Kurz vor dem Beginn der russischen Invasion zeigten Umfragen, dass die Hälfte (!) der Ukrainerinnen und Ukrainer im Kriegsfall entweder kämpfen oder die Armee in jeder möglichen Form unterstützen würde (ein Fünftel der Befragten ging nicht davon aus, dass es Krieg geben würde, ein weiteres Fünftel gab an, im Kriegsfall würde man einfach versuchen zu überleben). Diese Daten waren offen zugänglich und auch weithin bekannt. Die Autoren dieses Artikels besuchten etwa wichtige westliche Botschaften in Kyjiw, um sie dort vorzustellen. Dennoch war der ukrainische Widerstand in vielen Hauptstädten eine Überraschung.
Wir gehen davon aus, dass die wichtigsten auf Russland bezogenen Veränderungen der öffentlichen Meinung in der Ukraine mit ihrer Entwicklung seit der Unabhängigkeit und vor allem seit 2014 zu tun haben. Entscheidend war die Bildung einer inklusiven »ukrainischen politischen Nation«, in der es keine Rolle spielt, welcher Ethnie man angehört und welches die eigene Sprache und Religion sind. Stattdessen gibt es ein Verständnis der Ukraine als Heimatland, das man zu verteidigen bereit ist. Der Kreml und viele Menschen im Westen haben dieses Phänomen nicht verstanden und geglaubt, wer Russisch spricht, sei prorussisch eingestellt und wolle sich Russland gar anschließen.
Eine DIF-Umfrage von August 2022 hat zeigt, dass mehr als 90 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer stolz auf ihre Staatsbürgerschaft sind. Ein weiterer wichtiger Trend seit dem Euromaidan ist die Dominanz der gesamtukrainischen über die regionale Identität. 72 Prozent der Befragten nannten als Hauptidentität Bürger:in der Ukraine zu sein, nur für sechs Prozent war die Hauptidentität, Einwohner:in einer Region und für 12 Prozent, Einwohner:in einer Stadt oder eines Ortes zu sein.
Ukrainischer Optimismus
Danach gefragt, ob das Land sich in die richtige Richtung entwickelt, haben Ukrainerinnen und Ukrainer traditionell mit nein geantwortet (ausgenommen jeweils eine kurze Zeit nach der Wahl eines neuen Präsidenten). Gleichzeitig blickten sie immer optimistisch in ihre Zukunft. Die legendäre DIF-Direktorin Iryna Bekeschkina erklärte das so: Als Folge jahrhundertelanger Fremdherrschaft misstrauen Ukrainerinnen und Ukrainer den Behörden und haben eine von einer anarchistischen Sichtweise geprägte politische Kultur. Zudem haben Redefreiheit, intensive politische Kämpfe im Land, Populismus und ein Pluralismus verschiedener Fernsehsender bewirkt, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer die Situation in ihrem Land zunehmend äußerst kritisch bewerten. Mit Blick auf ihre Zukunft verlassen sie sich allerdings auf sich selbst und ihren Individualismus und sind entsprechend optimistisch.
Zu Kriegsbeginn waren die Ukrainerinnen und Ukrainer der Ansicht, dass sich das Land in die richtige Richtung bewege. Den »gewöhnlichen Menschen« ist klar, dass sich der russische Autoritarismus im Abwärtstrend und sie selbst sich auf der richtigen Seite der Geschichte befinden.
Über 90 Prozent der Befragten und die Mehrheit in allen Regionen glaubt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. Von »Realisten« im Westen hören wir dagegen oft, die Ukrainerinnen und Ukrainer wären irgendwann ausgelaugt durch die Leiden des Krieges und würden dann »vernünftige Zugeständnisse« machen, etwa die Anerkennung der Annexion der Krim etc. Auch ein »Waffenstillstand koreanischen Typs« wurde vorgeschlagen.
In einer jüngeren Umfrage zum Krieg stellte das DIF eine provokante Frage: Sollen ukrainische Führungspersonen dem Kreml Zugeständnisse machen, wenn die westliche Hilfe reduziert oder ganz gestoppt wird? Nur ein Zehntel der Befragten stimmte zu, 60 Prozent antworteten mit Nein und 15 Prozent glaubten, unter diesen Umständen sollte der Konflikt eingefroren werden, ohne die russischen Bedingungen zu akzeptieren.
Eine weitere provokante Frage lautete: Soll mit Russland über ein Ende des Krieges verhandelt werden, um Leben von ukrainischen Armeeangehörigen, Zivilist:innen, Gefangenen und Deportierten zu retten? 23 Prozent bejahten diese Frage, für 60 Prozent sind Friedensverhandlungen allerdings unmöglich, selbst um Leben zu retten, da sich Russland an Verträge nicht halten würde.
Demokratie und Staat in Kriegszeiten
Trotz des beschriebenen traditionellen Misstrauens in sämtliche Autoritäten ist das Vertrauen der Ukrainerinnen und Ukrainer in staatliche wie auch soziale Institutionen während des Krieges gewachsen. Die größte positive »Vertrauensbilanz« (70 bis 90 Prozent) genießen: die Armee (mit 90 Prozent an erster Stelle); die Nationalgarde; »Freiwillige« (im ukrainischen Sprachgebrauch ist das die Zivilgesellschaft, die die Armee materiell unterstützt), militärische Freiwilligenverbände und der Präsident der Ukraine (70 Prozent). Am wenigsten vertrauen die Ukrainerinnen und Ukrainer traditionell politischen Parteien, der Justiz, dem Bankenwesen und dem Parlament. Die Vertrauensbilanzen dieser Institutionen sind die negativsten.
In der ukrainischen Gesellschaft gibt es einerseits die andauernde Forderung nach einer »starken Hand«, wobei diese während des Krieges nur noch von 58 Prozent erhoben wird, gegenüber 75 Prozent in den späten 2000er Jahren. Auf der anderen Seite erhält die Demokratie als bevorzugtes System in den aktuellen Kriegszeiten mit 64 Prozent die höchste Zustimmungsrate –14 Prozent der Befragten sind dagegen der Ansicht, dass »eine Autokratie unter bestimmten Bedingungen besser sein kann als eine Demokratie«. Womöglich beneiden einige westliche Gesellschaften die Ukraine angesichts dieser Umfrageergebnisse, die den demokratischen Werten neuen Auftrieb verleiht.
In Bezug auf das fortwährende Dilemma von Freiheit und Wohlstand zeigt die Umfrage vom August 2022, dass die Hälfte der Ukrainerinnen und Ukrainer bereit ist, für Freiheiten und garantierte Grundrechte ökonomische Schwierigkeiten in Kauf zu nehmen, während ein Drittel der Befragten für ein besseres staatliches Sozialsystem einige Freiheiten aufgeben würde.
Der Krieg hat eine enorme Energie der Zivilgesellschaft freigesetzt. Gemeinsam mit dem EU-Kandidatenstatus stärkt das den optimistischen Blick in die Zukunft der Ukraine.
Dieser Text basiert auf zwei landesweiten Face-to-Face-Befragungen, die das DIF im August (https://dif.org.ua/en/article/independence-day-of-ukraine-what-unites-ukrainians-and-how-we-see-victory-in-the-sixth-month-of-war) und Dezember 2022 (https://dif.org.ua/en/article/results-2022-under-the-blue-yellow-flag-of-freedom) durchgeführt hat. Befragt wurden 2.000 Personen.
Der theoretische Stichprobenfehler liegt nicht über 2,3 Prozent. Gleichzeitig sind durch den Krieg möglicherweise zusätzliche systematische Abweichungen zustande gekommen, hauptsächlich wegen der Evakuierung von Millionen Bürgerinnen und Bürgern. An der Front und in den besetzten Gebieten, vor allem im Donbas und auf der Krim, wurden die Umfragen nicht durchgeführt. Zur Diskussion um die Herausforderungen für und Aussagekraft von Meinungsumfragen im Krieg, siehe auch die letzte Ausgabe der Ukraine-Analysen (https://www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/278/).