Ukraine – Jetzt mit To-do-Liste die Zukunft angehen!

Von Gibfried Schenk (Universität Erlangen-Nürnberg)

Welch ein Schritt, der die Ukraine im August 1991 in Atem hielt. Das Parlament erklärte die Unabhängigkeit des Landes. Über 90 % der Bevölkerung bestätigten dies in einem Referendum.

Kann dieses Land 30 Jahre danach optimistisch in die Zukunft blicken? Ja, unbedingt! Der wichtigste Grund: Unabhängig von politischen Konstellationen gehören wachsame Zivilgesellschaft, inklusiv-vielfältiges Engagement von Bürgern unterschiedlichen Alters und Geschlechts, freie kritische Medien und gesunder Patriotismus inzwischen zum Erscheinungsbild der ukrainischen Gesellschaft. Emanzipierte, demokratische und politisch progressive Gruppen, mutige Lokalpolitiker und Journalisten stören zunehmend die Korruptionsmechanismen oligarchischer Eliten.

Ein starker Grund für Optimismus ist das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der Europäischen Union vom 21. März 2014, ein Abkommen, für dessen Abschluss der zentrale »Platz der Unabhängigkeit« (Majdan) in Kiew seit zum Kampfplatz wurde. Mit ihm verbinden sichEreignisse, die ihn letztendlich vom »Majdan als Platz« zum weltweit bekannten »Majdan als Erinnerungsort« werden ließen: 1990 die »Revolution auf dem Granit«, bei der eine Studentenrevolte der ukrainischen Gesellschaft entscheidende Impulse zur Staatsbildung gab, 2000 das Aufbegehren gegen den damaligen Präsidenten unter dem Slogan »Zone ohne Kutschma« nach der Ermordung des Journalisten Heorhij Gongadze, 2004/05 die »Orange Revolution« gegen eine gestohlene Präsidentenwahl und schließlich 2013/14 die »Revolution der Würde« (Euro-Maidan) als Protest gegen die »plötzliche« Weigerung des Staatsoberhauptes, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen.

Optimistisch stimmt heute die erstarkte Verteidigungsbereitschaft der Ukraine, denn während der Annexion der Krim und der Quasi-Abtrennung von Teilen des Donbass war der Zustand der Armee katastrophal. 2008 eröffnete ein Membership Action Plan dem Land die Perspektiven eines NATO-Beitritts.

Im Trend bietet auch die ukrainische Wirtschaft Optimismus. Sie wird effizienter. Ein Beispiel: Die durch das International Food Policy Research Institute errechnete »totale Faktorenproduktivität« der ukrainischen Agrarwirtschaft, d. h. das Verhältnis von Produktionsvolumen zum Ressourceneinsatz, stieg von 82 (1991) über 100 (2005) auf beträchtliche 148 (2016). Fundamentale Veränderungen in der Bodengesetzgebung werden das Wachstum beschleunigen.

Das Entscheidende zur Sicherung ihrer optimistischen Zukunft werden die Ukrainer selbst beitragen müssen. Dabei gibt es gute Anfänge, wie kürzlich bei der Fußballeuropameisterschaft, aber noch viel Luft nach oben. Auch außerhalb des Sports sollte sich die Ukraine offensiver im Ausland präsentieren. Möglichkeiten gibt es viele. Publikumsmessen wie die Internationale Grüne Woche in Berlin sind ein Beispiel.

Natürlich wäre es naiv, Schwierigkeiten, Hindernisse und Widersprüche vor der die Ukraine heute steht, zu übersehen oder nicht ernst zu nehmen.

Starke Auseinandersetzungen finden auf dem Gebiet der Erinnerungskultur und Geschichtspolitik statt. Ukrainische Historiker verschiedenster Couleur analysierten schon in der Endphase der Sowjetrepublik die schwierigen Jahre des Stalinismus und fingen an, »weiße Flecken« ihrer Geschichte zu beseitigen. Es fiel diesen Wissenschaftlern offenbar leicht, Formeln, Stereotype und kulturelle Muster der Vergangenheit zu erkennen und zu analysieren. So schien es, dass die professionelle ukrainische Historiografie und mit ihr viele nun frei denkende Bürger den klassischen ethnozentrischen Kanon überwinden können.

Das gelang zumindest so lange, bis Teile der Gesellschaft Geschichtspolitik wieder verstärkt als Machtinstrument einsetzten und versuchten, diesen überkommenen Kanon in die Zukunft zu reproduzieren. So verkürzte der ehemalige Präsident seinen Wahlkampf 2019 auf die dreiBegriffe »Armee – Sprache – Glaube«. Das staatliche Ukrainische Institut für Nationale Erinnerung »ent-LENIN-isierte« mit einer exklusiv-einseitigen »Entkommunisierungs«-Gesetzgebung den öffentlichen Raum, führte das Land in eine Kampagne der massenhaften Umbenennung von Straßen und sonstigen öffentlichen Räumen, versuchte der Gesellschaft das vereinfachte Narrativ einer sprachlich und kulturell homogenen ukrainischen Ethnie aufzuoktroyieren. Mit der weit über das Umstürzen von Denkmälern kommunistischer Führer hinausgehenden, gesetzlich verordneten Demontage überkommener Symbolik wurde die Ansicht des öffentlichen Raums häufig derart modifiziert, dass er sich in einem geschichtspolitisch ambivalenten Zustand wiederfand: alternativlos, irreversibel und vielfach auch gegen den ausdrücklichen Willen der Bevölkerung.

Bei einer kritischen Analyse aktueller Erinnerungskultur dürfen jedoch bestehende inklusiveAnsätze nicht unterschätzt werden. Beispiele dafür, wie eine kontrovers durchlebte schwierige Vergangenheit zur Basis einer gemeinsamen Gegenwart werden kann, sind der Umgang mit der Geschichte der Krimtataren, die Errichtung des zentralen Museums der »Revolution der Würde« und Fortschritte in der Gestaltung der Kiewer Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar.

Starke oligarchische Strukturen, große soziale Ungleichheit, ein – besonders in Pandemie­­zeiten – nicht belastbares Gesundheitssystem und vor allem ein durch Russland aufgezwungener Krieg mit mehr als 13.000 Toten, dem Verlust der Krim und Teilen des Donbass, belasten heute das Leben vieler Ukrainer. Trotz Abgabe sämtlicher Atomwaffen und internationaler Garantien der territorialen Integrität des Landes im Budapester Memorandum von 1994 und trotz des Minsker Prozesses entwickelte sich ein längerfristig eingefrorener Konflikt.

Es genügt heute nicht, Optimismus für die Zukunft der Ukraine nur aus dem Blick in das Land zu erwarten. Auch die EU und die transatlantische Wertegemeinschaft haben das Ihrige dazu beizutragen. Die Ukraine hat die historische Chance, sich als demokratisches Mitglied dieser Gemeinschaft zu behaupten. Für ihre Bürger muss es sich lohnen, sich für eine weltoffene demokratische Gesellschaft zu engagieren. Die Visafreiheit für Ukrainer in der EU ist hier ein wichtiges Signal der Anerkennung. Intensivierung des Wissenschafts- und Studentenaustausches, von Handel und Wirtschaftskooperation sind weitere Faktoren.

Für den Erfolg der Ukraine braucht es eine westliche Strategie, die langfristig ausgerichtet ist und sich nicht in Luft auflöst, wie in Afghanistan: eine Strategie, die weiter denkt als an Nord Stream 2; die den Unabhängigkeitswillen der Ukrainer als Emanzipation von der »Russischen Welt« (Russkij Mir) wirklich anerkennt – und nicht als Zerstörungsakt einer zu Sowjetzeiten erfolgreichen deutschen Ostpolitik missversteht oder, wie der russischen Präsident Wladimir Putin kürzlich, als westlich gesteuertes »Anti-Russland-Projekt« diskreditiert. Es braucht eine Strategie, die die Ukrainer auf allen Ebenen, im staatlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und besonders auch im privaten Austausch, in ihrem Diskurs um ein historisch plurales Geschichtsbild unterstützt: sensibler als zum Beispiel bei der Wahl des Deutsch-Russischen Museums für die Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, und konsequent, wie beim Umgang mit bedauerlichen Angriffen einzelner ukrainischer Politiker auf die Unabhängigkeit der gemeinsamen Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission.

Riesengroß sind die Herausforderungen für die Ukraine, für die sie nach vorne tragenden Menschen und Institutionen. Man kann und darf deshalb dieses Land nicht alleine lassen. Es braucht Ermutigung und Begleitung. In einer Art »To-do-Liste« sollte der Westen definieren, welche Verantwortung er trägt und welche Schritte er mit der Ukraine zu gehen bereit ist.

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