Dreißig Jahre Unabhängigkeit. Quo vadis, Ukraine?

Von Andrii Portnov (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder)

WissenschaftlerInnen, die sich mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion befassen, sind sich einig, dass das Beharren der ukrainischen Eliten auf der Unabhängigkeit ihrer Republik und die Unfähigkeit der russländischen Eliten, eine attraktive Alternative zur vollständigen Beherrschung durch Moskau zu bieten, zur Auflösung des »letzten europäischen Imperiums« geführt haben. (Plokhy 2014) Darüber hinaus hat ein bekannter Vertreter des so genannten »nationaldemokratischen« Lagers, Taras Stezkiw, kürzlich zugegeben, dass die Entstehung einer unabhängigen Ukraine durch einen Kompromiss zwischen den Nationaldemokraten und einem großen Teil der kommunistischen Nomenklatura ermöglicht wurde. Dieser Kompromiss machte einen vollständigen Elitenwechsel unmöglich, trug aber in hohem Maße zu einem friedlichen Charakter der postsowjetischen Transformation bei. Das bedeutet natürlich nicht, dass nur die Eliten geneigt waren, die Sowjetunion aufzulösen.

In der spätsowjetischen Ukraine sollte man die tiefe Enttäuschung großer Teile der Bevölkerung über die wirtschaftliche Lage (die Massenproteste der Bergarbeiter im Donbas sind nicht zu vergessen) und die hohen (weitgehend unrealistischen) Erwartungen an ein Wirtschaftswunder nach der Abschaffung des Planungszentrums in Moskau nicht übersehen. Die Relevanz nationaler, sprachlicher und religiöser Bewegungen (u. a. die Untergrundaktivitäten der seit 1946 offiziell verbotenen ukrainischen griechisch-katholischen Kirche) sowie das wachsende Bewusstsein für Umweltfragen (vor allem durch die Tschernobyl-Katastrophe 1986) spielten ebenfalls eine wichtige Rolle.

Die postsowjetische Ukraine stand also sofort vor immensen Problemen (u. a. ihr Status als Atommacht, Privatisierung und Reformen in der Bildungs- und Medienpolitik) und extrem hohen Erwartungen an schnelle Veränderungen. Es wurde auch recht schnell klar, dass die Vielfalt und der postsowjetische Pluralismus der ukrainischen Gesellschaft autoritäre politische Projekte schwierig, wenn nicht gar unmöglich machen. Im Gegensatz zu den Nachbarländern Russland und Belarus hat die postsowjetische Ukraine sowohl einen regelmäßigen Wechsel der politischen Führung durch Wahlen als auch wiederholte Interventionen von Massenprotestbewegungen in den politischen Prozess erlebt. Diese Bewegungen sind nach dem zentralen Platz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, auf dem sie sich entfalteten, als »Maidan« bekannt geworden. Sie alle führten zu schwerwiegenden Veränderungen in den höchsten Behörden und ließen gleichzeitig eine Reihe grundlegender gesellschaftlicher Bedürfnisse wie die systematische Bekämpfung der Korruption ungelöst.

Man könnte sagen, dass die postsowjetische Ukraine ihre Hoffnungen auf Reformen und Wohlstand allmählich auf die Perspektive der europäischen Integration setzte. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass die Orange Revolution 2004 buchstäblich ein paar Monate nach der Erweiterung der Europäischen Union um die geografischen Nachbarn der Ukraine aus dem ehemaligen Sowjetblock und den drei ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken stattfand. Obwohl die pro-europäische und demokratische Rhetorik die wichtigste Komponente der Orangen Revolution war, erwies sich die Europäische Union als unfähig, der Ukraine eine Beitrittsperspektive in Aussicht zu stellen, was die Motivation der ukrainischen Eliten, die notwendigen Reformen durchzuführen, erheblich minderte.

Die Euromaidan-Bewegung im Herbst 2013 wurde durch die Weigerung ausgelöst, das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU zu unterzeichnen, und durch schwere Gewalt der Polizei gegen Studierenden, die dagegen protestierten. Die Demonstranten beriefen sich immer wieder auf das mythologisierte Bild von Europa als einem Raum der Rechtsstaatlichkeit, des wirtschaftlichen Wohlstands, der Menschenrechte, der Redefreiheit und der Freizügigkeit. Einige von ihnen starben mit EU-Flaggen in den Händen…

Dennoch scheint es, dass die Europäische Union als Ganzes sowie ihre größten Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, Frankreich und Italien, nie ernsthaft darüber nachgedacht haben, was die EU durch einen Verzicht auf die Ukraine verlieren könnte und inwieweit es wirklich wichtig ist, ein Land aufzunehmen, in dem die EU trotz ihrer zahlreichen internen Misserfolge und sogar des Brexit immer noch sehr positiv gesehen wird.

Wie ein befreundeter Journalist aus Dnipro einmal feststellte, haben sowohl der Euromaidan als auch Putins Reaktion darauf die westlichen Eliten vor Herausforderungen gestellt, deren Ausmaß das Verständnis dieser Eliten weit übersteigt. Auf die eine oder andere Weise hat »Europa« bisher seine positive Mythologie in der Ukraine aufrechterhalten. Trotz des offensichtlichen Fehlens einer durchdachten strategischen EU-Politik gegenüber der Ukraine hat die Union immer noch einen freundlichen Nachbarn, der nicht nur ein Exporteur von Agrarprodukten ist, sondern auch – wenn man so will – ein Laboratorium für kulturelle und politische Vielfalt, das sich erstaunlicherweise immer wieder als weitaus widerstandsfähiger gegenüber äußeren und inneren Bedrohungen erweist, als es verschiedenen Anhängern der Realpolitik scheint. Diese Vitalität der Ukraine an sich verdient eine anhaltende analytische Aufmerksamkeit und sogar eine besondere Art von Haltung, die ich als kritische Empathie bezeichnen möchte.

Lesetipps / Bibliographie

  • Serhii Plokhy: The Last Empire. The Final Days of the Soviet Union, New York 2014.

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