Einleitung
Angesichts des andauernden russischen Angriffskriegs ist die humanitäre Situation in der Ukraine bedrückend: Insgesamt sind 17,7 Millionen Menschen im Land in Not, schätzt die UN. Etwa ein Drittel der Ukrainer:innen mussten ihren Heimatort verlassen – knapp sieben Millionen Menschen wurden innerhalb des Landes vertrieben, weitere 7,3 Millionen haben Zuflucht in den europäischen Nachbarländern gesucht. Laut ukrainischem Wirtschaftsministerium haben 5 Millionen der Binnengeflüchteten ihre Arbeit verloren. Von den Binnengeflüchteten sind knapp eine Million derzeit in Sammelunterkünften, sogenannten »Collective Centers«, untergebracht.
Die UNHCR geht zudem von etwa 13 Millionen Ukrainer:innen aus, die in unsicheren Orten gestrandet sind und diese aufgrund der Sicherheitslage und zerstörten Infrastruktur, kaputten Brücken und Straßen, nicht verlassen können. Dementsprechend schwer ist es diese zu erreichen und zahlenmäßig zu erfassen.
Für viele Ukrainer:innen ist es nicht die erste Flucht im eigenen Land: Das ukrainische Ministerium für Sozialpolitik registrierte bereits vor Februar 2022 1,4 Millionen Binnenvertriebene, die infolge der Annexion der Krim und den Kämpfen im Donbas bereits nach 2014 geflohen waren. Viele davon hatten sich in den letzten acht Jahren eine neue Existenz in nun wieder umkämpften Gebieten aufgebaut – und wieder alles verloren. Die folgende Analyse beruht auf der Expertise und professionellen Erfahrung des Autors in der Ukraine, Publikationen humanitärer Organisationen, lokal arbeitender NGOs sowie mehreren Interviews, die der Autor mit diversen lokalen sowie internationalen Akteuren der humanitären Arbeit vor Ort geführt hat.
Unterbringung und Versorgung von Binnengeflüchteten
Die temporäre Unterbringung in den »Collective Centers« ist häufig die erste Unterkunftsmöglichkeit für Binnengeflüchtete. In einer Turnhalle der Lwiwer Polytechnischen Universität befindet sich solch ein Zentrum. Zwei Frauen, die im September aus der unter regelmäßigem Beschuss stehenden südostukrainischen Großstadt Saporischschja mit einem Evakuierungszug hier angekommen und bereits im Zug stark gefroren haben, müssen nun auch in der Turnhalle frieren, berichten sie. Denn bereits in den ersten Septembertagen gab es einen Temperatursturz in der westukrainischen Stadt, als wäre ein Schalter über Nacht umgelegt worden, der die Sommerzeit abrupt beendete. Freiwillige helfen den beiden Frauen nun, sich aufzuwärmen.
Acht Monate nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine kommen nach wie vor drei Evakuierungszüge täglich in Lwiw an und bringen etwa 200 Menschen aus den ostukrainischen Gebieten (Stand 23.10.) in den Westen des Landes. Dazu kommen laut Lwiwer Freiwilligen noch jeden Tag bis zu 100 Menschen in Lwiw an, die mit Bussen aus dem Südosten des Landes anreisen, etwa aus den Oblasten Odesa und den umkämpften Regionen Mykolajiw und Saporischschja. Etwa die Hälfte der Fliehenden verlässt daraufhin die Ukraine in Richtung der europäischen Nachbarländer. Teilweise begleiten Freiwillige die Geflüchteten vom Lwiwer Hauptbahnhof zu den weiteren Abfahrtsorten.
Für einen Teil derer, die nicht weiterziehen, werden die Hallen der Sportfakultät des Lwiwer Polytechnikums im Stryjskyj-Park, südlich des Stadtzentrums, erster Anlaufpunkt. »Jeden Tag kommen etwa 30 neue Menschen bei uns an«, erzählt die 20-jährige Marija Iwanus, Psychologiestudentin am Polytechnikum. Sie unterstützt als Freiwillige seit dem ersten Tag der Invasion Binnengeflüchtete in der Stadt, zuerst in der psychologischen Krisenbetreuung, nun als Freiwilligen-Koordinatorin der Polytechnischen Universität und der Studierendenvereinigung »Student Republic«.
In den ersten Kriegswochen stellte die Polytechnische Universität, deren Gebäude über die Stadt verteilt sind, einen Großteil ihrer Räumlichkeiten zur Verfügung. Ende März konnten allein in den Räumen dieser Universität bis zu 3.000 Menschen zeitweise untergebracht waren. Im Oktober werden die Geflüchteten nur noch in den Sportgebäuden im Park untergebracht. Dort sind es noch ungefähr 400 Menschen, »aber wir erwarten in den kommenden Wochen und Monaten wieder einen deutlichen Anstieg«, prognostiziert Iwanus. Bis zu 1.000 Menschen seien realistisch.
Wie sämtliche Sammelunterkünfte in der Ukraine war auch die im Stryjskyj-Park nur als temporäre Lösung vorgesehen, um den ersten Ansturm an Fliehenden aufzufangen (zum Problem der Unterbringung von Binnengeflüchteten und der Wohnungsnot siehe auch Ukraine-Analysen 271). Ein Großteil dieser Unterkünfte, die die Städte und Kommunen schnell für Geflüchtete bereitstellen konnten, waren Bildungseinrichtungen: entweder Universitätsgebäude, noch häufiger aber Schulen und Kindergärten. Die meisten der Binnenvertriebenen aus dem Osten und Südosten des Landes versuchen, individuelle Unterkünfte für sich und ihre Familien zu finden. Einige kommen zeitweise auch bei anderen Familien, verstreut über das ganze Land, unter. Doch mit den verstreichenden Kriegsmonaten wird deutlich, dass einige Leute sich statt kurzfristig nun über viele Wochen in den Sammelunterkünften aufhalten – und vermutlich sogar die kommenden Wintermonate dort verbringen werden.
Herausforderungen der »Winterization«
In Reaktion auf die humanitäre Krise im ganzen Land bauen zahlreiche ukrainische und internationale humanitäre Akteure ihre Arbeit in der Ukraine aus. Die Hauptlast der humanitären Arbeit trugen von Anfang an lokale NGOs sowie zahlreiche Freiwilligengruppen, die sich oftmals spontan formierten und zumeist nie mit humanitärer Hilfe befasst haben. Diese zivilgesellschaftlichen Akteure sind mehrheitlich seit Monaten für Lieferungen humanitärer Güter oder Evakuierungen aus dem Gebiet der aktiven Kampfhandlungen verantwortlich oder helfen mit eigenem Geld und ihrer Arbeitskraft bei der Reparatur zerstörter Häuser. Ein Beispiel dafür ist das Projekt »District #1«, das vor dem Krieg ein lokales Urbanisierungsprojekt im historischen Zentrum Kyjiws war, nun aber mit zahlreichen Freiwilligen Wiederaufbauprojekte weit über die Stadtgrenzen hinaus betreibt. Oder die Freiwilligen der Organisation Dobrobat, die in befreiten Gebieten und anderen Orten, die schwer unter russischer Artillerie gelitten haben, Häuser, Dächer und Wohnungen reparieren und wieder aufbauen.
Das wichtigste Stichwort, unter dem aktuell diverse humanitäre Akteure bereits seit dem späten Frühjahr ihr Krisenmanagement für die Wintermonate vorbereiten, lautet »Winterization«. Unter diesem Sammelbegriff werden in Krisen-, Kriegs- und Katastrophenkontexten sämtliche Arten der Vorbereitung für die Wintermonate subsumiert. Schätzungen der Vereinten Nationen und der humanitären Organisationen im Land zufolge werden in der Ukraine 1,7 Millionen Menschen Unterstützung bei der Bewältigung der Wintermonate brauchen.
Kalte Winter sind in der Ukraine die Regel. Das Klima in der Ukraine ist überwiegend gemäßigt kontinental, Wintertage bei denen die Temperatur bis auf −20 Grad Celsius rutscht sind nicht ungewöhnlich. Im Schnitt sind die Regionen Sumy, Tschernihiw, der Norden von Charkiw und Luhansk am stärksten von Kältewellen betroffen. In der Vergangenheit konnten solche Kältewellen in der Ukraine zu Hunderten von Toten führen. Da in den ostukrainischen Regionen mitunter die schwersten Kriegshandlungen stattfanden und weiterhin stattfinden, konnte man mit der Vorbereitung auf diesen Winter gar nicht früh genug anfangen.
Planung der humanitären Akteure
Noch im Juni veröffentlichte der Shelter Cluster der Ukraine, in dem internationale und lokale Organisationen, in enger Abstimmung mit der ukrainischen Regierung, ihre Aktivitäten im Bereich Winterization koordinieren, den ersten Entwurf für eine Strategie für die Winterarbeit, die im September noch einmal umfassend aktualisiert wurde. Neben der Ausstattung von Bedürftigen mit Haushaltsgeräten und Winterkleidung – zum Beispiel mit Winterjacken und -schuhen, Wärmedecken und Unterwäsche, mobilen Heizträgern und Thermo-Bodenmatten – stehen die Renovierung von Sammelunterkünften und anderen bewohnbaren Gebäuden, um sie winterfest zu machen, sowie die direkte finanzielle Unterstützung von Bedürftigen im Fokus.
Durch die flächenmäßige Größe der Ukraine und die regional variierende Intensität der Kampfhandlungen unterscheiden sich auch die Bedarfslagen der Bedürftigen im Land. Die meisten Gebiete im Westen des Landes gelten als deutlich sicherer als der Osten. Die meisten Collective Centers befinden sich demnach im Westen und Zentrum des Landes. In westukrainischen Ballungsräumen wie Lwiw, aber auch beispielsweise Iwano-Frankiwsk oder Tscherniwzi, sind durch den Ansturm von Binnengeflüchteten und die dadurch stark gestiegene Nachfrage nach Wohnraum die Wohnungspreise in die Höhe geschossen – was den Auszug aus den Sammelunterkünften für besonders vulnerable Menschen massiv erschwert.
Nach der Befreiung der Kyjiwer Region kehrten ab April 2022 viele Binnengeflüchtete wieder zurück in die Hauptstadt, was den Wohnungsmarkt in der Westukraine etwas entlastete. Nach wie vor bleiben die Durchschnittsmieten allerdings in diesen Großstädten für ukrainische Verhältnisse vergleichsweise hoch, weswegen ein gewichtiger Teil der humanitären Unterstützung in der Ukraine in die Deckung von Miet- und Nebenkosten für den Winter fließen wird. Denn Preissteigerungen und horrende Nebenkostenabrechnungen erwarten alle Menschen im Land.
Im Nordosten, Osten und Südosten der Ukraine fokussieren sich humanitäre Akteure vor allem auf kürzlich befreite Gebiete und schwer zugängliche Siedlungen. In diesen werden Häuser und Wohnungen, die zum Beispiel durch russischen Raketen- oder Artilleriebeschuss beschädigt worden sind, repariert sowie Reparaturarbeiten von generell schlecht isolierten Häusern und Wohnungen durchgeführt. Um angesichts des enormen Bedarfs möglichst viele Menschen zu erreichen, führen zahlreiche humanitäre Organisationen Cash-Assistance-Projekte für Bedürftige durch. Hilfsbedürftige sollen mit diesem Geld lebensnotwendige Mittel für den Winter nach eigenem Bedarfsermessen erwerben oder damit einen Teil der Miet- und Nebenkosten für ihre Unterkünfte besser stemmen.
Internationale Organisationen koordinieren sowohl miteinander als auch in Absprache mit der ukrainischen Regierung die Logistik und Verteilung von Kohle, Feuerholz und anderen Brennstoffen, vor allem für entlegene, ländliche Ortschaften. In Dörfern oder Siedlungen, wo ein Großteil der Menschen auf Subsistenzwirtschaft angewiesen ist, helfen humanitäre Akteure, Freiwillige und lokale NGOs mit der Renovierung von Viehställen. Dadurch soll die Ernährungssicherheit der Betroffenen nicht nur kurzfristig gewährleistet werden, sondern auch eine schnelle wirtschaftliche Erholung für die privaten Haushalte nach dem Winter ermöglicht werden.
Energie- und Wärmeversorgung gezielt unter Beschuss
Eine der größten Gefahren sowohl für die Energieversorgung von Millionen Menschen wie auch die Sicherheit des Landes bereitet der anhaltende systematische russische Beschuss von ukrainischen Wärme- und Stromkraftwerken im ganzen Land. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte bereits Anfang Juni in einer seiner täglichen Abendansprachen angekündigt, dass dieser Winter der schwierigste Winter in der Geschichte der unabhängigen Ukraine zu werden drohe.
Im Oktober hat Russland die gezielten Angriffe noch einmal deutlich intensiviert: Mitte Oktober twitterte Präsident Selenskyj, dass durch russische Luftangriffe 30 Prozent der Energieinfrastruktur – wie unter anderem Kraftwerke, Stromtrassen, Umspannwerke – der Ukraine beschädigt seien. Seitdem kommt es regelmäßig zu Stromausfällen im ganzen Land. Infolge der russischen Luftangriffe am 22.10. blieben zeitweise etwa 1,5 Millionen Ukrainer:innen ohne Strom. Nach den schweren Angriffen am 31.10. war der Zugang zu Strom und Wasser für mehrere Millionen Menschen im ganzen Land eingeschränkt, da Wasser- und Stromversorgung eng miteinander verbunden sind. In der Hauptstadt Kyjiw blieben 80 Prozent der Haushalte am 31. Oktober ohne Wasserversorgung. Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen sowie die Menschenrechtsorganisation Amnesty International bezeichneten diese Form des russischen Terrors der Zivilbevölkerung als Kriegsverbrechen.
Doch bereits vor den gezielten Angriffen auf die Energie- und Wärmenetze im Oktober fehlte Hunderttausenden von Menschen in der Ukraine, vor allem entlang der Gebiete aktiver Kampfhandlungen, Zugang zu Strom und Gas. Bereits zwischen dem 24. Februar und Anfang Juli 2022 wurden mehr als 15 größere kriegsbedingte Ausfälle im Wärmeversorgungsnetz registriert. Die größten Schäden wurden im Osten festgestellt, unter anderem in den Regionen Donezk, Luhansk, Dnipropetrowsk und Charkiw, aber auch in den Regionen Tschernihiw und Poltawa.
Angriffe auf die Stromversorgung haben durch die technische Vernetzung nicht nur unmittelbaren Einfluss auf die Wasserversorgung, sondern auch auf die Wärme- und Heizinfrastruktur der Städte und Gemeinden. Darüber hinaus können Stromausfälle zu Unterbrechungen der Stromversorgung in Kohlebergwerken oder Kläranlagen führen und auf diese Weise Schadstoffe in die Umwelt abführen. Neben Stromausfällen besteht das Risiko aber auch direkter Angriffe auf die Wasserversorgung als Teil der kritischen Infrastruktur: Sollte Russland, wie derzeit in ukrainischen und westlichen Sicherheitskreisen angenommen wird, das Wasserkraftwerk Kachowka in der Region Cherson sprengen, würde das nicht nur zur Flutung größerer Teile dieser ukrainischen Region, inklusive der Stadt Cherson, führen, sondern zu katastrophalen Folgen für Bewohner:innen, Flora und Fauna der gesamten Schwarzmeerregion.
In Anbetracht der immer fragiler werdenden Stromversorgung werden humanitäre Akteure nun wohl noch stärker neue Optionen entwickeln müssen, wie die Wasserversorgung von Menschen gesichert werden kann, vor allem mit Trinkwasser. Und dabei müssen sie auch im Blick behalten, dass die Wasserqualität und -versorgung in der hochindustrialisierten Region Donezk bereits vor der Invasion im Februar 2022 marode war. In Städten wie Slowjansk waren in vielen Wohnungen der Stadt regelmäßige Wasserausfälle oder Rohrbrüche die Regel. Beschädigte und veraltete Rohre in den Gebäuden drohen in Städten wie Slowjansk und Kramatorsk in diesem Winter erst recht einzufrieren und zu brechen.
Jewhen Braschko, Leiter und Ko-Gründer der ukrainischen NGO »Shtuka«, beobachtet die ständigen, alle paar Tage auftretenden Ausfälle der Strom- und Wasserversorgung in seiner Heimatstadt Myrnohrad im ukrainisch kontrollierten Teil der Region Donezk. »Im ganzen Osten des Landes ist die Energieversorgung in diesem Winter ein riesiges Problem«, sagt Braschko. »Die Menschen brauchen deswegen schnellstmöglich Wärmeträger, mit denen sie durch den Winter kommen können und Generatoren, mit denen sie ihre Stromversorgung gewährleisten können.«
Zentralisierte Heizsysteme sind weitverbreitet – und problematisch
Das Team der in der Region Donezk gegründeten und ansässigen NGO »Shtuka« organisiert seit den ersten Tagen der Invasion humanitäre Hilfe und versorgt Haushalte in Frontgebieten mit Lebensmitteln, Hygienepaketen und mobilen Generatoren. »Die Regionalverwaltungen versprechen zwar, die Gasversorgung in einigen Gebieten wieder instand zu bringen, das ändert aber an der Gesamtlage nichts«, so Braschko. »In den ostukrainischen Regionen werden viele Heizungen voraussichtlich kalt bleiben«, schätzt der Aktivist die Wintersituation ein.
Durch die Entwicklung der Front und vor allem den erfolgreichen ukrainischen Vorstoß in den Regionen Charkiw und Donezk, können nun immerhin Bewohnerinnen und Bewohner der Städte Kramatorsk, Slowjansk, Kostjantyniwka und Pokrowsk den Wiederanschluss ihrer Haushalte an die Gasversorgung wieder beantragen. In Haushalten, die näher an Kampfhandlungen liegen, probierten die dort verbliebenen Menschen teils selbstständig alternative Heizmöglichkeiten zu organisieren.
Die grundlegende Gasversorgung für die Ukraine wird in diesem Jahr zwar weiterhin knapp ausfallen, scheint aber zumindest mehr oder weniger gesichert, meint Serhij Makohon, Direktor des ukrainischen Gastnetzbetreibers (GTSOU). Wenn aber die Infrastruktur durch Kriegshandlungen weiter beschädigt wird, vor allem die zentralen Heizsysteme, hilft das wenig. In industriellen Ballungsräumen wie um die Stadt Charkiw herum sind zentralisierte Heizsysteme die Regel. Allein das Heizkraftwerk CHPP-5 generiert Wärme für ein Viertel der Einwohner:innen der Stadt Charkiw. Am 5. Juni musste es aufgrund von Schäden an Hochspannungsleitungen durch russischen Beschuss kurzzeitig abgestellt werden. Ein erneuter Ausfall im Winter wäre wesentlich dramatischer, als im Sommer.
Auch die Versorgung durch das russisch besetzte, größte ukrainische Atomkraftwerk in Enerhodar ist zwar nach wie vor gesichert. Die regelmäßigen Schusswechsel um das AKW herum beobachten aber sowohl die Ukrainer:innen wie auch die internationale Gemeinschaft mit Sorge. Der ukrainische Präsident bezeichnete die russische Energieerpressung als »nuklearen Terrorismus«. Rafael Grossi, Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), schätzte die Gefahr eines Unfalls am Atomkraftwerk in Enerhodar Anfang Oktober als sehr real ein.
Die Situation in den befreiten Gebieten
Seit September sind Braschko und sein Team verstärkt auch mit Aktivist:innen der befreiten Charkiwer Region in Kontakt, um für deren Kommunen humanitäre Hilfe zu organisieren. Die Bedarfslage sei dort im Wesentlichen der Donezker Region ähnlich, so Braschko. Zwar versuchen die regionale und die nationale Verwaltung, die Lieferketten in der Region wieder schnellstmöglich herzustellen. Außerhalb des Ballungszentrums Charkiw mangelt es allerdings nach wie vor an Lebensmitteln und Hygieneartikeln. So seien in Braschkos Heimatstadt Myrnohrad die Regale der Supermärkte seit Monaten leer, berichtet dieser.
Durch die Kriegshandlungen in der Region und den regelmäßigen Beschuss der Stadt ist die Belieferung der Stadt für viele kommerzielle Zulieferer zu gefährlich geworden. Regelmäßige Ausfälle des Mobilfunknetzwerks betreffen zwar vor allem die am stärksten umkämpften Gebiete der Ukraine, belasten aber die Menschen im gesamten Land, auch psychisch, und erhöhen das Arbeitsrisiko für Zulieferer in Frontgebieten.
Die Winterbedingungen werden die Situation noch verschärfen. Schnee und Glätte auf kaputtem Asphalt, sowie Minen und Blindgänger könnten in den kommenden Wochen und Monaten den Zugang zu den von Kampfhandlungen betroffenen Regionen noch stärker einschränken. Das führt dazu, dass selbst diejenigen in der Region Charkiw und anderen Teilen der Ost- und Südostukraine, die noch Ersparnisse haben oder ihre Arbeit noch nicht verloren haben, sich und ihre Familien schlichtweg durch den Mangel an verfügbaren Lebensmitteln nicht ausreichend versorgen können und so auf Lebensmittellieferungen durch internationale und ukrainische humanitäre Organisationen angewiesen sind, warnt Braschko.
Zudem offenbart sich, wie schon nach der Befreiung des Kyiwer Gebiets, auch in der Region Charkiw nach Abzug der russischen Truppen ein grauenhaftes Bild: Ukrainische Strafverfolgungsbehörden sowie ukrainische Menschenrechtsaktivist:innen dokumentieren Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen durch die russische Armee während der Besatzung. Die Polizei der Region Charkiw berichtet bislang von mindestens 22 Folterkammern in de-okkupierten Teilen der Region. Human Rights Watch dokumentierte allein in der Stadt Isjum in der Region, die sechs Monate lang von Russland besetzt gewesen ist, zahlreiche Fälle von systematischer Folter durch Elektroschocks, Waterboarding und andere schwere Misshandlungen. Die Stadtverwaltung berichtet, dass etwa 450 Gräber in Isjum derzeit geprüft werden, 80 Prozent der Infrastruktur zerstört wurden, inklusive des zentralen Heizsystems, und mehr als 1.000 Zivilist:innen während der Besatzung getötet worden seien.
Die Folgen der Menschenrechtsverbrechen treffen dabei auf die akute humanitäre Krise in den befreiten Gebieten, wo viele Menschen die Versorgung mit Essen, Wasser und Medizin fehlt. Die Region Charkiw ist dabei einerseits die Region, aus der derzeit die meisten vertriebenen und geflohenen Menschen registriert worden sind, zugleich aber auch eine der Regionen, in der sich die höchste Zahl an Binnengeflüchteten aufhält, vor allem aus anderen Städten der Region sowie den Nachbarregionen Donezk und Luhansk. Aus den letzteren beiden Regionen waren am 23. September offiziell 382.000 Menschen in der Region Charkiw registriert gewesen.
Hinzu kommt, dass russische Truppen bei ihrem Abzug viele Wälder vermint haben. Das ist ein akutes Problem in den im September befreiten Gebieten der Charkiwer Region, da es die Beschaffung von benötigtem Feuerholz erschwert und zu einer lebensbedrohlichen Angelegenheit macht.
Gesundheitssystem unter Druck
Der Krieg und die Energiekrise verstärken den Druck auf das Gesundheitssystem, wodurch die Verteilung von Hygieneprodukten und Medizin durch humanitäre Akteure und Freiwillige auch in den kommenden Monaten akut bleiben werden. Der Weltgesundheitsorganisation zufolge erreicht die Ukraine im Oktober einen erneuten Covid-Infektionshöchststand. Ähnlich wie in den Nachbarländern und auch in Deutschland wird für die Ukraine erwartet, dass dieser jetzt mit einem Höchststand and Grippeinfektionen zusammenfällt, einer sogenannten »Twindemie«– allerdings in einem durch den Krieg völlig überlasteten Gesundheitssystem.
Das ukrainische Gesundheitsministerium berichtete Ende September, dass das russische Militär 199 medizinische Einrichtungen in der Region beschädigt und weitere 19 vollständig zerstört habe. Maksym Chaustow zufolge, der für den Gesundheitsschutz in der Region verantwortlich ist, sind 95 Prozent der medizinischen Ausrüstung in der Region von russischen Soldaten entweder geraubt oder beschädigt worden. In befreiten Gebieten mangelt es akut an Medikamenten, unter anderem an lebensnotwendigem Insulin und Medizin für Kinder. Ende Oktober berichtete der stellvertretende ukrainische Gesundheitsminister Oleksij Jaremenko, dass 1077 Einrichtungen des Gesundheitssystems Kriegsschäden davongetragen hätten und 144 Krankenhäuser komplett zerstört seien.
In Städten wie Pokrowsk in der Region Donezk legt die Stadtverwaltung 2.000 Tonnen Kohle zurück für die Versorgung der kritischen Infrastruktur wie beispielsweise der Krankenhäuser, erklärte der stellvertretende Bürgermeister von Pokrowsk, Oleksandr Dobrowolskyj. Alle Krankenhäuser der Stadt seien auf alternative Heizkessel umgestellt worden, damit sie unabhängig von der Zentralheizung arbeiten können, so Dobrowolskyj. Ebenso bereitet sich die Stadt Slowjansk präventiv auf Stromausfälle vor, damit die Krankenhäuser auch dort unabhängig von der Zentralheizung sind. Diese Vorsichtsmaßnahmen erwiesen sich bereits als vorausschauend: In der Region Charkiw konnten Krankenhäuser nach den russischen Angriffen vom 31. Oktober ihren Betrieb nur mit Hilfe von Generatoren weiter fortführen.
Rückkehr ins Ungewisse
»Je mehr Menschen wir evakuieren, desto leichter wird die Heizperiode verlaufen«, sagte Dobrowolskyj im Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunksender Suspilne. Vor der Invasion lebten etwa 80.000 Menschen in Pokrowsk. Etwa die Hälfte der Bevölkerung ist nach wie vor in der Stadt, trotz der verpflichtenden Evakuierung aus der Region, zu der die Regierung bereits Ende Juli aufgerufen hatte.
Vor allem ältere Menschen oder Menschen mit Behinderungen können oder möchten ihre Heimatorte nicht verlassen. In einem Hintergrundgespräch erzählte mir ein Aktivist aus der Ostukraine, der Evakuierungen aus der Donezker und Luhansker Region mitorganisiert hat, dass sogar einige der von ihm und seinen Kolleg:innen unter Beschuss evakuierten Menschen nun wieder in die zerstörten und teilweise sogar besetzten Heimatorte zurückkehren. Die Gründe der Rückkehrenden seien dabei sehr individuell.
Häufig werden familiäre Verpflichtungen, das Zuneige gehen der Ersparnisse und Probleme bei der sozialen und wirtschaftlichen Integration in den aufnehmenden Regionen genannt. Da steigende Arbeitslosigkeit und grassierende Inflation – die im September 24,6 Prozent erreichte und im Laufe des Jahres voraussichtlich auf 30 Prozent steigen wird – nicht nur Binnengeflüchtete, sondern die gesamte ukrainische Gesellschaft betreffen, bahnen sich neue gesellschaftliche Konflikte an, die mittel- bis langfristig auch Projekte im Bereich der Stärkung der sozialen Kohäsion erfordern werden. Das Bruttosozialprodukt werde infolge des russischen Angriffskriegs und damit zusammenhängender logistischer Schwierigkeiten im Land, dem Rückgang des realen Haushaltseinkommens in diesem Jahr, der Zerstörung von Produktionsstäten und Fabriken sowie der Krise des traditionell starken Landwirtschaftssektors, um etwa 32 Prozent fallen, schätzt der Direktor der ukrainischen Nationalbank Andrij Pyschnij. Da in der Ukraine die meisten Menschen traditionell im Eigenheim wohnten, entfällt für viele Rückkehrer:innen zwar der Mietkostendruck. Die Risiken der lebensbedrohlichen Kampfhandlungen und akuten Versorgungsprobleme aber bleiben.
Fazit
Durch die allgemein unsichere Lage vor allem an der Front, sowie die schwierige Versorgung mit Wasser, Strom, Heizung, Lebensmitteln und medizinischen und hygienischen Produkten und anderen notwendigen Dingen befinden sich Millionen Menschen in der Ukraine in einer akuten humanitären Notlage. Ukrainische NGOs leisten nach wie vor den größten Teil der humanitären Arbeit. Daneben dokumentieren sie die Kriegsverbrechen, die russische Truppen in Gebieten unter ihrer Kontrolle verüben, damit den Opfern der Gewalt Gerechtigkeit widerfährt.
Obwohl ukrainische NGOs den Großteil dieser Arbeiten leisten, sind sie auch Monate nach Beginn der russischen Invasion nach wie vor deutlich schlechter finanziert als internationale NGOs – und sind, um ihre humanitäre Arbeit auch im Winter fortsetzen zu können, mehr denn je auf internationale Unterstützung angewiesen.