Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Deutschland außenpolitisch einen pazifistischen Weg verfolgt, geleitet von der Idee von Gewaltlosigkeit und Dialog, um den Frieden auf dem europäischen Kontinent zu festigen. Das gilt insbesondere für die deutsche Russlandpolitik, in der die Haltung Deutschlands einerseits von dem Gefühl einer historischen Schuld und Verantwortung gegenüber Russland verstärkt wird, wie auch andererseits von wirtschaftlichen Interessen.
Der aktuelle historische Moment, da Russland eine Revision der euroatlantischen Sicherheitsarchitektur fordert, wobei die Ukraine mit militärischer Gewalt bedroht wird, ist für Deutschland eine Prüfung zu der Frage, ob das Land wirklich Lehren aus der Vergangenheit gezogen hat und ob es eine führende und einigende Rolle in der Europäischen Union spielen kann. Es scheint, als könnte die eigenartige deutsche Mischung aus Pazifismus, Antiamerikanismus, (selektiven) historischen Schuldgefühlen und dem Wunsch nach Dialog mit Russland (ganz gleich wie autokratisch dieses auch ist) dem Land einen üblen Streich spielen. Die Position Deutschlands ragt umso stärker heraus, als sie in markantem Kontrast zu der des Vereinigten Königreichs, der USA und anderer Verbündeter der Ukraine steht.
Bemerkenswert ist, dass diese Besonderheit im Großen und Ganzen nicht nur für Politiker:innen charakteristisch ist, sondern auch für Wissenschaftler:innen und Analytiker:innen. Das lässt sich an den Ergebnissen einer Forschungsarbeit ablesen, in der untersucht wurde, wie Angehörige der Wissenschafts- und Think-Tank-Community in sieben westlichen Staaten den Konflikt in der und um die Ukraine bezeichnen und interpretieren, und welche Lösungsmöglichkeiten sie vorschlagen (Koval et al. in den Lesetipps). Die Studie wurde von einer Gruppe ukrainischer Wissenschaftler:innen erstellt, die über sechs Jahre hinweg rund tausend Publikationen untersucht haben. Sie ergab, dass Wissenschaftler:innen und Analytiker:innen aus Polen, den USA und dem Vereinigten Königreich Russland eine Aggression gegen die Ukraine vorwerfen und abschreckende Maßnahmen vorschlagen (mehr Hilfe für die Ukraine, stärkere Sanktionen gegen Russland usw.). Jene aus Deutschland (und Frankreich) hingegen treten für einen Dialog mit Moskau und für eine Appeasement-Politik ein.
Die Zeit für eine Politik, die allein auf Diplomatie setzt, läuft allerdings aus. Dialog und Appeasement gegenüber Russland haben nicht funktioniert: Nach acht Jahren hybrider Aggression droht Russland der Ukraine und dem Westen nun offen mit Gewalt. Jeder Kompromiss mit Russland, der zu Lasten der Souveränität der Ukraine geht, wird Putin lediglich signalisieren, dass er noch mehr fordern kann. Deutschland beeinträchtigt durch seine lasche Haltung gegenüber der russischen Aggression die Geschlossenheit der Europäischen Union. Und es spricht der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung ab, das dem Land aufgrund der Charta der Vereinten Nationen zusteht. Wie sonst wäre es zu verstehen, dass Berlin gegen ukrainische Waffenkäufe über die Beschaffungsagentur der NATO (NSPA) ein Veto einlegt und Spenden von Waffen deutscher Produktion blockiert, die Estland (oder andere Drittstaaten) der Ukraine geben wollen, während es ungeachtet der EU-Sanktionen (!) Dual-Use-Güter nach Russland geliefert hat?
Es ist an der Zeit, dass die Regierung von Bundeskanzler Scholz den deutschen Werten der Friedenssicherung gerecht wird. Nur bedeutet Pazifismus in diesem Fall ein aktives Vorgehen zur Verteidigung von Frieden und Demokratie. Zuallererst sollte Deutschland die Ukraine als gleichgestelltes Gegenüber und als Partner betrachten. Schließlich hat unsere Studie gezeigt, dass eine Reihe Wissenschaftler:innen und Politikexpert:innen – ganz zu schweigen von bestimmten Politiker:innen (https://www.sueddeutsche.de/bayern/konflikte-berlin-soeder-osterweiterung-um-ukraine-auf-lange-zeit-kein-thema-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220122-99-809026) und einigen hochrangigen Militärs (https://www.dw.com/en/german-navy-chief-sch%C3%B6nbach-resigns-over-comments-on-putin-crimea/a-60525709) – die Ukraine in ihren Beiträgen eher als Hintergrund für Russlands Verhältnis zum Westen, denn als Subjekt internationaler Beziehungen betrachten. Hinzu kommt, dass keines der untersuchten Strategiepapiere und keiner der Artikel die Ukraine als einen Partner für Deutschland oder den Westen denken, was illustriert, dass die Ukraine im deutschen Diskurs nur als Objekt existiert. Allerdings sind in den jüngsten Veröffentlichungen (https://www.welt.de/politik/deutschland/article236454707/Ukraine-Krise-Deutschlands-Zaudern-bestaerkt-Wladimir-Putin-nur.html) wichtiger deutscher Medien Verschiebungen zu beobachten gewesen. Es wird jetzt auch militärische Unterstützung für die Ukraine und eine stärker proaktive Rolle bei der Abschreckung gegenüber Russland gefordert.
Dennoch sind für Politiker:innen nach wie vor Handeln und Rhetorik entscheidend. Unserer Ansicht nach könnten einige der folgenden Maßnahmen wirksam sein: Deutschland sollte sich im Minsk-Prozess – wo politische Schritte erst dann möglich werden können, nachdem eine stabile Sicherheitslage etabliert wurde – fest an die Seite der Ukraine stellen. Die EU sollte harte Sanktionen gegen Russland verhängen. Deutschland sollte Waffenverkäufe an die Ukraine über die NSPA freigeben, da die Ukraine diese Waffen zur Verteidigung, und nicht für eine Offensive benötigt. Und schließlich sollte ein Unterstützungsfonds für deutsche Investor:innen in der Ukraine eingerichtet werden, der die Ukraine in den Augen deutscher Unternehmer:innen zu einem sicheren und attraktiven Ort machen würde. Die ukrainische Wirtschaft braucht dringend Unterstützung angesichts der fortgesetzten russischen Bedrohung, mit der Russland die Ukraine und den Westen stets erpressen wird, selbst wenn in den nächsten Wochen keine Intervention erfolgen sollte.
Während vor zwei Jahren, als unsere Studie durchgeführt wurde, eine der wichtigsten Empfehlungen deutscher Politikexpert:innen lautete, dass eine ausgewogene Haltung gegenüber Russland einzunehmen und die Tür für einen Dialog mit Moskau offen zu halten sei, was damals noch verständlich gewesen sein mag, so wäre der Vorschlag »Dialog und business as usual« mit Russland jetzt völlig inakzeptabel. Falls Deutschland damit weitermacht, könnte es sich bald womöglich einer weiteren Migrant:innenkrise an seinen Grenzen gegenübersehen, nämlich in Form von Ukrainer:innen, die vor der russischen Aggression und einem neuen Krieg mitten in Europa fliehen. Dann wird Deutschland erkennen, dass, wie in Srebrenica, eine Katastrophe hätte verhindert werden können, aber nichts unternommen wurde.
Stand: 16. Februar 2022
Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder