernde Krieg haben zur Folge, dass die Ukraine eines der ärmsten Länder in Europa bleibt. In dieser Hinsicht wären die Träumer von 1991 definitiv enttäuscht mit den Ergebnissen der ukrainischen Wirtschaftsentwicklung.

Europäisierung

Schlussendlich hat auch die Entwicklungslinie der Europäisierung viele Überraschungen gebracht. Der Traum von Ost- und Westeuropäern 1989–91 eine gemeinsame kulturelle und soziale Region des Friedens und der Zusammenarbeit zu schaffen, war eine starke Motivation hinter der post-kommunistischen Transformation. Bedauerlicherweise ist dieser Traum nie wahr geworden: Heute ist Europa eine geopolitisch gespaltene Region mit einer wachsenden Zahl von Konflikten und Gegensätzen.

Im Unterschied zu ihren mitteleuropäischen und baltischen Nachbarn hat sich die Ukraine nicht immer an europäischer Integration orientiert. Eine Multi-Vektor-Außenpolitik war 1991–2004 und 2010–14 stärker (mit großem Einfluss Russlands), während eine an Europa (und den USA) orientierte Außenpolitik 2005–09 und nach 2014 dominierte (aber vor allem in Deklarationen dominierte). Der Ukraine gelang es, das 2017 abschließend ratifizierte Assoziierungsabkommen mit der EU abzuschließen, welches den Rahmen für einige Reformen bot. Heute sind ukrainische Politiker und Staatsvertreter im fortwährenden Dialog mit den EU-Mitgliedsstaaten. Die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen der EU und der Ukraine werden stärker. Die Sicherheit der Ukraine ist jetzt ein wichtiger Faktor für die Sicherheit der EU. Millionen ukrainischer Arbeitsmigranten sind mittlerweile Teil europäischer Gesellschaften und ihre finanziellen Rücküberweisungen unterstützen die ukrainische Wirtschaft. Allerdings wird die weitere Integration mit der EU durch politische und sozio-ökonomische Hindernisse auf beiden Seiten begrenzt. Während Europäisierung – in der Form von Kooperation und Integration mit der EU – ein wichtiger Entwicklungsschritt für die Ukraine bleibt, gibt es andere Prioritäten, die zu Einschränkungen oder sogar Widersprüchen führen, wie Fragen der nationalen Sicherheit in Kooperation mit den USA (z. B. im Falle der NordStream-Pipeline), Handel mit arabischen Ländern oder der Türkei. Tatsächlich ist die Ukraine weit fortgeschritten auf dem Weg, ein Teil der europäischen politischen, wirtschaftlichen und Sicherheitsagenda zu werden; ich bin mir aber nicht ganz sicher, dass die Formen der ukrainischen Europäisierung den Absichten von 1991 entsprechen.

Epilog

2021 ist nicht das Ende der Geschichte der unabhängigen Ukraine. Ich hoffe, dass wir in der Zukunft mehr Frieden, Freiheit und Wohlstand in der Ukraine und in Europa insgesamt sehen werden. Aber meine Hoffnung ist in permanentem Konflikt mit dem Wissen, was aus den Hoffnungen der Gründungsväter und -mütter der Ukraine geworden ist.

Übersetzung aus dem Englischen: Heiko Pleines

Lesetipps / Bibliographie

  • Jürgen Corbet et al. (1990): The Soviet Union at the Crossroads: Facts and Figures on the Soviet Republics(Frankfurt/M: Deutsche Bank).
  • Mikhail Minakov u. a. (Hg.) (2021): From “The Ukraine” to Ukraine. A Contemporary History, 1991–2021 (Stuttgart: ibidem-Verlag).
  • Karl Schlögel (2015): Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen (München: Hanser Verlag).

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