It’s Bullshit! Zur Rolle von (Pseudo-)Expert:innen in der öffentlichen Debatte zu Russlands Krieg gegen die Ukraine

Von Franziska Davies (Ludwig-Maximilians-Universität München)

Zusammenfassung
In der medialen Debatte zum russischen Angriffskrieg gibt es viele pseudowissenschaftliche Expert:innen, denen entschieden entgegengewirkt werden sollte.

Seit dem 24. Februar 2022 sind Wissenschaftler:innen, die sich mit Russland und der Ukraine beschäftigen, gefragte Ansprechpartner:innen der Medien. Der Schritt aus dem wissenschaftlichen Fachdiskurs in die breite öffentliche Debatte birgt zwar durchaus Gefahren, sollte in diesen Zeiten aber trotzdem gewagt werden. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist ein Moment, der intellektuelle und moralische Haltung von jedem Individuum verlangt – für das Opfer, gegen den Aggressor. Eine besondere Verantwortung aber kommt denjenigen zu, die zur Aufklärung über die Hintergründe des Kriegs beitragen und damit Kreml-Narrative fundiert widerlegen können. Das gilt vor allem für Osteuropa-Wissenschaftler:innen. Das Feld darf nicht Kreml-Apologet:innen und Pseudo-Expert:innen überlassen werden.

Freilich bringt das auch Herausforderungen und Belastungen mit sich, die viele Osteuropa-Expert:innen in den letzten Monaten wohl zum ersten Mal in dieser Intensität erlebt haben. Der Schritt aus der akademischen Welt in gesellschaftspolitische Debatten kann zu Diffamierungen im öffentlichen Raum, Beschwerden beim Arbeitgeber, eine tägliche Flut von »Hatemails« im Posteingang oder gar der Androhung von Klagen durch Multiplikator:innen von Desinformation führen, die sich durch kritische Gegenstimmen aus der Wissenschaft in ihrer Deutungshoheit bedroht sehen. Noch schwerwiegender ist, dass die Universitäten sich in solchen Fällen in aller Regel nicht hinter ihre Angestellten stellen, sondern deren Probleme schlicht zur »Privatsache« erklären, mit denen die Uni-Leitungen nichts zu tun haben. In Anbetracht der Tatsache, dass Wissenschaftskommunikation in den zahlreichen »Krisen« der Gegenwart und Zukunft gesellschaftlich relevant und wichtig ist, sollte die Rückgratlosigkeit der Universitäten uns alle beunruhigen.

Zugleich haben aber auch das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit und die Anfeindungen gegen viele Fachvertreter:innen zu einem neuen Grad der Vernetzung und auch der Solidarität geführt. Neue Netzwerke sind entstanden, mit denen sich persönliche Belastungen und fachliche Herausforderungen besser bewältigen lassen. Diese Solidarität ist in aller Regel statusunabhängig. Der wissenschaftliche »Nachwuchs« und Professor:innen begreifen sich als Team, um gemeinsam pro-russischen Falschinformationen entgegenzuwirken. Etablierte Lehrstuhlinhaber:innen, die versuchen, jüngere Kolleg:innen über ihre Netzwerke zu diskreditieren, sind dabei eine bedauerliche, letztlich aber zu vernachlässigende Ausnahme. Vielleicht ist es für manche auch einfach schwer vorstellbar, dass man einen aktiven Twitter-Account haben und trotzdem seriöse wissenschaftliche Arbeit leisten kann (OK, Boomer…).

Neben diesen Herausforderungen wiederholt sich in der öffentlichen Debatte auch im Falle des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ein bekanntes Muster aus der Corona-Pandemie und den Diskussionen der letzten Jahrzehnte zum menschengemachten Klimawandel im Hinblick auf die Frage, wer in der medialen Öffentlichkeit den Status einer Expertin/eines Experten zugesprochen bekommt. Seit Februar 2022 werden diverse Wissenschaftler:innen als »Expert:innen« präsentiert, die sich wissenschaftlich nicht mit der Ukraine oder Russland befasst haben und außerdem darauf verzichten, die einschlägigen Forschungen der letzten Jahrzehnte zu diesen Ländern zur Kenntnis zu nehmen. Nach über einem Jahr nach der russischen Totalinvasion könnte man inzwischen ergänzen, dass sie außerdem darauf verzichten, die jetzigen Verlautbarungen aus Moskau sowie die unzähligen russischen Kriegsverbrechen auf ukrainischem Boden zur Kenntnis zu nehmen. In diese Gruppe gehören z. B. die Politikwissenschaftler Johannes Varwick und Julian Nida-Rümelin sowie ihre inzwischen (auf Grund von damit nicht in Verbindung stehenden Plagiaten) von der Universität Bonn entlassene Kollegin Ulrike Guérot.

Die Berücksichtigung zentraler Quellen und einschlägiger Sekundärliteratur gehört aber zu den grundlegenden Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens, von denen sich diese Wissenschaftler:innen aber allem Anschein nach verabschiedet haben. Teile der Medien scheinen dies nicht zur Kenntnis nehmen (oder für höhere Quoten billigend in Kauf zu nehmen) oder entscheiden sich aus einer – vielleicht gut gemeinten, aber dennoch falschen – »false balance« dafür, Mulitplikator:innen von Verschwörungstheorien eine Plattform zu geben. Selbst seriöse Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichen Beiträge von Wissenschaftler:innen, die leicht nachprüfbare Falschaussagen enthalten wie z. B. den Beitrag des Strafrechtlers Reinhard Merkel im vergangenen Jahr, in dem dieser das russische Okkupationsregime auf der Krim als »befriedete Ordnung« bezeichnete und die Annexion als einen Vorgang, bei dem »niemand verletzt wurde« (Reinhard Merkel, Verhandeln heißt nicht kapitulieren, FAZ, 28.12.2022, URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/gibt-es-fuer-die-ukraine-eine-pflicht-zur-verhandlung-18561825.html).

Einer fatalen Medienlogik zufolge sehen sich gerade Osteuropa-Wissenschaftler:innen dann verpflichtet und werden auch von Redaktionen dazu aufgefordert, eine »Gegenposition« zu veröffentlichen. Aus Sicht der Redaktionen ist das attraktiv, generiert dies nicht nur Zeitungsverkäufe und Klickzahlen, sondern sie können sich außerdem auf die Fahnen schreiben, eine gesellschaftspolitische »Debatte« zu ermöglichen. Solch ein medialer Schlagabtausch gaukelt der breiteren Öffentlichkeit eine wissenschaftliche Debatte vor. Tatsächlich spielen die »Positionen« der Desinformation verbreitenden Wissenschaftler:innen allerdings keine Rolle im wissenschaftlichen Diskurs – dazu reicht ein kurzer Blick in einschlägige Fachzeitschriften, in denen diese schlichtweg nicht publizieren. Die Osteuropa-Wissenschaftler:innen stehen somit vor dem Dilemma, irreführende »Meinungsbeiträge« unkommentiert stehen zu lassen oder sich auf eine Scheindebatte einzulassen, in denen Meinungen als Fakten präsentiert werden. Eigentlich wäre es die Aufgabe von Redaktionen, Aussagen zu prüfen und Falschaussagen nicht zu veröffentlichen. Immer öfter kommen diese aber aus den genannten Gründen ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht nicht nach – und tragen damit letztlich zur Desinformation über einen genozidalen Angriffskrieg bei und leisten den Lügen des Aggressors dadurch Vorschub.

Es sieht nicht danach aus, dass sich diese mediale Debattenlogik ändern wird. Deswegen wäre es an der Zeit, sich den Essay »On Bullshit« (1986) von Harry G. Frankfurt zu Gemüte zu führen und uns von unseren üblichen akademischen Gepflogenheiten der höflichen Gegenrede zu verabschieden. Als Antwort auf bestimmte irreführende Behauptungen, die wir in Dauerschleife seit dem 24. Februar 2022 hören, genügt eine einfache Antwort: »It’s Bullshit.«

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