Viele Deutsche tun sich schwer damit, die Ukraine in ihrem Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg militärisch zu unterstützen. Eine in der Regierungspolitik vor allem auf Seiten der SPD deutlich erkennbare Zögerlichkeit scheint – wenn man aktuellen Umfragen glauben darf – auch in Teilen der Bevölkerung verbreitet zu sein. Personen des öffentlichen Lebens bringen in Talkshows, Zeitungsartikeln und offenen Briefen nicht nur ihre Ablehnung gegenüber der Lieferung von schweren Waffen zum Ausdruck. Sie äußern auch generell Unbehagen und Zweifel an einer militärischen Gegenwehr, deren letztendlicher Nutzen ihnen angesichts der Opfer und einer möglichen Ausweitung des Krieges fraglich erscheint.
Gelegentlich explizit und noch häufiger implizit wird dabei auf die deutsche Erfahrung des Zweiten Weltkriegs Bezug genommen und auf die Lehren, die daraus zu ziehen sind. Generationsbedingt spielen dabei eigene Erinnerungen nur noch bei wenigen Akteuren eine Rolle (und führen auch zu höchst unterschiedlichen Schlussfolgerungen, zum Beispiel bei Klaus von Dohnanyi und Gerhart Baum). Manche rekurrieren, wie Harald Welzer, auf familiäre Kriegserinnerungen. Von noch größerer Bedeutung ist heute aber wohl die öffentliche Erinnerungskultur, die sich in den vergangenen Jahrzehnten herausgebildet hat und den gesellschaftlichen Blick auf Geschichte und Gegenwart gleichermaßen prägt.
Eine »offene und selbstreflexive Debatte um erneuerte historische Vergewisserung« sei in einem »Deutschland der ›Zeitenwende‹« dringend nötig, schreibt Michael Wildt im Zusammenhang der Debatte über das Verhältnis von Holocaust und Kolonialismus. Aber gerade auch der Krieg in der Ukraine stellt die deutsche Erinnerungskultur auf den Prüfstand. Es stellt sich die Frage, auf welche Weise sie zu einer zurückhaltenden und zögerlichen Haltung gegenüber einer militärischen Unterstützung der Ukraine beigetragen hat. Bedürfen bestimmte erinnerungskulturelle Gewissheiten und Gewichtungen vor diesem Hintergrund einer neuen Bewertung oder veränderten Justierung?
»Nie wieder Auschwitz« – »Nie wieder Krieg«
Konstitutiver Bezugspunkt und negatives Zentralereignis der deutschen Erinnerungskultur ist heute unbestreitbar der Holocaust. »Nie wieder Auschwitz!« ist seit den 1980er Jahren erinnerungskultureller Kernbestand und handlungsleitende Maxime zugleich. Vor allem im politisch eher linken Spektrum verband sich damit vielfach das pazifistische Diktum »Nie wieder Krieg!«. Zusammen wirkten beide lange Zeit wie zwei Seiten derselben Medaille. Tatsächlich war der Holocaust nur vor dem Hintergrund des deutschen Eroberungskrieges möglich geworden. Andererseits wurde Auschwitz aber auch nur durch die Kriegführung der Alliierten befreit und die Shoah durch ihren militärischen Einsatz beendet.
Dass eine Umsetzung von »Nie wieder Auschwitz!« bedeuten konnte, auch militärisch eingreifen zu müssen, wurde in den 1990er Jahren im Zusammenhang mit den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien in einem für viele schmerzhaften und kontrovers geführten Prozess zunehmend erkannt. Trotz dieser Erkenntnis blieb dennoch die Ansicht dominierend, dass Deutschland sich wegen seiner Geschichte bei militärischen Aktionen besonders zurückhalten sollte.
Aufgrund der historischen Erfahrung, mit dem Zweiten Weltkrieg unermessliches Leid über andere Völker gebracht zu haben und an seinem Ende auch selbst Opfer dieses Krieges geworden zu sein, hielt sich die Überzeugung, dass Krieg prinzipiell ein illegitimes Mittel sei und insbesondere von deutscher Seite nicht angewendet werden dürfe. Dies galt vor allem für Konflikte, die nicht eindeutig mit genozidalen Verbrechen einhergingen.
Die Verhinderung bzw. Beendigung des Völkermordes an den Juden und Jüdinnen war auf Seiten der Alliierten im Zweiten Weltkrieg allerdings weder Ursache noch primäres Motiv ihrer Kriegsführung. Sie reagierten vielmehr auf die aggressive Expansionspolitik Deutschlands. Die damit verbundenen deutschen Verbrechen unterhalb der Schwelle des Völkermords – der deutsche Angriffskrieg, die Bombardierung von Städten, massenhafte Verschleppungen von Zivilisten zur Zwangsarbeit, die rassistische und brutale Besatzungspolitik gegenüber der Bevölkerung nicht nur, aber vor allem in Osteuropa – sind in der deutschen Erinnerungskultur weniger verankert. In den davon betroffenen Ländern sind sie dagegen nach wie vor präsent. Sie legitimieren hier rückblickend den Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland ebenso wie die grundsätzliche Überzeugung, dass Kriege notwendig sein können.
Kämpfen lohnt sich nicht
Anders als ihre ehemaligen Kriegsgegner haben die Deutschen nicht die Erfahrung eines breiten und letztlich erfolgreichen Widerstandes sowie der Selbstbefreiung vom Nationalsozialismus gemacht. In die deutsche Erinnerungskultur ging vielmehr die Erfahrung ein, im Zweiten Weltkrieg für die falsche Sache und nur in sehr wenigen Fällen und zudem vergeblich gegen den Nationalsozialismus gekämpft zu haben. Die deutsche Bilanz aus dem Zweiten Weltkrieg war, dass der Kampf der Soldaten schlecht und die wenigen Beispiele gewaltsamen Widerstandes erfolglos geblieben waren.
»Unsere Großeltern […] haben Widerstand geleistet. Und das müssen wir auch heute tun.« Ein solcher Satz, den der britische Publizist Paul Mason kürzlich zum Ukrainekrieg schrieb, ist in der deutschen Debatte noch nicht gefallen und auch nur schwer vorstellbar. Die historische Erfahrung eines notwendigen Kampfes für eine gerechte Sache fehlt in der jüngeren deutschen Erinnerungskultur ebenso wie die Erfahrung, dass gewaltsamer Widerstand gegen einen verbrecherischen Gegner nicht nur moralisch geboten, sondern auch erfolgreich sein kann. Die deutsche Erfahrung, dass es sich nicht zu kämpfen lohnt, fundierte dagegen eine Nachkriegserinnerung, die langfristig zu einer weitverbreiteten Distanz zu jeglichen Formen von Krieg und Gewalt führte.
Damit hatte sich auch das Modell einer heroischen Kriegserinnerung für die Deutschen erledigt. Anders in der Erinnerungskultur der Alliierten und der ehemals besetzten Länder: Die Erinnerung an Soldat:innen, Widerstandskämpfer:innnen und Partisan:innen, die den Nationalsozialismus nach langem Kampf schließlich erfolgreich besiegt und dafür Gesundheit oder Leben geopfert hatten, begründete und festigte hier durchaus auch ein heroisches Gedächtnis. Es wirkt bis in die Gegenwart fort und wird von deutscher Seite oft mit einer sich postheroisch gebenden Überheblichkeit als vermeintlich aus der Zeit gefallen belächelt. Erst spät und ganz allmählich verankerte sich in der deutschen Erinnerungskultur die Überzeugung, durch den Kampf der anderen nicht nur besiegt, sondern ebenfalls befreit worden zu sein.
Opferidentität und Aufarbeitungsstolz
Die Erinnerung an die siegreichen alliierten Soldaten blieb jedoch ambivalent. Vor allem die Sowjetsoldaten der Roten Armee – schon bei Kriegsende oft verkürzt als »die Russen« bezeichnet – wurden und werden bis heute vor allem als Vergewaltiger deutscher Frauen, als Vertreiber der deutschen Bevölkerung aus dem Osten oder als spätere Besatzer im Ostteil des Landes erinnert. Nicht zuletzt aus dieser Erinnerung heraus resultiert heute eine besondere Furcht vor »den Russen«, die als potenziell brutale Gewalttäter besser nicht provoziert, sondern mit denen lieber eine gütliche Einigung gesucht werden sollte.
Die Deutschen selbst bildeten dagegen ein ambivalentes Opfer-Täter-Gedächtnis aus. Dem lange dominierenden Selbstbild als Opfer der Niederlage, alliierter Siegerwillkür oder des Krieges selbst stellte sich später ein Täterbewusstsein an die Seite, das sich vor allem auf die Erinnerung an den Holocaust gründete. Heute gehört die »Aufarbeitung« besonders dieses Teiles der deutschen Geschichte fest zum erinnerungskulturellen Selbstverständnis. Dies führt in Talkshows oder bei anderen Gelegenheiten allerdings gelegentlich auch zu selbstgefälliger Überheblichkeit gegenüber Repräsentanten nichtdeutscher Gesellschaften, die in dieser Hinsicht als rückständig betrachtet werden – wenn sie sich zum Beispiel noch nicht gleichermaßen intensiv mit ihrer Kollaborationsgeschichte auseinandergesetzt haben – oder denen signalisiert wird, dass man in historischer Hinsicht keiner weiteren Belehrung mehr bedürfe, weil man seine Hausaufgaben bereits gemacht habe.
Solidarität und Zurückhaltung
Trotz der Verankerung des Täterbewusstseins in der deutschen Erinnerungskultur verstärkte sich seit dem Ende des Kalten Krieges wieder das Selbstverständnis, auch selbst Opfer des Zweiten Weltkrieges gewesen zu sein. Das deutsche Opferbewusstsein war insbesondere seit der Jahrtausendwende medial präsent. Die derzeitige Solidarität mit den ukrainischen Opfern des russischen Angriffskrieges und die umfangreiche Bereitschaft, sie zu unterstützen, erklärt sich auch vor dem Hintergrund dieser kulturellen Erinnerung an eigene Kriegserfahrungen.
Insbesondere die Empathie und Hilfsbereitschaft gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen – meist Frauen und Kinder – scheinen auch eine Folge des etablierten deutschen Opferselbstbildes in der Erinnerung an die meist weiblich visualisierten deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen vor und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu sein. Die Vergegenwärtigung der Männer, die heute und damals als Soldaten kämpfen, ruft im deutschen Fall dagegen das Täterbewusstsein auf. Kämpfende Männer im Krieg – das ist in der deutschen Erinnerung ein negativ besetztes Motiv, das ebenfalls nachwirkt, wenn es um die militärische Unterstützung der Ukraine geht.
Erinnerungskulturelle Selbstbezogenheit und politische Zaghaftigkeit
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat die deutsche Gesellschaft über die Jahrzehnte hinweg eine wechselhafte erinnerungskulturelle Entwicklung genommen. Sie hat dabei die Fähigkeit bewiesen, etablierte Formen des historischen Selbstverständnisses immer wieder selbstreflexiv zu hinterfragen und gegebenenfalls zu regulieren. Das wurde auch außerhalb Deutschlands mit großer Anerkennung registriert. Kürzlich meinte dagegen zum Beispiel der liberale polnische Oppositionsführer und ehemalige EU-Ratspräsident Donald Tusk, man könne den Eindruck gewinnen, dass Deutschland die falschen Lehren aus der Geschichte gezogen habe.
Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wird deutlich, dass die deutsche Erinnerungskultur immer noch von einer starken Selbstbezogenheit bestimmt ist. Zu wenig sind die Kriegserinnerungen der europäischen Nachbarn und ehemaligen Kriegsgegner wahr- und ernstgenommen worden. Zu wenig sind sie in eine auf sich selbst gerichtete Beschäftigung mit der Geschichte eingegangen und konnten hier eine regulative Wirkung entfalten. In der Folge davon zeigt sich heute gegenüber der Ukraine vielfach eine ebenso zurückhaltende und zaghafte wie selbstgefällige und überhebliche Haltung. Sie wird der existenziellen Bedrohung der Ukraine durch Russland ebenso wenig gerecht wie der damit verbundenen Gefährdung der Demokratie in Europa, für deren Bestand auch die deutsche Erinnerungskultur eine Mitverantwortung trägt.
Der Text ist zuerst erschienen auf der Website »Geschichte der Gegenwart«, https://geschichtedergegenwart.ch/erinnerungskultur-in-der-zeitenwende-die-deutsche-weltkriegserinnerung-und-der-ukrainekrieg/. Wir danken dem Autoren für die Erlaubnis zum Nachdruck.