Das Ende der Sowjetunion war ein historischer Schlüsselmoment für die Ukraine. Es markierte den Beginn dauerhafter staatlicher Unabhängigkeit. Diese hatte zuvor nur kurzfristig und in anderen politischen und territorialen Konstellationen existiert. Die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik hatte mit ihrer Unabhängigkeitserklärung am 24. August 1991 und der Legitimierung dieser Entscheidung durch ein Referendum am 1. Dezember 1991 den Zerfall der Sowjetunion besiegelt. Bei einer Beteiligung von etwa 84 Prozent der Bevölkerung stimmten über 90 Prozent für die Unabhängigkeit, darunter auch eine Mehrheit auf der Krim. Dieses Votum und die Tatsache, dass die Krim ab spätestens 1995 politisch fest in den Südosten der Ukraine integriert war, sind im Zusammenhang mit der Krim-Annexion 2014 durch Russland auch im westlichen Diskurs oft unterbelichtet geblieben.
Die Staats- und Nationsbildung hat den ukrainischen Transformationsprozess seit 1991 geprägt – sowohl intern als auch in den Beziehungen zu Russland. Die historisch bedingte regionale und ethnolinguistische Vielfalt der Ukraine ist dabei von außen häufig missverstanden worden: Sie ist weder gleichbedeutend mit einer klaren Ost-West-Spaltung des Landes noch im Alltag so konfliktbehaftet wie oft angenommen. Dennoch stellt Diversität immer eine politische und gesellschaftliche Herausforderung dar. Diese ist umso größer im Kontext eines postkolonialen Demokratisierungsprozesses. Dreißig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ist eine auf den Staat und die ukrainische Staatsbürgerschaft ausgerichtete Identität in der Vorstellung der Bevölkerung und der politischen Eliten fest verankert.
Das Ende der Sowjetunion ist nicht auf 1991 bzw. auf die Gorbatschow-Ära 1985–1991 begrenzt; das imperiale Erbe wirkt auch mittel- und langfristig nach. Neben wirtschaftlichen und infrastrukturellen Verflechtungen halten sich vor allem politische Ansprüche und Denkmuster des ehemaligen imperialen Zentrums. Die Nichtanerkennung der ukrainischen Unabhängigkeit, gespiegelt in der Rhetorik vom »slawischen Brudervolk«, ist eine Konstante in der Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Somit ist auch die Annexion der Krim und der seit 2014 andauernde Krieg im Donbass, bei dem Russland lokale Separatisten unterstützt, eng mit dem Ende der Sowjetunion verknüpft. Der Krieg in der Ostukraine hat bisher etwa 14.000 Opfer gefordert und entkräftet das Bild eines relativ friedlichen Zerfalls des Sowjetimperiums.
Für die ukrainische Gesellschaft verband sich das Ende der Sowjetunion sowohl mit Hoffnungen als auch mit Ungewissheiten und Enttäuschungen. Das Ende des Kalten Krieges öffnete physische und mentale Grenzen gen Westen, aber der Prozess der EU-Osterweiterung bis an die ukrainisch-polnische, ukrainisch-ungarische, ukrainisch-slowakische und ukrainisch-rumänische Grenze schuf neue rechtliche und alltägliche Grenzregime. Die wirtschaftlichen Reformen waren von Phasen der Hyperinflation begleitet und ermöglichen oligarchischen Interessen bis heute einen großen Einfluss. Die Massenproteste der Orangen Revolution 2004 und des Euromaidan 2013–14 generierten wichtige Demokratisierungsschübe, verbanden sich in der Folge aber auch mit der Enttäuschung über langsame bzw. unvollständige Reformen, insbesondere im Justizsektor und bei der Korruptionsbekämpfung.
Mit dem Ende der Sowjetunion hat die Ukraine ihren Platz in der Mitte Europas eingenommen. Trotz inzwischen weitreichender Kooperationen über ein EU-Assoziierungs- und Freihandelsabkommen sowie mit der NATO ist die Ukraine weiterhin nur punktuell im Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit präsent. Die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine haben einmal mehr die (sicherheits-)politische Bedeutung der Ukraine in Europa hervorgehoben, doch auch nach dreißig Jahren dauert der Prozess des Umdenkens in Europa noch an.