Zur Zukunft der Ukraine-Studien

Von Susann Worschech (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder))

Zusammenfassung
Obwohl eine Studie den hohen Bedarf an Expertise zur Ukraine in Deutschland belegt, sind die Ukraine-Studien in Deutschland nur schwach institutionalisiert.

Mit dem Ausbruch des russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine wurden in Europa und insbesondere in Deutschland die großen Wissenslücken zur Ukraine, die in Gesellschaft, Medien und Politik existieren, schlagartig sichtbar. Einordnende, Zusammenhänge erklärende Expertise zu Osteuropa und vor allem zur Ukraine wurde händeringend gesucht. Wie schon zuvor die Corona-Pandemie ließ auch diese Krise ihre eigenen ›Stars‹ entstehen: Wissenschaftler:innen, die sich statt im Hörsaal nun häufig in den Medien fanden und deren Wissen dringend gefragt war. Dass dabei auch einzelne Expert:innen ohne nennenswerte Ukraine-bezogene Publikationen und auch ohne ukrainische Sprach- oder Landeskenntnisse plötzlich zu »Osteuropa-« oder gar »Ukraine-Experten« avancierten, war fast erwartbar und weist auf ein grundlegendes Problem hin: Die Ukraine-Expertise, erst recht die sozialwissenschaftlich-zeitgenössische, hat in Deutschland keine Telefonnummer, um einen Satz Henry Kissingers abzuwandeln. Das bewirkt nicht nur, dass (neben vielen seriösen Forschenden) mancher Scharlatan unter dem Deckmantel der Wissenschaft in der öffentlichen Debatte erheblich lauter vernehmbar ist als jene, die sich seit Jahren oder Jahrzehnten mit der Ukraine beschäftigen, sondern auch, dass der Wissenstransfer aus der Forschung in die Gesellschaft hinein in viel zu geringem Umfang stattfindet (vgl. hierzu auch den Kommentar von Franziska Davies in derselben Ausgabe). Wo stehen Forschung, Lehre und Transfer zur Ukraine, und was wird gebraucht?

Bedarf: Welches Wissen wird benötigt?

Beginnend mit der letzten Frage gibt eine im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde durchgeführte Studie zum Bedarf an Osteuropa-Expertise Aufschluss. In der Studie wurde in qualitativen und quantitativen Befragungen erhoben, welche Art von Wissen zu welchen Regionen in Politik, Medien, Zivilgesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft benötigt wird, welche Erwartungen an die fachliche Qualifikation von Absolvent:innen bestehen und wie Osteuropa-Expertise im Arbeitsalltag in den oben genannten Bereichen eingesetzt wird. Dabei wurde zunächst deutlich: Der Beratungs- und Informationsbedarf der Öffentlichkeit zu Osteuropa wird als hoch eingeschätzt, und der Verlust von »Orientierungswissen« zu Osteuropa durch den kontinuierlichen Abbau von einschlägigen, auch interdisziplinär arbeitenden Forschungsinstitutionen wie dem Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (BIOst) im Jahr 2000 und osteuropaspezifischen Professuren stellt ein deutlich wahrnehmbares Problem dar. Regionalexpertise zur Ukraine und auch zu Russland, dessen »Störpotenzial […] im osteuropäischen Raum« bereits in den im Frühjahr 2021 geführten Interviews deutlich benannt worden ist, sollte als kontinuierliches Grundlagenwissen und nicht nur nachrichtengetrieben bereitgestellt werden, was angesichts der täglichen Meldungen zum Krieg seit Februar 2022 fast illusorisch wirkt. Welche Themen sollte die »anwendungsorientierte Grundlagenforschung« zur Ukraine abdecken? Die Antworten hierzu verweisen vor allem auf Machtdynamiken und Elitenkonstellationen sowie Sicherheitsfragen und Konfliktpotenzial, aber auch auf Energie-, Klima- und Demographiethemen. Die Ukraine war hier sowohl in ihrer Verflechtungsdynamik als auch bezüglich innenpolitischer Entwicklungen als Schwerpunktregion sozialwissenschaftlicher Forschung zentral genannt.

In der Frage nach dem konkreten Bedarf an Osteuropa-Expertise wurde zudem erhoben, welche Art von Wissen zu welcher Region Osteuropas besonders wichtig sei. Hier zeigte sich, dass die Ukraine, Russland und Belarus die zentralen Länder waren, zu denen erheblich mehr Wissen benötigt wird – allerdings nicht nur akademisches Wissen, sondern auch Sprachkenntnisse und landeskundliches Wissen sowie zu einem überraschend starken Anteil lebensweltliches Wissen. Unter diesem Begriff wird in der Studie Wissen über Lebensstile und gesellschaftlichen Habitus, Alltagsleben und informelle Codes oder Regeln verstanden. Der Begriff zielt auf ein gesellschaftsanalytisches Potenzial ab, das sich nicht allein aus der akademischen Betrachtung erschließt, sondern ein Erfahrungswissen voraussetzt, welches sich zusätzlich aus Sprachkenntnissen, Netzwerken vor Ort und Forschungs- oder Studienaufenthalten zusammensetzt.

Ein weiterer Schwerpunkt der Studie lag in der Analyse des Bedarfs an disziplinärem Wissen zu Osteuropa. Hier wurde deutlich, dass die Politik- und Sozialwissenschaften zu den zentral nachgefragten Disziplinen zählen, gefolgt von Geschichts- und Kulturwissenschaften. Dies gilt insbesondere für befragte Organisationen aus den Bereichen Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft (die allerdings im Befragten-Sample überproportional vertreten waren). Den Politik- und Sozialwissenschaften wird in der Osteuropaforschung und gerade auch im Wissenstransfer damit eine außerordentlich hohe Bedeutung beigemessen, was sich in der Benennung der Themen und Ereignisse, zu denen die Befragten mehr Expertise benötigt hätten, spiegelt. Themen mit Ukraine-Bezug, insbesondere die Annexion der Krim und der beginnende Krieg in der Ostukraine, waren zusammen mit den (für viele überraschenden) Protesten in Belarus im Sommer 2020 die wichtigsten Ereignisse, zu denen mehr und ausführlichere Expertise gefragt war.

Insgesamt spiegelt die Studie einen hohen Bedarf an akademischer, sprachlicher und landeskundlicher Expertise zur Ukraine, sowie den Wunsch nach Vernetzung, Austausch, aktivem Wissenstransfer und Dialog. Ein disziplinärer Schwerpunkt dabei ist immer wieder der Bereich der Politik- und Sozialwissenschaften – gerade in diesen Bereichen jedoch ist die institutionalisierte akademische Wissensproduktion in Deutschland mitunter sehr schlecht aufgestellt.

Forschung & Lehre zur Ukraine: engagiert, unsystematisch, vereinzelt

Die Ukraine in der Forschungslandschaft in Deutschland als kaum existent zu bezeichnen, wäre falsch – es gibt hierzulande durchaus in nicht geringem Umfang Forschung und auch einschlägige Forscher:innen zur Ukraine. Im Abgleich mit den oben genannten Bedarfen, die unterschiedliche Wissensarten, Multi- bzw. Interdisziplinarität sowie zeitgenössische sozialwissenschaftliche Forschung, Vernetzung und funktionierende Wissenstransferformate betonen, zeigt sich jedoch, dass die akademische Beschäftigung mit der Ukraine zum Großteil am Bedarf vorbeigeht. Die Ukraine-Forschung ist vergleichsweise am stärksten (wenn auch nicht ausreichend stark) in den Geschichtswissenschaften; in den Politik- und Sozialwissenschaften dagegen aber erheblich schwächer und nicht institutionalisiert. Ein erheblicher Anteil der Forschung zur Ukraine findet auf den Karriereebenen unterhalb der Professur statt, was an der Nachhaltigkeit der Ukraine-Forschung Zweifel aufkommen lässt. Allerdings fehlt es auch nicht nur an Professuren, die mehr oder weniger explizit zur Ukraine oder mindestens zu Osteuropa arbeiten, sondern auch an Vernetzung – sowohl innerhalb der Wissenschaft, als auch über die Wissenschaft hinaus in Politik, Gesellschaft, Medien, Kultur und Wirtschaft. Zugleich findet an außeruniversitären Forschungseinrichtungen wie dem ZOiS exzellente Ukraine-Forschung statt, deren Ergebnisse aber wiederum nicht systematisch in die akademische Lehre einfließen.

Akademische Lehre zur Ukraine ist an einigen Hochschulen, die bereits vor der Vollinvasion ein erkennbares Osteuropa-Profil ausgebaut hatten, oft deutlich gestiegen, wie sich beispielsweise an den Hochschulen in Berlin, Bremen, Frankfurt (Oder), Gießen, München oder Regensburg zeigt. Die oftmals auch von geflüchteten ukrainischen Wissenschaftler:innen angebotenen Lehrveranstaltungen fügen sich durchaus positiv in vorhandene BA- oder MA-Studiengänge mit Osteuropaprofil oder auch allgemeiner Europa-Studien ein, sind jedoch nicht systematisch in die Curricula eingeflochten und werden von Semester zu Semester neu aufgesetzt. Ein Ukraine-bezogenes Studium gleich welcher Disziplin lässt sich in Deutschland nicht aufnehmen, da es an vielen Hochschulstandorten vom Zufall und dem freien Forschungsinteresse einzelner (oftmals befristet beschäftigter) Wissenschaftler:innen abhängig ist, ob es ein Lehrangebot zur Ukraine gibt oder nicht.

Ukrainian Studies in Deutschland: wie und wo?

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die wenig institutionalisierte, in der Lehre nicht systematische und disziplinär mangelhaft entwickelte Ukraine-Forschung in Deutschland dringend und intensiv aufgebaut werden muss – von Grund auf. In Brandenburg bestehen seit einigen Monaten intensive Bestrebungen, ein Ukraine-Zentrum in Frankfurt (Oder) zu gründen, welches die genannten Bedarfe aufgreifen und durch die direkte Anbindung an die Europa-Universität Viadrina auch zu einem akademischen Lehrangebot beitragen könnte. Den Aufschlag dazu machte eine Reihe namhafter Politiker:innen, Wissenschaftler:innen und Personen des öffentlichen Lebens, indem sie im Rahmen der »Frankfurter Erklärung« im Frühjahr 2023 die Einrichtung eines Ukraine-Zentrums in Frankfurt (Oder) forderten. Der Fokus auf Frankfurt (Oder) als Standort betont nicht nur den Gründungsauftrag der dort ansässigen Universität Viadrina, zur europäischen Verständigung und Entwicklung beizutragen, sondern gerade auch deren vielfältigen Forschungs- und Vernetzungsaktivitäten zu Polen, der Ukraine und dem weiteren mittel- und osteuropäischen Raum. Auf der Basis der vorhandenen Erfahrungen könnte eine engagierte Ukraine-Forschung, die es mit dem deutschlandweit einzigartigen Lehrstuhl zur ukrainischen Verflechtungsgeschichte an der Viadrina bereits gibt, auf- und interdisziplinär ausgebaut werden.

Dass es hierbei neben der klassischen Ukrainistik – also Geschichte, Sprache und Kultur der Ukraine – auch und gerade um sozial-, politik-, wirtschafts- und rechtswissenschaftliche Perspektiven auf die Ukraine, ihre transnationalen Verflechtungen, ihren Weg in die Europäische Union und ihre (komplexe, ambivalente) Rolle für Frieden und Sicherheit, Demokratie und Resilienz in Europa gehen muss, liegt nicht nur angesichts der genannten Bedarfe an Osteuropa-Expertise auf der Hand. Zentral sind zudem innovative und nachhaltige Formate in der Lehre, die nicht unbedingt nur auf die Ukraine fokussiert sein müssen, sondern am Beispiel der Ukraine die relevanten Fragen von europäischer und globaler Tragweite diskutieren können. Und schließlich braucht die Ukraine-Expertise eben doch eine »Telefonnummer«: sie muss auffind- und ansprechbar sein für den außerakademischen Raum, der forschungsbasierte, empirisch saubere und theoretisch gehaltvolle Erkenntnisse kompakt und verständlich an eine interessierte Öffentlichkeit, an Multiplikator:innen in Medien und Zivilgesellschaft, an Entscheider:innen in Wirtschaft und Politik kommunizieren kann.

Die Bereitstellung von Wissen außerhalb des akademischen Raums erfordert besondere Formate des dialogischen Transfers, der gemeinsamen Projektentwicklung und -beratung und der in der wissenschaftlichen Debatte geübten Kritik. Diese Aufgabe kann auch nicht nur durch ein Zentrum oder eine Hochschule erfüllt werden, sondern benötigt breitere Strukturen. Ukraine-Studien in Deutschland zu etablieren sollte daher an akademischen und außerakademischen Bedarfen, nachhaltigen Formaten, anspruchsvoller multidisziplinärer Forschung und engagierter Wissensvermittlung orientiert sein. Eine starke Ukraine-Forschung in Deutschland kann und muss zudem den allgegenwärtigen Fake News und im wissenschaftlichen Gewand daherkommenden Populismen und Fehleinschätzungen etwas entgegensetzen und ein verantwortlicher, wahrgenommener Teil der öffentlichen Debatte werden.

Lesetipps / Bibliographie

  • Susann Worschech: Ukrainian Studies? – Fehlanzeige: Die Ukraine im Spiegel der Wissenschaft in Deutschland, in: Ukraine-Analysen 250, 28.04.2021, DOI: 10.31205/UA.250.01.

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