Geeinte Ukraine
Selenskyj hat in seiner Amtszeit etwas erreicht, was bislang keinem seiner Vorgänger gelungen war: Er hat die Ukraine geeint. In seinen Auftritten, stets integrationsbetont und gendersensibel, gelang es ihm, ukrainische Frauen wie Männer aus dem Osten und dem Westen, aus dem In- und Ausland, aus großen Städten und kleinen Dörfern des Landes gleichermaßen anzusprechen. Selenskyjs klare und bekräftigende Botschaften (siehe Analyse von Ulrich Schmid in dieser Ausgabe), die er seit Beginn des Krieges jeden Tag aussandte, stärkten den Kampfgeist der Menschen für jedweden Einsatz für das gemeinsame Ziel: sei es zur militärischen Verteidigung, im Rahmen der humanitären Hilfe, der Evakuierung der Zivilbevölkerung, wirtschaftliche Aktivität, Freiwilligenarbeit, Bekämpfung der russischen Propaganda etc.
Eine der wichtigsten Botschaften, die Selenskyj in den ersten Kriegstagen an die Welt überbrachte, war, dass das ukrainische Volk nicht kapitulieren werde und bereit sei, für sein Leben, sein Land und seine Freiheit zu kämpfen. In globaler Perspektive übernahm die Ukraine die Aufgabe, die europäische Ordnung und Sicherheit zu verteidigen, während Russland diese gefährdete, indem es einen brutalen Krieg mitten in Europa entfesselte und dabei auch nicht vor Methoden des Nuklearterrorismus zurückschreckte (z. B. andauernde Drohgebärden mit Atomwaffen, Besetzung der Kernkraftwerke Tschernobyl und Saporischschja). Obwohl Russlands Führung behauptet, nur Objekte der militärischen Infrastruktur ins Visier zu nehmen, töteten russische Soldaten systematisch und massenhaft Zivilisten, bombardierten wahllos Wohnviertel, zivile Infrastruktur und das kulturelle Erbe des Landes und begingen noch viele andere Kriegsverbrechen.
Abgesehen von den Vororten Kyjiws wurden vor allem die Regionen im Osten und Süden der Ukraine zerstört, wo eigentlich die meisten russisch orientierten ukrainischen Bürger leben. Die Brutalität des Krieges führte zu einem raschen Stimmungswandel in der Bevölkerung und zu einem Anstieg der Unterstützung für NATO- und EU-Integration. Die Befürwortung eines NATO-Beitritts der Ukraine erreichte mit 76 Prozent den höchsten Wert in der Geschichte (danach gab es allerdings einen Rückgang auf zuletzt 68 Prozent, siehe Umfragen in dieser Ausgabe), zugleich unterstützen 91 Prozent der ukrainischen Bevölkerung die EU-Integration ihres Landes (soziologische Gruppe Rating, März 2022). Folglich stieg die Zustimmung zur EU und der NATO um mehr als 20 Prozentpunkte im Vergleich zur Vorkriegszeit, was vor allem aus deutlich gestiegenen Zustimmungswerten im Süden und Osten der Ukraine resultiert.
Seit 1991 hatte die Ukraine sechs verschiedene Präsidenten. Jeder von ihnen genoss zu Beginn der Amtszeit eine relativ hohe Unterstützung und verlor diese allmählich, bis sie am Ende ihrer Amtszeit ziemlich unpopulär wurden. Vor dem Krieg folgte auch Selenskyjs Popularität diesem Muster, danach aber durchbrach er es. Im März 2022 erreichte er mit 93 Prozent die höchsten Zustimmungswerte eines Präsidenten in der Geschichte des Landes (soziologische Gruppe Rating), was sogar seine relativ hohe Popularität zu Beginn seiner Präsidentschaft (73 Prozent) im Jahr 2019 übertraf.
Selenskyjs diplomatische Erfolge
Eine der eindrucksvollsten Botschaften, die Selenskyj nach Kriegsbeginn an die internationale Gemeinschaft sandte, war eine Demonstration seines eisernen Willens: Trotz zahlreicher Möglichkeiten zur Flucht weigerte er sich, das Land zu verlassen und blieb in Kyjiw, obwohl die russischen Aggressoren ihn und seine Familie explizit zum Ziel Nummer eins erklärt hatten. Damit stellte der ukrainische Staatschef seine persönlichen Interessen hinter die Interessen seines Landes zurück (ein krasser Kontrast übrigens zu Vor-Vorgänger Wiktor Janukowytsch, der 2014 Hals über Kopf das Land verlies). Selenskyjs auf das jeweilige Zielpublikum zugeschnittenen Reden vor dem US-Kongress, dem EU-Parlament, deutschen, britischen, japanischen, australischen und anderen nationalen Parlamenten trugen dazu bei, Prozesse zu beschleunigen, die ansonsten oft Monate oder Jahre gedauert hätten. Zu den drei Hauptprioritäten der diplomatischen Bemühungen von Selenskyj gehörten die Verhängung von gegen Russland gerichteten wirtschaftlichen und persönlichen Sanktionen, die Lieferung von Waffen an die Ukraine sowie die finanzielle Unterstützung der Ukraine. In allen drei Bereichen erzielte die Ukraine in kürzester Zeit beachtliche Erfolge.
Obwohl sie sich nicht bereit zeigten, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten und den russischen Streitkräften auf ukrainischem Territorium direkt entgegenzutreten, stimmten die Partnerstaaten der Ukraine zu, militärische Ausrüstung und Waffen in beachtlichem Ausmaß zu liefern, darunter Javelin-Panzerabwehrraketen und Stinger-Flugabwehrraketen.
Modernisierung der Armee entscheidend
Tatsächlich war diese internationale Militärhilfe (siehe Dokumentation in dieser Ausgabe, Anm. d. Red.) äußerst wichtig. Die hohe Leistungsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte im Jahr 2022 ist jedoch noch auf einen anderen Faktor zurückzuführen – die Armeereformen, die Selenskyjs Vorgänger Petro Poroschenko initiiert hat. Aus der Besetzung der Krim und Teilen des Donbas sowie infolge einer schonungslosen Analyse der Gründe für die schlechte Kampfleistung 2014 wurden wichtige Lehren gezogen, und die ukrainische Armee wurde anschließend in zentralen Bereichen reformiert: Verbesserung von Führung und Kontrolle, Planung, Operationsfähigkeit, medizinische Hilfe und Logistik sowie berufliche Entwicklung der Streitkräfte. In enger Zusammenarbeit mit den NATO-Staaten USA, Kanada, dem Vereinigten Königreich, Litauen und Deutschland erfuhren die ukrainischen Streitkräfte eine bemerkenswerte Modernisierung. Und so hat sich die einstmals marode ukrainische Armee nach 2016 zu einer gut funktionierenden Institution entwickelt, die dem militärisch eigentlich weit überlegenen Gegner Russland Paroli bieten kann und in der Bevölkerung ein hohes Maß an Vertrauen genießt.
Darüber hinaus gibt sich der ukrainische Präsident der Welt gegenüber offen und nutzt gerne unkonventionelle Ansätze. So rief er internationale Freiwillige dazu auf, sich »der Verteidigung der Ukraine, Europas und der Welt anzuschließen« und der »Internationalen Legion« zur Verteidigung des ukrainischen Territoriums beizutreten. Nach Angaben von Außenminister Dmytro Kuleba haben sich Anfang März 2022 mehr als 20.000 Freiwillige aus 52 Ländern gemeldet, um für die Ukraine zu kämpfen.
An der Front des Informationskriegs mit Russland arbeitet die Ukraine aktiv daran, der Propaganda und Desinformation der russischen Medien entgegenzuwirken und die Welt über die tatsächlichen Entwicklungen im Krieg zu informieren. Die vereinten Bemühungen ukrainischer Mediengruppen, faktenbasierte Berichte zu produzieren und Nachrichten über den Krieg rund um die Uhr zu verbreiten, werden durch Initiativen von Freiwilligen und IT-Spezialisten ergänzt.
Unterstützung der kleinen und mittleren Unternehmen
Der Krieg hat negative Auswirkungen auf die Wirtschaft der Ukraine. Laut Umfrageergebnissen des Umfrageunternehmens Gradus haben rund 85 Prozent der Unternehmen ihre Arbeit eingestellt oder mussten ihre Aktivitäten reduzieren. Das Bruttoinlandsprodukt fiel im ersten Quartal um 16 Prozent und könnte 2022 um bis zu 40 Prozent sinken. Als Antwort auf die Forderungen von Wirtschaftsvertretern initiierte Selenskyj eine Reihe von Maßnahmen, um die Wirtschaft der Ukraine zu entlasten. So zahlen Kleinunternehmen seit dem 1. April 2022 nur noch freiwillig Steuern. Werden keine Steuern entrichtet, droht keine Strafverfolgung. Größere Unternehmen mit einem Umsatz von bis zu 10 Milliarden Hrywnja sollen pauschal 2 Prozent ihres Umsatzes zahlen. Viele Unternehmen sehen sich mit großen Problemen konfrontiert, wie z. B. sinkender Nachfrage (Kundenmangel), Personalmangel aufgrund von Flucht und Vertreibung, Logistikproblemen und mehr. Daher wurde Selenskyjs Kurs von den kleinen und mittleren Unternehmen sehr begrüßt. Strategisch sind staatliche Unterstützungsmaßnahmen für diese Unternehmen von entscheidender Bedeutung, da sie eine wichtige Rolle für den Arbeitsmarkt innehaben und als zentrale Säule moderner Volkswirtschaften gelten.
Blick in die Zukunft: Rückerstattung, Wiederaufbau, Wiederherstellung
Nicht zuletzt ist die zukunftsorientierte Komponente der Reden von Präsident Selenskyj herauszustellen. Der ukrainische Präsident bekräftigt, dass es für die Zeit nach dem Krieg gute Perspektiven für die Ukraine gebe: Das Land werde seine Infrastruktur wieder aufbauen, Menschen, deren Privateigentum zerstört oder beschädigt wurde, würden Entschädigungen erhalten und die Wirtschaft wird sich erholen. Die wichtigste Botschaft des Präsidenten ist, dass Gerechtigkeit wiederhergestellt werde. In diesem Zusammenhang bezieht sich die vielleicht bedeutendste öffentliche Forderung auf die Verfolgung und Bestrafung der von den russischen Besatzern begangenen Kriegsverbrechen. Der Einsatz von Artillerie- und Raketenangriffen sowie Streumunition und Vakuumbomben durch Russland hat in vielen Städten der Ukraine zu großen Opfern unter der Zivilbevölkerung geführt. In den von den russischen Truppen einst besetzten und nun befreiten ukrainischen Gebieten wie Butscha wurden zahlreiche Beweise für Gräueltaten an der örtlichen Zivilbevölkerung gefunden. Als Reaktion auf diese Verbrechen forderte Präsident Selenskyj den Internationalen Strafgerichtshof auf, Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen einzuleiten.
Laut einer Umfrage der soziologischen Gruppe Rating vom März 2022 ist die Mehrheit der Ukrainer optimistisch, was den Wiederaufbau des zerstörten Landes nach dem Krieg angeht: 51 Prozent glauben, dass das Land in der Lage sein wird, die Städte innerhalb von fünf Jahren wiederaufzubauen.
Darüber hinaus treibt Selenskyj eine internationale Agenda mit Blick auf die Ausarbeitung neuer wirksamer Instrumente und Abkommen voran, die friedliche Staaten in Zukunft schnell und wirksam vor militärischen Aggressionen schützen sollen. Da sich das Budapester Memorandum von 1994, das, im Gegenzug für die Abgabe ukrainischer Nuklearwaffen, Sicherheitsgarantien durch die USA, Großbritannien und Russland bieten und die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit der Ukraine schützen sollte, als unwirksam erwies, erscheint der Verzicht der Ukraine auf Atomwaffen im Nachhinein als Fehler, den andere (potenzielle) Atommächte kaum wiederholen werden. Um die negativen Folgen für künftige internationale Sicherheitsabkommen zu vermeiden und wirklich funktionierende Sicherheitsverträge auszuarbeiten, leitet Selenskyj einen Verhandlungsprozess über Vereinbarungen ein, die konkrete und eindeutige Verpflichtungen enthalten, wie Garantiemächte im Falle einer militärischen Aggression zu reagieren haben.
Fazit: Drei Säulen der ukrainischen Solidarität
Zusammenfassend: Der von Präsident Wolodymyr Selenskyj angeführte ukrainische Widerstand gegen die russische Invasion kann als stark, gut organisiert und entschlossen bezeichnet werden. Dieser Widerstand beruht vor allem auf drei Säulen der gesellschaftlichen Solidarität. Erstens ist das nationalstaatliche Bewusstsein so ausgeprägt wie nie zuvor. Die ukrainische Bevölkerung zeigt zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit 1991 eine bemerkenswerte Einigkeit, was gemeinsame Werte und politische Orientierungen betrifft. Es existieren praktisch keine Meinungsverschiedenheiten mehr darüber, welchen Weg das Land einschlagen soll. Die eindeutige Wahl fällt auf eine EU- und NATO-Integration. Damit entscheidet sich die Ukraine endgültig gegen den Weg des postsowjetischen Autoritarismus und der politischen Abhängigkeit von Russland, sowie gegen die daraus resultierende militärische Verwundbarkeit und andauernde eingefrorene Konflikte. Die zweite Säule der ukrainischen Solidarität bildet ein verstärkter »funktionaler Zusammenhalt« der Ukrainerinnen und Ukrainer, der die Menschen dazu verpflichtet, sich gegenseitig zu helfen und in verschiedensten Bereichen, je nach seinen Möglichkeiten, zum Sieg gegen den Aggressor beizutragen. Das betrifft nicht nur die militärische Verteidigung, sondern auch humanitäre Hilfe, die Unterstützung der Armee und der Zivilbevölkerung durch Freiwillige, z. B. bei der Evakuierung, Aufnahme von Flüchtlingen im In- und Ausland, Einsatz für die Wirtschaft des Landes, Engagement im Kampf gegen die russische Propaganda u. v. m. Die dritte Säule der Solidarität bildet das gemeinsame ultimative Ziel: Die Verteidigung gegen einen gemeinsamen Feind, der 2014 die Krim und die Donbas-Gebiete besetzte und acht Jahre später einen brutalen Krieg in der gesamten Ukraine entfesselte.
Auf ukrainischer Seite ist der Wille sehr groß, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Wenn die politische und militärische Unterstützung seitens der Partnerstaaten – einschließlich der USA, Großbritannien und anderer NATO-Staaten – rechtzeitig und im notwendigen Ausmaß kommt, hat die Ukraine eine realistische Chance, den militärisch überlegenen Aggressor zu besiegen.
Stand: 06.04.2022