Der Sinn von Elitenstudien
Während die politischen Eliten im engeren Sinne nur Personen umfassen, die regelmäßig in den politischen Nachrichten erscheinen, also die zentralen Entscheidungsträger:innen, ist es für das Verständnis der Politik eines Landes auch wichtig, einen größeren Kreis beteiligter Personen zu erfassen. Der Begriff »politische Eliten« beschreibt so die recht große Gruppe, die an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt ist. Das umfasst neben Regierung und Parlament von der lokalen bis zur nationalen Ebene auch die höchsten Gerichte, staatliche Organe wie etwa die Zentralbank, einen Rechnungshof oder eine Medienaufsicht, ebenso staatliche Positionen in der Leitung von großen Wirtschaftsunternehmen oder im öffentlichen Rundfunk.
Elitenstudien erfassen für diese mehrere Hundert Personen umfassende Gruppe, oder für ausgewählte Teile dieser Gruppe, zentrale sozio-demographische Merkmale. Ein Grund hierfür ist das Konzept der »deskriptiven Repräsentation«, welches etwa eine Rolle spielt, wenn der Frauenanteil in Regierung oder Parlament erfasst wird. Die Idee dahinter ist, dass eine gleichberechtigte Repräsentation von Frauen auch eine gleichberechtigte Behandlung in der Politik verspricht. Ein weiterer Grund für die Beschreibung sozio-demographischer Merkmale der politischen Eliten ist der Versuch, so grundlegende Einstellungen und Motivationen erfassen zu können. Zu diesem Zweck werden etwa über das Alter verschiedene Generationen mit spezifischen Erfahrungen identifiziert. Auch die Berufsausbildung, eine Tätigkeit als Unternehmer:in, Reichtum oder Erfahrungen in bestimmten Gesellschaftsbereichen werden hier oft thematisiert.
Für die Ukraine gibt es allerdings nur eine Handvoll solcher Studien, vor allem von Elena Semenova und Tetiana Kostiuchenko. Diese Studien erfassen nur Ausschnitte und sind außerdem bereits etliche Jahre alt, werden dem dynamischen politischen Wandel in der Ukraine also nicht gerecht. Daneben gibt es mit dem Ziel der Erfassung politischer Korruption die von unabhängigen Organisationen geführten »Open Source National Databases on Politically Exposed Persons« sowie den »Chesno Polithub«. Beide erfassen aber nicht alle politischen Eliten und haben mit der Korruptionsbekämpfung ein enges Ziel, das die Erfassung vieler sozio-demographischer Informationen nicht erfordert.
Das kollektive Elitenprofil im Zeitverlauf
Wir haben als Teil einer größeren Elitenstudie für insgesamt acht Stichjahre von 1992 bis 2023 die Besetzung von insgesamt 546 Positionen identifiziert, die einen Überblick über die politischen Eliten der Ukraine geben. Da einige Personen längerfristig im Amt waren oder verschiedene von uns erfasste Positionen innehatten, umfasst unser Datensatz insgesamt 380 Angehörige der ukrainischen politischen Eliten. Die Mehrheit von ihnen ist nicht in allgemeinen Wahlen von der Bevölkerung gewählt worden, sondern wurde in staatlichen Auswahlprozessen ernannt, wie etwa für die Regierung, höchste Gerichte, Gouverneursposten (also die Leitung der Regionalverwaltungen), staatliche Organe (wie die Zentralbank) oder die Leitung von Staatsunternehmen. Die Informationen für den Datensatz wurden per Online-Recherche zusammengestellt. Die Besetzung der Positionen wurde den Internetseiten der jeweiligen Institutionen entnommen. Die Lebensläufe wurden zusätzlich aus verschiedenen Quellen recherchiert.
Mit demselben Vorgehen wurden zusätzlich auch die politischen Eliten in drei Ländern Mittelosteuropas (Polen, Tschechien, Ungarn) sowie in Russland und in Ostdeutschland (fünf ostdeutsche Bundesländer) erfasst. Diese Länder dienen uns hier teilweise als Vergleich, um die ukrainischen Zahlen und Entwicklungen besser einordnen zu können.
Eliten mit sozialistischer Vergangenheit
Nach dem Ende der Sowjetunion war die erste große Frage der Elitenforschung der Verbleib der alten sozialistischen Eliten. 1992 hatten die sozialistischen Eliten noch einen Anteil von 89 Prozent an den von uns erfassten ukrainischen politischen Eliten gehabt. Die Parlaments- und Präsidentenwahlen 1994 mit Regierungsneubildung brachten dann aber einige Neuzugänge ohne vorheriges politisches Profil in führende Positionen. 1995 hatten so noch zwei Drittel eine offizielle, aktive Rolle im Sozialismus gespielt. In Russland waren es im selben Stichjahr über 80 Prozent. In Polen, Tschechien und Ungarn hingegen lag der Anteil alter Eliten 1995 bereits unter 40 Prozent. Dieser Unterschied erklärt sich unter anderem dadurch, dass in den ostmitteleuropäischen Ländern ein großer Teil der neuen politischen Eliten aus der ehemaligen Opposition gegen den Sozialismus kam. Dies gab es in nennenswerter Zahl weder in der Ukraine noch in Russland (und auch nicht in Ostdeutschland).
Der Anteil von Eliten mit aktiver politischer Vergangenheit im Sozialismus ging aber in den folgenden Jahren in der Ukraine deutlich schneller zurück als in Russland. Im Jahr 2010 lag er in Russland immer noch bei zwei Dritteln, während er in der Ukraine bereits auf gut ein Drittel gesunken war. Der Elitenwechsel nach dem Erfolg der Maidan-Proteste von 2013/14 gegen die Präsidentschaft von Wiktor Janukowytsch, der durch weitreichende Regeln für Lustration verstärkt wurde, führte bereits 2015 dazu, dass nur noch deutlich weniger als 10 Prozent der ukrainischen politischen Eliten in der Sowjetunion eine politisch aktive Rolle gespielt hatten. Der ukrainische Wert sank damit unter den in Tschechien und Ungarn. Im Jahr 2023 war der ukrainische Wert bei null angekommen.
Teil dieser Entwicklung war das altersbedingte Ausscheiden der bereits im Sozialismus aktiven Eliten. Über die Hälfte der ukrainischen politischen Eliten des Jahres 2020 war noch nicht volljährig gewesen, als die Sowjetunion zerfiel. Das Durchschnittsalter der ukrainischen Eliten sank auch leicht, lag aber 2023 immer noch bei 49 Jahren. Hinzu kam in der Ukraine, dass der Anteil der politischen Eliten, die länger als fünf Jahre im Amt waren, selbst im Vergleich zu Ostmitteleuropa ab 2015 sehr niedrig war. Im Ergebnis dauerte der Elitenwechsel in der Ukraine länger, war aber durchgreifend.
Beruflicher Hintergrund
In den 1990er Jahren waren die politischen Eliten in der Ukraine zu über einem Drittel gelernte Ingenieur:innen. 1995 wurde ein weiteres Fünftel von Naturwissenschaftler:innen gestellt. Dies war vor allem ein Erbe der sozialistischen Planwirtschaft, die Ingenieur:innen und Naturwissenschaftler:innen auch auf politische Entscheidungspositionen befördert hatte. Mit den Reformen der 1990er Jahre stiegen Vertreter:innen zweier weiterer Berufsgruppen häufig in die politischen Eliten auf. Von 1990 bis in die Gegenwart hatte immer etwa ein Fünftel einen Hintergrund in Wirtschaft oder Finanzen. Der Anteil der Jurist:innen unter den ukrainischen politischen Eliten stieg von knapp 10 Prozent in den 1990ern auf ein Viertel ab 2015. 2023 betrug der Wert ein Drittel. Auffällig bei den ukrainischen politischen Eliten ist, dass mit dem Wahlsieg von Wolodymyr Selenskyj die Ukraine der einzige Fall ist, in dem mehr als 10 Prozent von ihnen aus dem Bereich Unterhaltung/Medien kommen (11 Prozent im Jahr 2023).
Ebenfalls ungewöhnlich hoch ist in der Ukraine der Wert für Privatunternehmer:innen und Multi-Millionär:innen. Bei den Privatunternehmer:innen weist die Ukraine einen kontinuierlichen Anstieg aus. Ab 2015 hat sie im Ländervergleich die mit Abstand höchsten Werte. Dies dürfte aber zum Teil auch mit dem im Zuge der Korruptionsbekämpfung eingeführten elektronischen Vermögensregister zu tun haben, das im Ländervergleich weit überdurchschnittliche Transparenz schuf. Beim Anteil der Multi-Millionär:innen liegt die Ukraine mit einem Spitzenwert von fast 20 Prozent im Jahr 2015 ebenfalls weit vorne, obwohl Ungarn noch höhere Werte aufweist. 2023 sinkt der Wert in der Ukraine aber auf unter 10 Prozent.
Ansonsten ergeben sich für die Ukraine im Vergleich zu Mittelosteuropa keine großen Unterschiede. Während ein Hintergrund im Bereich Militär/Geheimdienst für die politischen Eliten in Russland relevant ist (im Extrem mit einem Anteil von 20 Prozent im Jahr 2005), liegt dieser Wert in der Ukraine wie auch in den mittelosteuropäischen Vergleichsländern immer deutlich im einstelligen Bereich. In der Ukraine hat sich daran auch ein Jahr nach Beginn des großflächigen russischen Angriffskriegs nichts geändert.
Frauenanteil
Auffällig ist der geringe Frauenanteil, der bei den von uns erfassten ukrainischen politischen Eliten bis 2015 unter 10 Prozent liegt und 2020 leicht auf 13 Prozent steigt. Ebenfalls 2020 haben Frauen in der Ukraine einen Anteil von 20 Prozent im Parlament der Ukraine und 14 Prozent in der vom Parlament bestätigten Regierung. Noch geringer war ihr Anteil in den Elitenpositionen, die »hinter den Kulissen« besetzt werden – in der Ukraine etwa Gouverneur:innen, die Leiter:innen wichtiger staatlicher Institutionen oder Unternehmen. Dieses Bild zeigt sich auch in den anderen von uns erfassten Ländern (wobei der Frauenanteil nur in Ostdeutschland deutlich höher ist).
Politische Eliten unter Präsident Selenskyj
Wolodymyr Selenskyj war mit seiner neu gegründeten Partei »Diener des Volkes« 2019 explizit angetreten, um die alten politischen Eliten durch neue Personen zu ersetzen. Bei den Parlamentswahlen stellte seine Partei nur Kandidat:innen auf, die bisher noch nicht im Parlament vertreten waren. Der Sieg bei den Präsidenten- und Parlamentswahlen führte so tatsächlich zu einem stärkeren Elitenwechsel als nach den Massenprotesten der Orangen Revolution 2004 oder dem Euromaidan 2014. Nicht nur die alten sozialistischen Eliten waren verschwunden. Die Mehrheit der politischen Eliten war nicht einmal vor 2014 politisch aktiv gewesen.
Bezogen auf sozio-demographische Kriterien unterschieden sich die politischen Eliten nach 2019 kaum von ihren Vorgänger:innen. Das Durchschnittsalter lag seit 2015 bei knapp 50 Jahren. Der Anteil der Frauen stieg leicht (auf bescheidene 20 Prozent im Jahr 2023). Beim beruflichen Hintergrund lagen die Werte im Bereich der früheren Jahre – mit Ausnahme des Aufstiegs einer kleinen Gruppe aus dem Bereich Unterhaltung/Medien. Die einzige erkennbare Trendwende ist der starke Rückgang des Anteils der Multi-Millionär:innen – vor allem wohl im Kontext der Korruptionsbekämpfung und eines Gesetzes zur De-Oligarchisierung.
Da Selenskyj systematisch auf Neueinsteiger:innen in die Politik setzte, war das entscheidende Merkmal der politischen Eliten nun fehlende politische Erfahrung. Dies hatte drei zentrale Folgen für die Entwicklung der politischen Eliten in seiner bisherigen Amtszeit. Erstens erwiesen sich einige von Selenskyjs Kandidat:innen als wenig geeignet oder überfordert. Exemplarisch zeigt sich dies bei häufigen Wechseln in der Regierungsmannschaft. Zweitens orientierte sich Selenskyj anscheinend oft an seiner persönlichen Einschätzung der Zuverlässigkeit und Kompetenz von Kandidat:innen. So holte er vergleichsweise oft Personen in sein engeres Team, mit denen er vor seiner politischen Karriere im Unterhaltungsbereich zusammengearbeitet hatte. Drittens geriet Selenskyj am häufigsten in Konflikte mit den Teilen der politischen Eliten, die bereits länger im Amt waren und vom ihm nicht entlassen werden konnten.
Die Strategie Selenskyjs ist durchaus verständlich. In einem teilweise korrumpierten und durch politische Machtkämpfe belasteten Umfeld ist es naheliegend, möglichst das gesamte Personal auszutauschen und auf Personen zu setzen, die ihre Loyalität bereits bewiesen haben. Der großflächige russische Angriffskrieg mit der Enttarnung von Spionage-Netzwerken und Attentatsplänen auf den Präsidenten verstärkt diese Logik noch einmal. Dadurch kamen viele Personen in einflussreiche politische Ämter, die Selenskyj aus seiner Zeit als TV-Entertainer und Produzent kannte. Das prominenteste Bespiel ist sicher Andrij Jermak, der bereits 2010 mit Selenskyj zusammenarbeitete und 2020 zum Leiter des Präsidialamtes wurde. Jermak wird auch nachgesagt, seinerseits Personen zu fördern, die ihm nahestehen, zuletzt bei der Auswahl des Direktors des Nationalen Antikorruptionsbüros im März 2023. Ein weiteres Beispiel ist Serhij Ionushas, dessen Anwaltskanzlei die Interessen von Selenskyjs Produktionsgesellschaft »Kvartal 95« vertrat. Bereits 2019 war er im Wahlkampfteam Selenskyjs für die Rechtsreform zuständig und wurde anschließend zum Leiter der Präsidialkommission für Rechtsreformen ernannt. Im Parlament übernahm er den Vorsitz des Rechtsausschusses. Im Ergebnis gibt es unter den politischen Eliten des Jahres 2023 viele ohne längere politische Erfahrung, viele Jurist:innen, oft mit Schwerpunkt im Medienrecht, sowie einen nennenswerten Anteil aus dem Bereich Unterhaltung/Medien.
Gleichzeitig ist es aber für Demokratie und Rechtsstaat wichtig, dass die Rekrutierung politischer Eliten nach etablierten Verfahren und leistungsbezogenen Kriterien erfolgt. Für die staatlichen Organe der Korruptionsbekämpfung sind hierfür ausgefeilte Auswahlprozesse entwickelt worden. Solange das Kriegsrecht gilt, wird die Zusammensetzung der politischen Eliten vor allem über die Kombination aus persönlicher Auswahl durch den Präsidenten und institutionalisierter Auswahlprozesse erfolgen. Nach Ende des Kriegsrechts wird die Bevölkerung in Parlamentswahlen einen Teil der politischen Eliten neu bestimmen.
Fazit
Mit den Daten der oben beschriebenen international vergleichenden Elitenstudien lässt sich der Wandel der ukrainischen politischen Eliten seit der Unabhängigkeit bis 2023 nachverfolgen. Es zeigt sich, dass die Zusammensetzung der Eliten in der Ukraine weitgehend den gleichen Mustern folgt wie in Ostmitteleuropa.
Der Wechsel der im Sozialismus aktiven Eliten dauerte länger, wurde aber 2023 abgeschlossen. Einer der sichtbaren Unterschiede (abgesehen von Ungarn) ist der große Anteil der Multi-Millionär:innen, der vor allem auf den großen politischen Einfluss der Oligarchen zurückzuführen ist.
Mit dem Wahlsieg Selenskyjs und seiner Partei sind ab 2019 viele Neueinsteiger:innen in die Politik gekommen, die gleichzeitig alte Partner:innen von Selenskyj aus der Unterhaltungsbranche und dem Medienrecht sind. Dadurch entsteht ein gewisses Spannungsverhältnis zu institutionalisierten und auf Kompetenz und Integrität (aber nicht Loyalität) bezogenen staatlichen Rekrutierungsprozessen. Das als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg verhängte Kriegsrecht verschärft diese Spannung, da Loyalität wichtiger wird und Transparenz durch Geheimhaltungspflichten eingeschränkt ist.
Diese Publikation und die zugrundeliegende Elitenstudie ist im Rahmen des Teilprojektes 7 des Verbundprojektes »Mod-Block« entstanden, das vom BMBF gefördert wird.