Der innere Kampf: Korruption und Korruptionsbekämpfung als Hürde und Gradmesser für den EU-Beitritt der Ukraine

Von Eduard Klein (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen), Mattia Nelles (Berlin)

Zusammenfassung
Korruption wird in der Ukraine von vielen als der größte »innere Feind« angesehen, den es ebenso wie den aktuellen äußeren Feind zu besiegen gilt. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Antikorruptionsreformen durchgeführt. Aktuell werfen mehrere Korruptionsskandale jedoch die Frage nach der Wirksamkeit dieser Reformen auf. Vor allem im Hinblick auf den anvisierten EU-Beitritt und den Wiederaufbau nach Kriegsende, der mit enormen internationalen Geldern finanziert werden muss, muss die Ukraine den nach dem Maidan eingeschlagenen Reformkurs konsequent fortsetzen und vor allem die Justiz umfassend reformieren. Andernfalls droht nicht nur ein Vertrauensverlust der eigenen Bevölkerung, sondern auch der internationalen Gemeinschaft, auf die die Ukraine derzeit stärker denn je angewiesen ist.

Einleitung

Korruption, also der Missbrauch anvertrauter Macht zum persönlichen Vorteil, ist ein globales Problem. Die Ukraine zählt in Europa zu den korruptesten Ländern, wie der kürzlich erschienene Corruption Perceptions Index 2022 zeigt, wo das Land den 116 Platz einnimmt. Die jüngsten Korruptionsskandale gleich in zwei Ministerien scheinen das Bild von einem durchweg korrupten Land zu bestätigen. Dennoch greift diese Vorstellung zu kurz; in den letzten Jahren gab es durchaus eine positive Dynamik. Der Kampf gegen die Korruption war eine zentrale Forderung der Maidan-Proteste und der Revolution der Würde 2014. Seitdem wurden weitreichende Reformen umgesetzt und unabhängige und effektive Institutionen zur Korruptionsbekämpfung geschaffen. Diese ermitteln gegen einflussreiche Entscheidungsträger:innen, die früher als unantastbar galten.

Dennoch stellt der Kampf gegen die Korruption neben dem russischen Angriffskrieg die größte Herausforderung dar, vor allem vor dem Hintergrund des immensen Wiederaufbauprogramms nach dem Krieg, der viele Korruptionsopportunitäten schaffen wird. Daher gilt es jetzt, die Erfolge der neu geschaffenen Antikorruptionsinfrastruktur zu festigen und auf weitere Bereiche auszuweiten. Das gilt besonders für die bis heute zum Großteil unreformierte Justiz. Dass die Europäische Union in fünf ihrer sieben Konditionen für Beitrittsgespräche an die Ukraine Korruptionsbekämpfung bzw. Justizreformen thematisiert, ist daher kein Wunder. Damit wird die Erwartung sowohl seitens der EU als auch der ukrainischen Gesellschaft an die Politik verstärkt, sich auf den bisherigen Errungenschaften nicht auszuruhen, sondern sie weiter substanziell auszubauen.

Schaffung einer umfassenden Antikorruptionsinfrastruktur nach dem Maidan

Die weitverbreitete Korruption in der Ukraine hat viele Ursachen. Eine davon ist, dass es seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 keine starken rechtsstaatlichen Institutionen und keine Antikorruptionsinfrastruktur gab, die Korruption strafrechtlich verfolgten und ahndeten. Das änderte sich erst nach dem Euromaidan: Die landesweiten Proteste Ende 2013, die sich zunächst gegen Wiktor Janukowytschs Last-Minute Abkehr vom EU-Assoziierungsvertrag richteten, wandelten sich zunehmend in Proteste gegen das korrupte Janukowytsch-Regime. Nach dem Sturz des kleptokratischen Machthabers trafen die gesellschaftlichen Forderungen, endlich gegen Korruption vorzugehen, auf eine (zunächst) reformorientierte politische Führung unter Präsident Petro Poroschenko. Hinzu kam, dass die Ukraine wegen der russischen Annexion der Krim und dem Krieg im Donbas auf finanzielle Hilfen angewiesen war und die internationale Kreditgeber die Auszahlung von Krediten an Reformfortschritte knüpften. Dieses »window of opportunity« ermöglichte einen generellen Reformschub im Land. Dazu zählte auch der Aufbau einer umfassenden Antikorruptionsinfrastruktur, wie es sie in der Ukraine bis dahin nicht gegeben hatte (und in anderen Staaten des postsowjetischen Raums bis heute nicht gibt).

Der Grundstein für die Reformen wurde 2014 mit einem neuen Antikorruptionsgesetz gelegt. Die neuen Institutionen sollten weitgehend unabhängig von den bestehenden Behörden als »Inseln der Integrität« aufgebaut werden. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf integres neues Personal gelegt. Die Führungsspitze der neuen Behörden wurde in hoch kompetitiven, transparenten Auswahlverfahren mit Unterstützung (und Vetorecht) internationaler Expert:innen rekrutiert.

Das 2015 gegründete Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) spielt als Ermittlungsbehörde eine zentrale Rolle: Es untersucht solche Fälle der Korruption, in die ranghohe Staatsvertreter:innen verwickelt sind oder große Korruptionsfälle mit einem Schaden von mehr als einer Million Hrywnja. Das NABU hat bereits mehr als 850 Ermittlungsverfahren eingeleitet, auch gegen einflussreiche Personen, und setzt die Arbeit trotz der russischen Invasion unvermindert fort.

Die Anklageerhebung bei Ermittlungen, die in die Zuständigkeit des NABU fallen, erfolgt durch die ebenfalls 2015 geschaffene Sonderstaatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (SAPO), eine unabhängige Einheit innerhalb der Generalstaatsanwaltschaft. Während früher Korruptionsermittlungen oft in der selbst korruptionsanfälligen Staatsanwaltschaft versandeten, zeigen 380 Anklagen, dass die SAPO effektiv arbeitet.

Eine große Schwachstelle in der Antikorruptionsinfrastruktur war lange Zeit die Justiz, die trotz mehrerer Anläufe weitgehend unreformiert und damit extrem korruptionsanfällig blieb. Erst mit der Einrichtung des unabhängigen Obersten Antikorruptionsgerichts der Ukraine (HACC) im Jahr 2019, die nicht zuletzt auf massiven internationalen Druck hin erfolgte, wurde es möglich, dass die vom NABU untersuchten und von der SAPO zur Anklage gebrachten Fälle auch tatsächlich vor einem unabhängigen und kompetenten Gericht landeten. Das HACC fällte 2022 insgesamt 37 Urteile und verurteilte 33 Richter, Politiker und andere hochrangige Amtsträger.

Neben diesen institutionellen Reformen wurden zahlreiche weitere Maßnahmen in verschiedenen Bereichen ergriffen. Zu den effektivsten zählt die Einführung der zentralen elektronischen Beschaffungsplattform ProZorro, die von zivilgesellschaftlichen Akteuren entwickelt wurde und dem Staat durch transparente Auftragsvergabe bis heute mehr als 7 Milliarden US-Dollar eingespart hat. Auch die Einführung der E-Declarations, der elektronischen Vermögenserklärung für Staatsbeamte und ihre engsten Verwandten, schafft eine in Europa einmalige Dimension der Transparenz. Aktivist:innen und die 2015 ebenfalls neu gegründete Nationale Agentur zur Korruptionsprävention (NAZK) können so mutmaßlich illegal erworbenes Vermögen aufspüren. Dies sind nur zwei von vielen Beispielen, die die Ukraine transparenter machen und dabei helfen, Korruption aufzudecken.

Mit dem Aufbau einer umfassenden institutionellen Infrastruktur zur strafrechtlichen Verfolgung von Korruption, verbunden mit flankierenden Präventions- und Transparenzmaßnahmen, hat die Ukraine seit 2014 einen großen Schritt in Richtung effektiver Korruptionsbekämpfung gemacht. Diese Entwicklung trägt allmählich Früchte und die Korruption geht messbar zurück: Gaben 2011 noch 60 Prozent der Ukrainer:innen an, dass sie oder ihre Familienmitglieder im vergangenen Jahr eine Bestechung gezahlt haben, waren es 2022 nur noch 34 Prozent (siehe Grafik 2). Auch im Corruption Perceptions Index (CPI) von Transparency International konnte sich die Ukraine in den letzten Jahren im internationalen Vergleich langsam, aber stetig verbessern (siehe Grafik 1) und liegt im CPI in etwa gleichauf mit anderen EU-Beitrittskandidaten wie Serbien, Albanien oder Bosnien und Herzegowina.

Selenskyjs ambivalente Korruptionsbekämpfung

Wolodymyr Selenskyjs fulminanter Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2019 ist auch darauf zurückzuführen, dass er im Wahlkampf zwei besonders populäre Wahlversprechen gemacht hat: Den Krieg im Donbas zu beenden und Korruption und Oligarchie zu bekämpfen. Was das zweite Versprechen betrifft, ist die Bilanz seiner bisherigen Amtszeit gemischt.

Mit der Aufhebung der Abgeordnetenimmunität, die in der Ukraine gerne genutzt wurde, um sich vor Strafverfolgung zu schützen, hat Selenskyj gleich kurz nach seinem Amtsantritt ein zentrales Wahlversprechen umgesetzt, wohl um zu zeigen, dass er es mit dem Kampf gegen die Korruption ernst meint. Für die Bürger:innen, die Bestechungen im Umgang mit staatlichen Behörden leid waren, digitalisierte Selenskyjs Team mit großem Eifer die öffentliche Verwaltung. So ersetzt die E-Services-App »Dija« viele Behördengänge und macht die Verwaltung nicht nur moderner und effizienter, sondern reduziert auch die Korruption im Alltag spürbar. Die Anwendung ist so erfolgreich, dass sie nun auch in andere Länder exportiert werden soll.

Gleichzeitig scheint Selenskyj entschlossen zu sein, den Einfluss der Oligarchen auf Politik und Medien zu begrenzen. Im Juli 2021 setzte er gegen große Widerstände ein Gesetz zur De-Oligarchisierung durch. Ob die Entmachtung der Oligarchen – die durch den russischen Angriffskrieges tatsächlich einen Großteil ihres Vermögens und auch ihres Einflusses verloren haben – tatsächlich das vorrangige Ziel Selenskyjs ist, oder nicht vielleicht die Ausschaltung politischer Gegner zur politischen Machtsicherung (so ging Selenskyj besonders hart gegen seinen Amtsvorgänger und wahrscheinlichen Herausforderer bei den nächsten Präsidentschaftswahlen Petro Poroschenko vor), wird sich zeigen.

Kritiker:innen werfen Selenskyj zudem vor, die Kontrolle über zentrale Institutionen durch die gezielte Besetzung mit loyalen Personen zu sichern. So tauschte er im März 2020 den als unabhängig und kompetent geltenden Generalstaatsanwalt Ruslan Rjaboschapka gegen Iryna Wenedyktowa aus, deren Unabhängigkeit von Antikorruptionsaktivist:innen angezweifelt wird. Wenedyktowa war bereits kurz nach ihrer Ernennung in die Kritik geraten, weil sie nach Korruptionsvorwürfen gegen den Abgeordneten Pawlo Chalimon von Selenskyjs Partei »Diener des Volkes« die Ermittlungen gegen diesen blockiert haben soll (Anfang 2023 wurde Chalimon wegen einer anderen Korruptionsaffäre als stellvertretender Fraktionsvorsitzender entlassen). Wenedyktowa war es auch, die dafür sorgte, dass die NABU-Ermittlungen gegen den umstrittenen stellvertretenden Leiter des Präsidentenbüros, Oleh Tatarow, eingestellt wurden. Wenedyktowa wurde im Juli 2022 entlassen und durch Andrij Kostin ersetzt – einen weiteren loyalen Gefolgsmann Selenskyjs, dem Sabotage der Justizreform vorgeworfen wurde. Im Lichte der aktuellen Korruptionsaffären könnte Selenskyjs ambivalente Personalpolitik auch für den Präsidenten selbst noch zum Problem werden.

Verschleppte Justizreform und Verfassungskrise

Versuche, die ukrainische Justiz umfassend zu reformieren, scheiterten bereits nach dem Maidan am mangelnden politischen Willen und massivem Widerstand aus der Justiz selbst. Ende 2020 kam es dann zu einer Verfassungskrise, als das Verfassungsgericht am 27. Oktober zentrale Elemente der Antikorruptionsgesetzgebung (E-Declarations und die Strafbarkeit der illegalen Bereicherung) für verfassungswidrig erklärte. Daraufhin ersuchte Selenskyj am 29. Oktober das Parlament (erfolglos), das Verfassungsgericht aufzulösen. Im Dezember setzte das Parlament die Antikorruptionsgesetze wieder in Kraft. Selenskyj suspendierte per Dekret den Vorsitzenden Verfassungsrichter Oleksandr Tupizkyj, gegen den selbst wegen Bestechung ermittelt wird, und annulierte schließlich dessen Ernennung 2013 durch Wiktor Janukowytsch. Dagegen wiederum ging das Verfassungsgericht vor und erklärte im Juli 2021 Selenskyjs Vorgehen für verfassungswidrig. Bis heute ist die Verfassungskrise nicht gelöst.

Die skandalösen Urteile des Verfassungsgerichts stehen sinnbildlich für die ukrainische Justiz, die formal unabhängig ist und durch die Verfassung großen Schutz genießt, informell aber von politischen Gruppen beeinflusst wird.

Im Sommer 2021 brachte Selenskyj Gesetze zur Neuaufstellung des Hohen Justizrats (HJC), dem wichtigsten Organ der Selbstverwaltung der Justiz, und der Hohen Qualifizierungskommission für Richter (HQCJ) ins Parlament ein. Nach anfänglicher Blockade durch Vertreter:innen des HJC begann die Neubesetzung beider Räte – und zwar wie schon zuvor bei den neuen Antikorruptionsinstitutionen unter Einbeziehung internationaler Expert:innen, die neben der fachlichen Eignung auch die Integrität der Kandidat:innen prüfen. Der neubesetzte HCJ hat bereits seine Arbeit aufgenommen, während der Auswahlprozess der HGCJ noch läuft. Inwiefern es nun zu einer verbesserten Auswahl, Disziplinierung und Sanktionierung korrupter Richter führt, wird sich zeigen.

Für große Kritik sorgte das Gesetz zur Reform des Verfassungsgerichts. Entgegen den Empfehlungen der ukrainischen Zivilgesellschaft und der Venedig-Kommission wurde den drei internationalen Mitgliedern der Auswahlkommission kein Veto-Recht eingeräumt. Anders als bei der Auswahl der NABU-Führung oder des HACC könnten bei einer Patt-Situation die ukrainischen die internationalen Kommissionsmitglieder überstimmen. Ukrainische Expert:innen aus der Zivilgesellschaft warnten mehrfach, dass die Regierung so ihre Kandidat:innen durchsetzen könnte. Zuletzt wurde politisch über nachträgliche Änderungen gerungen.

Korruption im Krieg, Krieg gegen Korruption?

Dass der Krieg die Korruptionsproblematik zwar thematisch in den Hintergrund gedrängt, nicht aber verdrängt hat, zeigen die jüngsten Korruptionsfälle, in denen Krieg und Korruption sogar miteinander verwoben sind. Am 21. Januar 2023 veröffentlichte das Online-Medium Serkalo Tyschnja eine Recherche, derzufolge die Beschaffung von Lebensmitteln für die Armee teilweise zu überhöhten Preisen erfolgte. Kurz danach wurde in einem anderen, davon unabhängigen Fall der stellvertretende Infrastrukturminister Wassyl Losynskyj wegen der Annahme einer Schmiergeldzahlung von 400.000 US-Dollar vom NABU festgenommen. Bereits zuvor hatte die Ukrajinska Prawda über den luxuriösen Lebensstil des Vize-Chefs des Präsidentenbüros, Kyrylo Tymoschenko, berichtet, der unter anderem in die Kritik geriet, weil er mit einem für humanitäre Zwecke im Kriegsgebiet gespendeten SUV unterwegs war.

Gerade in Zeiten des Krieges gilt Korruption im Militär oder auch bei der humanitären Hilfe sowohl in der eigenen Bevölkerung als auch bei der internationalen Gemeinschaft als besonders problematisch. Laut einer aktuellen Umfrage (Grafik 10) waren die Ukrainer:innen noch nie so gewillt, gegen Korruption vorzugehen. Vor dem Krieg waren 44 Prozent bereit, Korruptionsfälle zu melden, heute sind es 84 Prozent. Gleichzeitig drohen die beschriebenen Korruptionsskandale das Vertrauen in die Ukraine und somit die wichtige Unterstützung im Westen zu schwächen.

Das Präsidialamt war sich der brisanten Lage bewusst und reagierte umgehend. In seiner abendlichen Ansprache dankte Präsident Selenskyj den Journalist:innen und den Ermittlungsbehörden für die Enthüllungen und kündigte weitreichende personelle Konsequenzen an. Insgesamt wurden vier Vizeminister, darunter auch der Vize-Verteidigungs- und Vize-Infrastrukturminister, fünf Gouverneure, der wichtige Vize-Chef des Präsidentenbüros Tymoschenko und der Vize-Generalstaatsanwalt Symonenko sowie der Leiter der Beschaffungsabteilung im Verteidigungsministerium entlassen. Anfang Februar wurde auch das Haus von Ihor Kolomojskyj durchsucht in Zusammenhang mit Ermittlungen wegen Unterschlagung von fast 1 Mrd. Euro beim wichtigen Öl- und Gasförderer Ukrnafta und dem Pipelinebetreiber Ukrtransnafta, an denen der Oligarch bis zu deren Verstaatlichung letztes Jahr beteiligt war. Und Ende Februar verlor Oleksandr Truchin von der Präsidentenpartei sein Mandat, nachdem er zuvor vom HACC für Korruption in Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall schuldig gesprochen wurde.

In der Ukraine und von der Bundesregierung und der EU wurde die schnelle Reaktion Selenskyjs und das entschiedene Vorgehen der ukrainischen Behörden positiv bewertet. Entscheidend wird jetzt die Frage sein, wie die Ukraine ihre hohe Transparenz mit berechtigten Sicherheitsaspekten im Krieg in Einklang bringen kann, sodass Ermittler:innen, Investigativjournalist:innen und Expert:innen der Zivilgesellschaft weiter gegen Korruption vorgehen können. Das umfasst staatliche Verträge, wie die des Verteidigungsministeriums, genau wie die E-Declarations, die nach der vollumfänglichen Invasion wegen Sicherheitsbedenken vorerst ausgesetzt wurden (was inzwischen aber auf immer mehr Kritik stößt). Ankündigungen des unter Druck stehenden Verteidigungsministers, das Beschaffungswesen schnell zu optimieren und auch weitere personelle Konsequenzen zu ziehen, können dabei nur der erste Schritt sein. Im Lichte der jüngsten Korruptionsskandale ist zudem die Ernennung von Mustafa Najem zum neuen Chef der ukrainischen Behörde für den Wiederaufbau und Infrastruktur ein positives Zeichen. Der ehemalige Investigativjournalist und Politiker genießt einen integren Ruf und konnte die letzten Jahre bereits wichtige Erfahrungen im Infrastrukturministerium sammeln.

EU-Beitrittsperspektive als Reformanreiz

Kurz nach Beginn der russischen Invasion beantragte die Ukraine offiziell die EU-Mitgliedschaft. Im Juni vergangenen Jahres kam es dann zur historischen Entscheidung, trotz Skepsis einiger Mitgliedsstaaten, der Ukraine den Kandidatenstatus zu gewähren. Daran geknüpft waren sieben Konditionen, von denen fünf direkt oder indirekt mit Korruptionsbekämpfung bzw. der Justizreform zu tun haben. Die EU-Kommission prüft derzeit, wie weit die Ukraine mit der Umsetzung gekommen ist. Erste Ergebnisse sollen im Frühling vorgestellt werden. Das ukrainische New Europe Center bescheinigt spürbare Fortschritte in den letzten Monaten, sieht aber auch noch viel Verbesserungsbedarf.

Für die Antikorruptionsbemühungen hat der EU-Kandidatenstatus bereits eine positive Dynamik gebracht. Die Besetzung des lange vakanten Postens des wichtigen Sonderstaatsanwalts für Antikorruption (SAPO), eine der 7 EU-Konditionen, wurde endlich bestätigt. Oleksandr Klymenko war lange zuvor von der Auswahlkommission ausgewählt worden, seine Ernennung wurde aber politisch und juristisch blockiert. Klymenko war zuvor NABU-Detektiv und machte sich durch seine Ermittlungen gegen hochrangige Politiker und Oligarchen, wie Roman Nasirow, Oleksandr Onyschtschenko oder Oleh Tatarow einen Namen.

Auch die Auswahl des NABU-Chefs ist eine der EU-Forderungen. Dem bisherigen Leiter, Artem Sytnyk, wurde eine gute Arbeit nachgesagt, seine Amtszeit endete jedoch vergangenes Jahr. Nach einem mehrstufigen Auswahl­verfahren, bei dem außer den fachlichen Qualifikationen auch die Integrität und Führungserfahrung der Bewer­ber:innen geprüft wurde, ernannte das Ministerkabinett am 6. März 2023 Semen Krywonos zum neuen Leiter. Laut Kyiv Independent gibt es einerseits Zweifel hinsichtlich seiner Integrität und seine Nähe zum Präsidialamt und geringe Erfahrung werden von der Zivilgesellschaft kritisch beäugt. Andererseits soll er sich im Team von Michail Saakaschwili, der als Premier in Georgien erfolgreich gegen Korruption vorgegangen war und 2015–16 Gouverneur der Oblast Odesa war, einen Ruf als Reformer erarbeitet haben. Auch gegenüber Krywonos’ Vorgänger gab es anfangs Zweifel, die Sytnyk mit seiner entschlossenen Art, auch gegen politische Widerstände vorzugehen, ausgeräumt hat. Nun muss Krywonos sich beweisen, denn die Leitung des NABU gilt als elementar, um der politischen Korruption den Kampf anzusagen.

Die anderen EU-Kriterien umfassen die Prüfung der Kandidat:innen für HCJ und HQCJ, eine Anpassung der Gesetze gegen Geldwäsche, eine Strategie zur Reform der gesamten Strafverfolgungsbehörden sowie die Umsetzung des Anti-Oligarchen-Gesetzes und die Neuaufstellung des Verfassungsgerichts. Bei den letzten zwei Punkten werden bestehende Gesetze nachgebessert werden müssen. Die Umsetzung der Kriterien und die genaue Bewertung von Seiten der EU und ukrainischen Expert:innen werden zeigen, ob der erste positive Impuls, der vom EU-Beitrittskandidatenstatus ausgeht, sich fortsetzt und als Anreiz für weitere Reformen zur Korruptionsbekämpfung dienen kann. Präsident Selenskyj sollte das Momentum nutzen – die Gesellschaft ist geeint wie nie, das internationale Interesse und die Unterstützung so groß wie nie – um seinen rhetorischen Ankündigungen, dass es »kein zurück mehr gebe« in die alten Zeiten, auch weitere Taten folgen zu lassen. Nur wenn es weitere energische Maßnahmen und erfolgreiche Schritte bei der Korruptionsbekämpfung geben wird, wird man die EU-Verantwortlichen davon überzeugen können, dass die Ukraine tatsächlich ein ernsthafter EU-Kandidat ist.

Fazit und Ausblick

Trotz eines holprigen Reformprozesses, bei dem auf einen Schritt vor oft auch ein Schritt zurück folgte, hat die Ukraine im Bereich der Korruptionsbekämpfung in den letzten 10 Jahren große Fortschritte gemacht. Was vor dem Maidan als undenkbar galt, ist heute Realität: Neu geschaffene Antikorruptionsinstitutionen ermitteln gegen einst unantastbare einflussreiche Poltiker:innen, Richter:innen oder Geschäftsleute. Korruptionsermittlungen und -verfahren sind jedoch oft kompliziert und kommen daher nur langsam voran, weshalb man die Ergebnisse von Antikorruptionsreformen oft erst verzögert sieht. Auch wenn es dauert und noch viel zu machen ist: Die Richtung stimmt.

Es gilt nun, diesen Weg zu verstetigen, erneute Roll-Backs zu verhindern und die aufgebauten »Inseln der Integrität« wie NABU, SAPO oder HACC zu »Landschaften der Integrität« auszubauen. Das bedeutet z. B., dass bei Reformen und Besetzung anderer wichtiger Behörden und Gerichte die Lehren aus den letzten Jahren berücksichtigt werden sollten: Neben der fachlichen Eignung spielt die Integrität der Kandidat:innen die zentrale Schlüsselrolle und die Einbeziehung externer, internationaler Expert:innen bei der Auswahl sollte zum Standard werden. Auch bereits vor dem anvisierten EU-Beitritt, der vermutlich Jahre dauern wird, gibt es bereits jetzt viel Potenzial für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen der EU und der Ukraine. Zum einen hat die EU bereits Erfahrungen gemacht mit früheren Beitrittskandidaten, die im Bereich der Korruptionsbekämpfung Reformen umsetzen mussten, und zum anderen verfügt sie über hilfreiche Institutionen (Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA), Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung (Olaf)) und Einflusshebel (Konditionierung), um den weiteren Reformprozess in der Ukraine aktiv zu unterstützen. Die Ukraine kann gleichzeitig den EU-Staaten in Form von Prozorro oder Dija praktikable Lösungen für mehr Transparenz und effektive staatliche Dienstleistungen anbieten, so dass beide Seiten von der engeren Zusammenarbeit profitieren können.

Mit Unterstützung der EU kann die Ukraine es schaffen, aus dem postsowjetischen »Sumpf« von Korruption, Informalität und Oligarchie auszubrechen. Es wäre nicht nur ein wichtiger innerer Sieg für die Ukraine, sondern auch einer gegen den äußeren Aggressor Russland, wo Autokratie und Korruption sich immer stärker verankern und von dem man sich abgrenzen möchte. Der Neu- und Wiederaufbau bietet der Ukraine dank der etablierten Antikorruptionsinfrastruktur, der aktiven Zivilgesellschaft, der präzedenzlosen internationalen Unterstützung und nicht zuletzt dem hohen Blutzoll, der Bereicherung durch Korruption nicht mehr duldet, eine einmalige Chance, die die Politik nutzen sollte.

Lesetipps / Bibliographie

Zum Weiterlesen

Analyse

Reformen, Korruption und gesellschaftliches Engagement

Von Ilona Sologoub, Yelizaveta Dorontseva
Seit dem 24. Februar 2022 hat die vollumfängliche russische Invasion die Aufmerksamkeit der Ukrainer:innen auf sich gezogen und andere Themen an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt. Da die Nachrichten von der Front am wichtigsten sind, stehen die Reformen oft nicht im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, obwohl es keinen Zweifel daran gibt, dass Reformen trotz des ausgerufenen Kriegsrechts fortgesetzt werden sollten. Die Fortsetzung der Reformen ist nicht nur wichtig, um den westlichen Verbündeten zu zeigen, dass sich die Ukraine der EU-Integration verschrieben hat, sondern vor allem, um den ukrainischen Staat zu modernisieren und widerstandsfähiger zu machen. Damit sie nachhaltig sind, sollten Reformen von den Menschen getragen werden. (…)
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