Stepan Bandera und die »Organisation ukrainischer Nationalisten« (OUN)
Stepan Bandera wurde 1909 als Sohn eines griechisch-katholischen Pfarrers im damals noch österreichischen Galizien geboren. Bereits Anfang der 1930er Jahre stieg er, während er an Polytechnischen Hochschule in Lemberg, das seit 1918 wieder polnisch war, studierte, zum Landesleiter der »Organisation ukrainischer Nationalisten« (OUN) in Polen auf und unterstand nur der OUN-Führung im Exil unter Jewhen Konowalez. Die OUN kämpfte im Untergrund, darunter mit Anschlägen gegen Vertreter des polnischen Staates, für die ukrainische Unabhängigkeit. Sie war eine vor allem unter der ukrainischen Jugend verbreitete illegale Organisation, die am Vorabend des Zweiten Weltkriegs mehrere tausend Mitglieder hatte.
Im Sommer 1934 wurde Bandera verhaftet, als der polnischen Polizei nach dem Mord an Innenminister Bronisław Pieracki umfangreiche Festnahmen von OUN-Mitgliedern gelangen. Erst im September 1939 nach dem deutschen Angriff auf Polen konnte er, wie viele andere OUN-Angehörige auch, wieder aus dem Gefängnis entkommen.
Die OUN hatte den deutschen Angriff auf Polen im September 1939 unterstützt, da sie hoffte, mit deutscher Hilfe in den mehrheitlich ukrainischen Gebieten im Südosten Polens einen ukrainischen Staat errichten zu können. Durch den Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 waren diese Hoffnungen allerdings bitter enttäuscht worden, da die ukrainischen Gebiete Polens von der Sowjetunion besetzt wurden. Aus Sicht der OUN war die Sowjetunion der bedrohlichste Feind der Ukrainer. Dafür spielten die Erinnerung an den Holodomor und die Repressionen der 1930er Jahre eine Rolle, aber auch die Befürchtung, dass schließlich mit der sowjetischen Herrschaft eine erneute sprachliche und kulturelle Russifizierung einhergehen würde.
In den folgenden zwei Jahren bis in die Anfangsphase des deutsch-sowjetischen Kriegs hatte Bandera den größten politischen Einfluss. Er stand an der Spitze einer Gruppe jüngerer Aktivisten der OUN im deutsch besetzten Generalgouvernement, die eine Spaltung auslösten. Damit verlor die OUN-Führung unter Konowalez’ Nachfolger, Andrij Melnyk, die Unterstützung der weit überwiegenden Mehrheit der OUN-Aktivisten im Generalgouvernement und der Organisationsstrukturen in den sowjetisch besetzten Gebieten. Die Ursache der Spaltung lag neben älteren Konflikten, die noch aus der ersten Hälfte der 1930er Jahre stammten, vor allem in der Frage, ob die OUN in den sowjetisch besetzten Gebieten einen aktiven Kampf beginnen sollte. Bandera und seine Anhänger traten dafür ein, während Melnyk dies in Übereinstimmung mit den Deutschen, die ihr Bündnis mit der Sowjetunion nicht gefährden wollten, ablehnte.
Die »Abwehr«, der militärische Nachrichtendienst der Wehrmacht, nahm eine Zusammenarbeit mit der Bandera-OUN erst im Frühjahr 1941 in den Monaten vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion auf. Nur sie verfügte über starke Untergrundstrukturen in den sowjetischen Gebieten. Das Interesse der Wehrmacht an dieser Zusammenarbeit war zum einen, dass die OUN Informationen aus den sowjetischen Gebieten Informationen liefern, vor allem aber, dass sie für den Zeitpunkt des deutschen Angriffs einen Aufstand im sowjetischen Hinterland vorbereiten sollte. Zu beidem war nur die Bandera-OUN in der Lage, nicht aber die Melnyk-Gruppe.
Beide Teile der OUN und auch weitere ukrainische Exil-Gruppen unterstützten den deutschen Angriff auf die Sowjetunion, da sie erneut hofften, mit deutscher Unterstützung einen ukrainischen Staat gründen zu können. Unmittelbar nach der Besetzung der westukrainischen Hauptstadt Lemberg erklärte Banderas Stellvertreter Jaroslaw Stezko am 30. Juni 1941 hier die Gründung des ukrainischen Staats und die Einsetzung einer ukrainischen Regierung. Gleichzeitig initiierte die OUN an vielen Orten ukrainische Verwaltungen und lokale Milizen, die sie als Grundlage für eine ukrainische Staatsbildung ansah. Die Deutschen lehnten die Staatsgründung jedoch ab. Als Bandera und Stezko sich weigerten, sie zurückzunehmen, wurden sie am 5. bzw. 9. Juli verhaftet, nach Berlin gebracht und später bis in den Herbst 1944 in einer Sonderabteilung des KZ Sachsenhausen inhaftiert. In den Wochen nach ihrer Festnahme versuchten Bandera und Stezko die Deutschen weiterhin davon zu überzeugen, ihre Politik gegenüber der Ukraine zu ändern. Hitler hatte jedoch bereits am 16. Juli 1941 entschieden, dass es keinen ukrainischen Staat geben sollte, sondern dass die ukrainischen Territorien unter direkte deutsche Herrschaft gestellt und einem brutalen Regime von Unterdrückung und Ausbeutung unterworfen werden sollten.
Die Deutschen begannen nun, ihnen bekannte Angehörige der OUN aus den lokalen Verwaltungen und einheimischen Polizeieinheiten in der Ukraine zu entfernen. Im Herbst folgten umfangreiche Festnahmen unter Mitgliedern der Bandera-OUN, soweit sie den Deutschen bekannt waren. Viele wurden in Konzentrationslager eingewiesen. Im Reichskommissariat Ukraine wurden zahlreiche OUN-Mitglieder, die in die Hände der deutschen Sicherheitspolizei fielen, erschossen.
Die OUN sah gleichwohl in der Sowjetunion weiterhin den gefährlicheren Feind und zögerte deshalb, einen aktiven Kampf gegen die deutsche Okkupation zu beginnen. Mit einem aktiven, bewaffneten Widerstand begann sie erst Anfang 1943 im westukrainischen Wolhynien, nachdem sie hier gegen Ende 1942 die »Ukrainische Aufstands-Armee« (UPA) ins Leben gerufen hatte.
Ideologie und Verbrechen
Die Bandera-OUN war eine radikalnationalistische Organisation, die der Stärkung der eigenen Nation alle übrigen Werte unterordnete. Ob sie faschistisch war, ist unter Historikern umstritten und hängt auch davon ab, welche Definition von »Faschismus« herangezogen wird. Die OUN selbst übernahm diesen Begriff nicht, obwohl manche Mitglieder dafür eintraten. Sie gehörte aber ohne Zweifel zu den gewaltbereiten, radikalen nationalistischen Organisationen, die es in den 1930er Jahren in den meisten Ländern Europas gab und die auch faschistische Parteien einschlossen. Älteren Definitionen von Faschismus entsprach sie nicht. Neuere Definitionen, die vor allem auf Roger Griffins Arbeiten zurückgehen und die ideologischen Elemente gegenüber Organisationsstrukturen und politischer Praxis in den Mittelpunkt stellen, lassen sich jedoch auf die OUN anwenden. Die zeitweise Zusammenarbeit der OUN mit dem nationalsozialistischen Deutschland beruhte jedoch nicht auf einer durchaus vorhandenen ideologischen Nähe, sondern vor allem darauf, dass die OUN hoffte, mit deutscher Hilfe einen ukrainischen Staat gründen zu können.
Obwohl die Zusammenarbeit der OUN mit den Deutschen schon in den Wochen nach Kriegsbeginn endete, war sie in der Zeit der deutschen Okkupation für Massenverbrechen verantwortlich. Diese verübte sie jedoch, mit einigen Ausnahmen im Sommer 1941, nicht in deutschen Diensten, sondern als Teil ihres Kampfes für eine unabhängige Ukraine, der den deutschen Absichten für die Ukraine entgegenstand. Zu den Massenverbrechen der Bandera-OUN gehörten zum einen Morde während des Herrschaftswechsels im Sommer 1941 in der Westukraine. Kampfgruppen oder von der OUN ins Leben gerufene lokale Milizen ermordeten hier mehrere Tausend Personen, die sie für Unterstützer der Sowjets und ihrer Verbrechen in den vorherigen 21 Monaten der sowjetischen Herrschaft hielten. Vorwiegend fielen diesen Morden Juden zum Opfer. Das Stereotyp, das Juden Träger und Unterstützer des sowjetischen Regimes seien, war auch in der OUN weit verbreitet. Teilweise hatten diese Gewalttaten einen pogromartigen Charakter unter Beteiligung weiterer Einwohner, insbesondere in Orten, in denen in den Tagen zuvor sowjetische Massenmorde an Gefängnisinsassen stattgefunden hatten.
Das größte Verbrechen waren allerdings Morde an mindestens 60.000 Polen – manche Schätzungen nennen bis zu 100.000 Opfer – in den Jahren 1943/44 durch Einheiten der UPA. Sie standen mit dem Beginn des aktiven, bewaffneten Kampfes der UPA gegen die Deutschen Anfang 1943 in Verbindung. Morden der UPA fielen in dieser Zeit auch Juden zum Opfer, die bis dahin in Verstecken überlebt hatten. Zu dieser Ausweitung der Gewalt trug bei, dass sich der UPA im Frühjahr 1943 eine große Zahl aus deutschen Diensten desertierten einheimischen Polizisten anschlossen, die vorher in die deutschen Massenmorde an Juden in Wolhynien involviert gewesen waren.
Die OUN war, nachdem die Deutschen seit August 1941 systematischer begannen, OUN-Mitglieder aus der einheimischen Polizei zu entfernen, bestrebt, dort Angehörige ihrer Organisation zu halten, um Einfluss zu bewahren. In diesen einheimischen Polizeieinheiten waren auch die OUN-Mitglieder an Verbrechen des deutschen Okkupationsregimes beteiligt, darunter auch dem Holocaust. Die OUN versuchte nicht, diese Verbrechen oder die Beteiligung ihrer Mitglieder daran zu verhindern. Verbrechen der einheimischen Polizeieinheiten können jedoch auch nicht der OUN zugerechnet werden.
Bandera selbst trug eine Mitverantwortung für die Verbrechen im Sommer 1941, auch wenn er nicht unmittelbar beteiligt war, da er die OUN zu dieser Zeit führte. Die Morde gingen zu einem großen Teil aus Instruktionen für den lokalen Machtwechsel hervor, auch wenn es keine konkreten Anweisungen für Massenmorde an Juden gab. 1943 befand er sich hingegen schon mehr als eineinhalb Jahre in Haft und hatte keinen direkten Einfluss mehr auf die Geschehnisse. Bandera und seine Anhänger hatten jedoch in der Vorkriegszeit zu einer weiteren Radikalisierung des Nationalismus der OUN beigetragen. Der von ihnen angestrebte Nationalstaat sollte ethnisch möglichst homogen sein und »feindliche Nationalitäten« wie Polen und Juden keine gleichen Rechte genießen, sondern verdrängt werden.
Die weit verbreitete Vorstellung, Bandera und die OUN hätten die ukrainische Kollaboration mit den Deutschen verkörpert und Massenverbrechen in ihren Diensten verübt, ist jedoch offensichtlich falsch. Andere, weniger bedeutende ukrainische Gruppierungen standen den Deutschen näher als die Bandera-OUN. Es gab, wie in allen besetzten Ländern, auch in der Ukraine eine einheimische Lokalverwaltung und Polizeikräfte. Mit Ausnahme der ersten Kriegswochen waren dies jedoch keine Organe der OUN.
Der antisowjetische Widerstand
Der Kampf, auf den sich die UPA vor allem vorbereitet hatte, begann mit der Rückkehr der sowjetischen Armee in die westlichen Gebiete der Ukraine 1944. Die OUN hatte auch in den vorhergehenden Jahren weiterhin die Sowjetunion als die größte Bedrohung für die Ukraine betrachtet und deshalb gezögert, einen aktiven Kampf gegen die deutsche Besatzung zu beginnen. Der bewaffnete Widerstand gegen die Erneuerung der sowjetischen Herrschaft genoss, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem sowjetischen Regime in den Jahren 1939–41, breite Unterstützung in der Bevölkerung und ließ die Reihen der UPA beträchtlich anwachsen. Die Kämpfe forderten viele Zehntausend Opfer, bevor die UPA schließlich Anfang der 1950er Jahre besiegt war. Mehrere hunderttausend Ukrainer wurden in den Lagern des GULag inhaftiert oder ins Innere der Sowjetunion deportiert.
Die OUN stellte Bandera auch nach seiner Verhaftung im Juli 1941 als ihren Anführer heraus. Die UPA-Angehörigen wurden umgangssprachlich als »banderiwzi« (auf Ukrainisch) oder »banderowzy« (auf Russisch) bezeichnet. Die sowjetische Propaganda nutzte den Vorwurf, die ukrainischen Nationalisten seien faschistische deutsche Kollaborateure, um die brutale Unterdrückung des ukrainischen Widerstands zu rechtfertigen. Demgegenüber war es nach der militärischen Niederlage der UPA vor allem in der Westukraine ein Akt des fortgesetzten Widerstands gegen die sowjetische Herrschaft, ein positives Bild der antisowjetischen Aufständischen zu bewahren. Auf diese Identifikation Banderas mit dem ukrainischen Unabhängigkeitskampf und dem bewaffneten antisowjetischen Widerstand der UPA geht sein polarisiertes Bild in der Ukraine und in Russland zurück.
Stepan Bandera blieb nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Besatzungszonen und später der Bundesrepublik Deutschland. Er stand weiterhin an der Spitze der OUN und beanspruchte auch die Führung über die UPA. Er war hier jedoch nicht unumstritten. Dazu trug bei, dass er sich einer demokratischen Umorientierung, die die OUN – manche meinen nur nach außen hin – bereits 1943 ohne Banderas Beteiligung eingeleitet hatte, widersetzte. Die westlichen Staaten, insbesondere die USA, unterstützten in den ersten Nachkriegsjahren die UPA und verschiedene exilukrainische Gruppierungen. Die USA bevorzugten allerdings die Zusammenarbeit mit gemäßigteren Akteuren. Beides führte zu Konflikten und Abspaltungen in der Exil-OUN. Schließlich wurde Bandera im Oktober 1959 in München von einem KGB-Agenten ermordet. Damit wurde er zu einer Art Märtyrer im Kampf gegen die sowjetische Unterdrückung der Ukraine. Gleichzeitig blieb er im ukrainischen Exil jedoch eine umstrittene Person.
Propaganda und Erinnerung
Die sowjetische Propaganda der Nachkriegszeit zeichnete ein Bild aller antisowjetischen nationalukrainischen Kräfte als faschistische Kollaborateure der Deutschen. Darauf geht zurück, dass Putin und viele russische Medien den Krieg gegen die Ukraine damit begründen, dass die Ukraine von »Nazis« beherrscht werde. Sowjetische Publikationen verwischten die Unterschiede zwischen den verschiedenen ukrainischen Gruppierungen, die den deutschen Angriff unterstützt hatten, und verschwieg oder vernebelte den Bruch zwischen der Bandera-OUN und den Deutschen nach den ersten Kriegswochen. Darüber hinaus zeigte sie die ukrainischen Nationalisten als vorwiegend von außen in deutschen Diensten ins Land gekommene Kräfte, die als brutale deutsche Henkersknechte das sowjetische und ukrainische Volk unterdrückt hätten und dann mit ihnen wieder aus dem Land vertrieben worden seien. Im westlichen Ausland würden sie nun ihre feindliche Tätigkeit in Diensten des amerikanischen und anderer Nachrichtendienste fortsetzen. Sie hätten keine wirkliche Unterstützung im ukrainischen Volk. Sowjetische Veröffentlichungen über den antisowjetischen ukrainischen Nationalismus hatten die klare Funktion, ein Feindbild zu zeichnen, das der Mobilisierung gegen seinen Einfluss in der sowjetischen Ukraine, der ukrainischen Diaspora und teilweise auch der weiteren internationalen Öffentlichkeit dienen sollte. Sie waren kein Beitrag zu einer wirklichen Diskussion des Problems der Zusammenarbeit von Ukrainern und anderen Einwohnern der Sowjetunion mit den Deutschen während der deutschen Okkupation und von Verbrechen der ukrainischen Nationalisten.
Erst mit der Unabhängigkeit Anfang der 1990er Jahre konnte in der Ukraine öffentlich an den antisowjetischen Widerstand erinnert werden, ohne die sowjetischen Propagandamotive zu wiederholen. Dabei stießen nun die nationale, vorwiegend in der Westukraine verankerte Sichtweise und das sowjetische Feindbild des ukrainischen Nationalismus aufeinander, das vor allem im russischsprachigen und stärker sowjetisch geprägten Osten der Ukraine einflussreich war. Zum umstrittenen Symbol dieses Erinnerungskonflikts wurde Stepan Bandera. Für die einen verkörperte er den ukrainischen Unabhängigkeitskampf und den Widerstand der UPA gegen die sowjetische Herrschaft und für die anderen den »ukrainischen Faschismus« und die Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland.
Diese Gegensätze verschärften sich im Jahrzehnt zwischen 2004 und 2014. Sie waren Teil einer starken politischen Polarisierung in dieser Zeit zwischen Parteien und Politikern, die eine Stärkung der ukrainischen Unabhängigkeit gegenüber Russland und eine Westorientierung anstrebten, und stärker in sowjetischen Traditionen stehenden, russisch orientierten Kräften. Es war vor allem dieser Kontext, in dem in der Westukraine Bandera-Denkmäler und andere Formen der Ehrung entstanden. In der gleichen Zeit wurden im Osten und Süden der Ukraine Denkmäler zur Erinnerung an Angehörige der sowjetischen Sicherheitsorgane und anderer Opfer der UPA errichtet.
2013/14 benutzten die Anhänger des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch und Russland das Feindbild des »ukrainischen Faschismus« gegen den Euromajdan, zur Rechtfertigung der Besetzung der Krim und vor allem zur Auslösung des Kriegs im Donbas. In den folgenden Jahren diente es Russland dazu, die Unterstützung der Separatistenrepubliken im Donbas zu rechtfertigen und die Ukraine als einen gescheiterten Staat darzustellen. Mit Begriffen und Motiven, die aus dem Fundus sowjetischer Darstellungen des »Großen Vaterländischen Kriegs« stammten, hielten russische Medien die Vorstellung einer Bedrohung durch die Ukraine aufrecht, indem sie vor Massenmorden und einem »Genozid« an den russischsprachigen Bewohnern des Donbas warnten. Solche Motive wiederholte Putin im Februar dieses Jahres, um den Angriff auf die Ukraine zu begründen.
Die propagandistische Instrumentalisierung hat allerdings auch dazu geführt, dass das aus sowjetischer Zeit stammende Motiv des »ukrainischen Faschismus« in der Ukraine seit 2014 weitgehend diskreditiert ist. Die Folge ist jedoch keine Stärkung des Bandera-Kults, auch wenn in den letzten Jahren in manchen Orten der Zentral- und Ostukraine Straßen nach Bandera benannt worden sind, sondern die abnehmende Politisierung des Themas hat dazu beigetragen, einen größeren Raum für eine differenzierte Diskussion zu schaffen. Befürchtungen, ein 2015 verabschiedetes Gesetz, das den Angehörigen von OUN und UPA den Status von Kämpfern für die Unabhängigkeit der Ukraine zusprach, könne benutzt werden, um kritische Forschungen und Debatten zu unterbinden, haben sich nicht bestätigt.
Fazit
Insgesamt herrschen in der Wahrnehmung Banderas und seiner Erinnerung in der Ukraine in der deutschen Öffentlichkeit zwei Missverständnisse vor. Zum einen gibt es eine falsche Deutung des Verhältnisses der Bandera-OUN zu den Deutschen während des Zweiten Weltkriegs, die in mancher Hinsicht den Verfälschungen der in Russland bis heute fortwirkenden sowjetischen Propaganda ähnelt. Aus einer ideologischen Nähe folgte nicht, dass sie auch in den politischen Zielen übereinstimmten. Während die Bandera-OUN einen eigenständigen ukrainischen Staat anstrebte, errichteten die Deutschen in den besetzten Gebieten ein brutales Regime von Ausbeutung und Unterdrückung unter direkter deutscher Herrschaft. Bandera und die OUN verkörperten nicht die ukrainische Kollaboration, sondern das Verhältnis zwischen den Deutschen und ihnen war distanzierter und schließlich feindlicher als zwischen dem NS-Regime und anderen antisowjetischen ukrainischen Gruppierungen. Seit Anfang 1943 bekämpfte die Bandera-OUN die Deutschen aktiv.
Zum anderen wird in der deutschen Öffentlichkeit die Bandera-Verehrung in der Ukraine häufig als Beleg für die fehlende Auseinandersetzung mit der ukrainischen Kollaboration und für einen starken nationalistischen, rechtsextremen Einfluss in der Ukraine gesehen. Auch eine solche Deutung führt zu falschen Schlüssen, wenn nicht gleichzeitig berücksichtigt wird, dass die Erinnerungsgeschichte an die großen Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts in Osteuropa und insbesondere in der Ukraine komplizierter ist als die deutsche oder die westeuropäische. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Verbrechensgeschichte der OUN und der UPA ist in der Ukraine lange Zeit durch die sowjetische und später russische Instrumentalisierung des Vorwurfs des »ukrainischen Faschismus« blockiert worden.
Der russische Vorwurf des »ukrainischen Faschismus« diente in den vergangenen zwei Jahrzehnten einem imperialen Herrschaftsanspruch über die Ukraine. Im Bestreben, die eigene Geschichte und Unabhängigkeit dagegen zu verteidigen, fanden auch Belege über tatsächliche Verbrechen von OUN und UPA oft keinen Glauben. Das verhinderte nicht selten die Einsicht, dass die Ideologie und Praxis der OUN und Bandera als historische Person nicht als Vorbilder eines an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit orientierten Gemeinwesens taugen.
Tatsächlich hat der russische Krieg gegen die Ukraine nun aber mehr als deutlich gezeigt, dass die Gefahr eines neuen Faschismus nicht aus einer unkritischen Verehrung Banderas und der OUN in der Ukraine hervorgeht, sondern aus der fehlenden kritischen Auseinandersetzung mit russischen und sowjetischen imperialen Herrschaft und sowjetischen Massenverbrechen in Russland.
Eine kürzere, frühere Fassung dieses Beitrags erschien unter dem Titel »Faschist oder Held?«, Süddeutsche Zeitung, 03.06.2022, S. 11.