Die neuen Facetten der ukrainischen Zivilgesellschaft

Von Susann Worschech (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder)

Zusammenfassung
Die ukrainische Zivilgesellschaft hat sich durch den Krieg stark verändert – quantitativ und qualitativ. Aktiver als je zuvor engagieren sich Ukrainer:innen ehrenamtlich in humanitärer Hilfe, Kunst und Kultur; aber auch im Widerstand gegen Russlands Angriffskrieg. Darüber hinaus finden im zivilgesellschaftlichen Handeln soziale Innovation und Transformation statt, welche die Gesellschaft – auch trotz deutlicher Verluste unter Aktivist:innen – für den künftigen Weg der europäischen Integration, weiteren Demokratisierung und im Überstehen des Krieges stärken.

Einleitung

Es stellt keine neue Erkenntnis dar, dass die ukrainische Zivilgesellschaft gut organisiert und sehr aktiv ist. In der Zeit vor der Revolution der Würde, während der Re-Autokratisierungsphase unter Präsident Janukowytsch von 2010 bis 2013, galt sie manchen Beobachter:innen fast als zu gut organisiert und im Wesentlichen aus professionellen NGOs und Think Tanks bestehend. Freiwilligen-Initiativen, informelle Gruppen und spontanes Engagement waren in der damaligen Zeit eher schwach ausgeprägt und zudem in der Landschaft aus hochentwickelter Zivilgesellschaft und ihren Förderern strukturell marginalisiert. Seitdem hat sich die ukrainische Zivilgesellschaft rasant entwickelt: Den Befürchtungen, die ukrainische Zivilgesellschaft sei zu stark auf sich selbst fokussiert, habe zu wenig Einfluss auf politische Prozesse, stehe miteinander in harter Konkurrenz um Fördermittel und verfüge zugleich kaum über Rückhalt in der Breite der Gesellschaft, setzte die Revolution der Würde eine der größten Mobilisierungen für pro-demokratische Proteste seit den Revolutionen von 1989–1991 entgegen. Während und nach der Revolution hat sich 2014 in der Ukraine eine der umfangreichsten Freiwilligenbewegungen in Europa herausgebildet, zumal Freiwillige zahlreiche, teils staatliche, Aufgaben wie die Versorgung von Binnenflüchtlingen, der Landesverteidigung, der weiteren Unterstützung der Armee sowie der Kommunal- und Nachbarschaftsentwicklung übernommen haben. Im Ranking des World Giving Index, der die individuelle Spendenaktivität von Bürger:innen sowie auch ihre aktive Mitarbeit in zivilgesellschaftlichen Initiativen und Organisationen bemisst, ist die Ukraine vom 111. Platz (von 145 Ländern) im Jahr 2011 auf Platz 10 im Jahr 2021 aufgestiegen. Zudem sind seit dem Beginn der großangelegten Invasion Russlands in der Ukraine ca. 37 Prozent der Ukrainer:innen als Freiwillige zivilgesellschaftlich aktiv; dieser Wert ist nicht nur der höchste seit der Unabhängigkeit, sondern ähnelt auch dem Anteil freiwillig Engagierter in Deutschland (ca. 39 Prozent). Ein in der Tendenz kontinuierlicher Anstieg freiwilligen Engagements in der Ukraine seit der späten Sowjetzeit bis heute spiegelt sich auch in den Daten des Projekts V-Dem (vgl. Grafik 6). Zivilgesellschaftliche Organisationen und die Freiwilligenbewegung genießen seit der Revolution der Würde hohen Respekt und Vertrauen in der ukrainischen Bevölkerung. Seit Beginn der russischen Großinvasion in der Ukraine im Jahr 2022 stellt die breit aufgestellte, vielfältige und aktive Zivilgesellschaft das Rückgrat der Gesellschaft und auch der Verteidigung des Landes gegen die russische Invasion dar.

In den zurückliegenden 15 Monaten hat sich dieses Bild verstärkt. Zugleich steht die ukrainische Zivilgesellschaft vor immensen Herausforderungen. Derzeit zeichnen sich vier Entwicklungslinien ab.

Erstens: Die Bedeutung der Freiwilligenbewegung

Am 05. Dezember 2022 zeichnete der ukrainische Präsident anlässlich des Internationalen Tages des Ehrenamtes 50 ukrainische NGOs und Initiativen aus, deren Mitglieder sich als Teil der Freiwilligenbewegung für die Ukraine engagieren. In seiner Rede betonte Selenskyj, dass die Freiwilligen heute der stärkste Teil der ukrainischen Zivilgesellschaft seien, und die Bewegung sich über das ganze Land erstreckt.

Die Anzahl registrierter gemeinnütziger karitativer Organisationen (kO) in der Ukraine stieg mit Beginn des Krieges sprunghaft an: Seit dem Maidan lag die Zahl der pro Jahr neu gegründeten kOs im höheren dreistelligen Bereich. Im Jahr 2022 wurden 6.367 neue kOs in der Ukraine gegründet – also mehr als in den acht Jahren zuvor zusammen. Die meisten entstanden in Kyjiw, Lwiw, Charkiw, Dnipro und Odesa. Die Zahl der politisch oder gesellschaftlich ausgerichteten Public Organizations blieb mit über 96.000 registrierten Organisationen in etwa gleich hoch; die jährlichen Neugründungen gingen 2022 gegenüber den Vorjahren leicht zurück.

Parallel dazu ist das individuelle Engagement in der Ukraine von 26 Prozent auf ca. 42 Prozent gestiegen. 61 Prozent der seit Februar 2022 aktiven Ehrenamtlichen hatten zuvor keine Erfahrungen in zivilgesellschaftlicher Arbeit. Der Anteil der Befragten, die seit 2022 Geld gespendet haben, lag mit 86 Prozent ebenfalls höher. Die Bandbreite an ehrenamtlichem Engagement umfasst Proteste, Fundraising-Kampagnen, aktive Beteiligung in Kampfeinheiten, Unterstützung der »IT-Armee« zur Bekämpfung russischer Propaganda, Berichte über feindliche Aktivitäten, Versorgung von Binnenflüchtlingen, Blutspenden oder Transport von Flüchtlingen aus Gefahrengebieten.

Die neu gegründeten Initiativen weisen einen hohen Organisations- und Motivationsgrad auf und waren größtenteils 12 Monate nach ihrer Gründung noch aktiv. Hinsichtlich der Aktivitäten knüpft die derzeitige ukrainische Zivilgesellschaft stark an die Freiwilligen-Initiativen und NGOs an, die sich ab 2014 als Reaktion auf den russischen Überfall auf den Donbas und die Krym gebildet haben. Damals bildeten sich aus bestehenden NGOs sowie aus der Mobilisierung des Maidan zügig Initiativen zur Unterstützung der Binnenflüchtlinge, zur Versorgung der Armee und sowie zur Landesverteidigung. Auf diesen Erfahrungen sowie auf der Anpassung zivilgesellschaftlichen Engagements während der Corona-Pandemie basiert die aktuelle Resilienz: viele NGOs konnten sich erfolgreich an die neue Situation anpassen, ihre Aktivitäten aufrechterhalten, ihre Kommunikation mit Zielgruppen weiterführen, und teilweise sogar ihre Kooperationsnetzwerke erweitern.

Zugleich sind Infrastruktur, Wirtschaft, Energieversorgung und Bildung in der Ukraine seit Februar 2022 fragiler geworden. Ein neuer Bereich zivilgesellschaftlicher Arbeit bezieht sich daher auch auf die Aufrechterhaltung der Wirtschaft und Agrarproduktion, die Wiederherstellung von Infrastruktur, die Unterstützung von Künstler:innen, den Kampf gegen Falschinformationen und die Verbreitung ukrainischer Literatur im Ausland.

Auch in Hilfsangeboten von Kommunen und Unternehmen spielen Freiwillige eine wichtige Rolle. Die Versorgung mit provisorischen Unterkünften in Modulbauten, privaten Wohnungen oder Gemeinderäumen, die Herstellung von Kleidung oder Munition für das Militär oder auch kostenlose medizinische Behandlung für Binnenflüchtlinge und Militärangehörige sind neue Bereiche, in denen Freiwillige gemeinsam mit Behörden und Firmen zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Grundfunktionen in der Ukraine beitragen.

Die große Bandbreite an Aktivitäten zeigt sowohl eine Kontinuität des zivilgesellschaftlichen Engagements vieler Ukrainer:innen seit 2014 als auch die klare Orientierung an akuten Bedarfen und lokal vernetzter Zusammenarbeit. Beispiele dafür sind der Verlag Meridian Czernowitz, der kurzfristig Lager- und Logistikkapazitäten für humanitäre Hilfe umwidmen konnte, oder Kyjiwer Think Tanks, die Personal und Material für die Versorgung in frontnahen Gebieten bereitstellten.

Zweitens: Widerstand und Partisanenbewegung

Als besondere Form des zivilgesellschaftlichen Engagements ist der Widerstand in den von Russland besetzten Gebieten zu betrachten. Bereits in den ersten Tagen nach Beginn der Invasion formierten sich in zahlreichen besetzten Städten in der Südukraine proukrainische Proteste – in manchen dieser Städte waren es die bis dato größten Demonstrationen. Die Proteste in Cherson, Berdjansk, Melitopol, Kachowka und Nowa Kachowka dauerten bis zu zwei Wochen an, bis die schwerbewaffneten Besatzer sie schließlich mittels Verfolgung, Haft und Folter der Aktivist:innen beendeten. Der Widerstand verlagerte sich daraufhin in den Untergrund: es entstanden zahlreiche Widerstandsbewegungen, die in Form von Graffiti, Flyern und kleinen Zeichen an öffentlichen Plätzen die Zugehörigkeit zur Ukraine symbolisch bekundeten und beispielsweise auch zum Boykott der Scheinreferenden aufriefen. Die bekannteste Bewegung ist die »Gelbe Schleife«, deren Mitglieder die Symbole der Bewegung – eine gelbe Schleife auf blauem Untergrund oder den einzigartigen ukrainischen Buchstaben »ї« – als Zeichen des pro-ukrainischen Widerstands im öffentlichen Raum verwenden. Ziel ist es, durch zivilen Ungehorsam, pro-ukrainische Informationen und psychologischen Druck die Präsenz pro-ukrainischer Kräfte in den besetzten Gebieten zu zeigen und zu stärken. Ein weiteres Mittel des zivilen Ungehorsams ist die Weigerung von Arbeiter:innen und Angestellten, mit den Besatzern zusammenarbeiten, was insbesondere in den Bereichen Energie- und Transportinfrastruktur, aber auch Bildung und Verwaltung zu Personalproblemen führt.

Zudem hat sich in den besetzten Gebieten eine Partisanenbewegung gebildet, die zum Teil bereits auf Partisanenaktivitäten aus den Jahren 2014–2015 in den damals schon besetzten Teilen der Region Luhansk zurückgeht. Im Jahr 2022 waren Partisanengruppen in den neu besetzten Regionen, aber auch auf der Krym und in Luhansk aktiv; als Zentrum gilt Melitopol. Neben gewaltfreiem Widerstand und Informationskampagnen sind Partisanen auch in der Zerstörung von Infrastruktur, die für die Besatzungsmacht wichtig ist, aktiv. Aber vor allem direkte Aktionen gegen russische Militärs und Kollaborateure gehören zum Spektrum des aktiven Widerstands. Derzeit lassen sich mindestens drei größere Partisanen-Netzwerke unterscheiden: die in der Oblast Saporischschja aktive Berdiansk Partisan Army; die bereits im September 2021 im Donbas gegründete Popular Resistance of Ukraine sowie die unter anderem auf der Krym aktive Gruppe Atesh, die auch von krimtatarischen Aktivist:innen mitgegründet wurde. Der Anteil von Freiwilligen zu professionellen Soldaten wird auf 40:60 geschätzt. Allen drei Gruppen ist gemein, dass sie im Wesentlichen über Telegram, die derzeit wichtigste Plattform für Information und Organisation des ukrainischen Widerstands, mobilisieren. Zudem stellen alle drei Bewegungen eine permanente Bedrohung für das russische Militär und die Besatzungsbehörden weit hinter der Frontlinie dar.

Am Beispiel der Widerstandsgruppen lässt sich zudem zeigen, wie staatliche und gesellschaftliche Akteur:innen mittlerweile in der Ukraine zusammenarbeiten: Zur Unterstützung des gesellschaftlichen Widerstands wurde im März 2022 das staatliche Zentrum des nationalen Widerstands der Ukraine gegründet. Das Zentrum untersteht dem Sondereinsatzkommando der ukrainischen Streitkräfte und wurde im Rahmen des im Juli 2021 beschlossenen Gesetzes »Die Grundlagen des nationalen Widerstands« etabliert. Ziel ist es, Informationen, Instruktionen und Online-Materialien für den aktiven Widerstand anzubieten, die Partisanenaktivitäten zu koordinieren und effektiver zu machen sowie Informationen über Verbrechen der Besatzer zu sammeln und bereitzustellen.

Drittens: Verluste

Der adaptiven Resilienz der Zivilgesellschaft sind durch den kriegsbedingten Verlust von Infrastruktur, Finanzierung und letztlich Personal bzw. engagierten Menschen aber Grenzen gesetzt. Ehrenamtliches Engagement ist massiv von der Zerstörung der Infrastruktur durch russische Angriffe betroffen; und zahlreiche Tätigkeiten wie z. B. Logistik humanitärer Hilfsgüter oder Hilfe für Binnenflüchtlinge sind lebensgefährlich. Die Zerstörung der Städte in den besetzten Gebieten umfasst die Zerstörung von Kulturorten, die Binnenflüchtlinge aus den Oblasten Donezk, Luhansk und von der Krym nach dem Beginn des Krieges im Frühjahr 2014 in ostukrainischen Städten gegründet hatten. Wie viele dieser Initiativen an anderen Orten inner- oder außerhalb der Ukraine ihre Arbeit wieder aufnehmen konnten, ist bislang nicht bekannt.

Hinzu kommt, dass zahlreiche Aktivist:innen aus der Zivilgesellschaft sich den Streitkräften angeschlossen haben. Die Motivation für das zivilgesellschaftliche Engagement und seit Februar 2022 für die Landesverteidigung wird von den Aktivist:innen häufig ähnlich und als Kontinuität formuliert: So, wie man bisher als Teil einer NGO oder eines Think Tanks für eine demokratische, europäische und freie Ukraine gekämpft habe, müsse dies nun mit der gleichen Zielsetzung, aber anderen Mitteln an der Front fortgesetzt werden.

Die Kontinuität des Narrativs »Freiheitskampf«, das seinen aktuellen Ursprung in der Revolution der Würde hat, aber weit in die ukrainische Geschichte zurückreicht, ist in den individuellen Erzählungen zum Übergang von der NGO-Arbeit in die Landesverteidigung sehr präsent. Dies zeigt sich auch in einem Projekt des Ukraine-Instituts, der staatlichen ukrainischen Einrichtung für Kulturdiplomatie. Unter dem Titel »Culture Fights Back« präsentiert das Institut aktuell 30 Portraits von Künstler:innen, Schauspieler:innen, Musiker:innen, Schriftsteller:innen und Zivilgesellschaftsaktivist:innen, die aus ihrer künstlerisch-zivilgesellschaftlichen Tätigkeit heraus in die Streitkräfte gewechselt sind. Fünf von ihnen sind im Kampf durch russische Angriffe getötet worden. Eine besonders bekannte Persönlichkeit unter den Gefallenen war Roman Ratuschnyj, der im November 2013 als 16-Jähriger einer der ersten Protestierenden auf dem Maidan war und im Jahr 2018 eine Initiative gegen die Bebauung einer Grünfläche in Kyjiw gründete. Unmittelbar nach dem Beginn der Invasion verteidigte er zunächst die Hauptstadt und schloss sich schließlich dem ukrainischen Militär an. Im Juni 2022 geriet er an der Front in einen feindlichen Hinterhalt und kam ums Leben.

Ähnliche Geschichten wie jene Ratuschnyjs tragen sich derzeit im Umfeld zahlreicher NGOs und Initiativen in der Ukraine zu. Neben zehntausenden getöteten oder verletzten Zivilist:innen und Kämpfenden ist bekannt, dass mehrere hundert pro-ukrainische Aktivist:innen in den besetzten Gebieten von russischen Besatzern entführt und/oder getötet worden sind. Allein in der Region Cherson wurden zwischen März und Juli 2022 mehr als 300 Aktivist:innen sowie 63 Vertreter:innen der lokalen Selbstverwaltung festgenommen, entführt, gefoltert oder getötet bzw. galten als vermisst.

Für die Zukunft der ukrainischen Zivilgesellschaft bedeutet dies, dass »man gerade die Besten verliert«, wie Aktivist:innen in sozialen Netzwerken immer wieder betonen. Das außerordentlich hohe Engagement eines Großteils der Gesellschaft für den Erhalt der souveränen Ukraine steht den furchtbaren Verlusten an erfahrenen NGO-Aktivist:innen, Künstler:innen und Journalist:innen entgegen. Hinzu kommt ein zu befürchtender anhaltender Brain-Drain aufgrund der forcierten Flucht vieler Aktivistinnen in europäische Nachbarländer durch die Invasion. Die ukrainische Zivilgesellschaft steht mindestens in der Gefahr, einen relevanten Teil ihrer klügsten und engagiertesten Köpfe physisch zu verlieren.

Viertens: Neuaufbau & Transformation

Neben den Initiativen und Organisationen, die seit Februar 2022 in den Bereichen Humanitäre Hilfe, Verteidigung, Flucht und Sozialfürsorge aktiv geworden sind, lassen sich im gesamten Land zahlreiche Initiativen zum Wiederaufbau beobachten. Dieser bezieht sich nicht nur auf Infrastruktur oder materiellen Wiederaufbau, sondern auch auf soziale Innovation und gesellschaftlichen Wandel.

Da der Wiederaufbau zu einem hohen Anteil von nichtstaatlichen Akteur:innen geleistet wird, enthalten viele Projekte deren Visionen einer künftigen ukrainischen Gesellschaft. Indem NGOs und Aktivist:innen oft gerade jene Projekte und Ideen in den Wiederaufbau einbeziehen, an denen sie seit der Revolution der Würde oder länger arbeiten, sind Transformation und gesellschaftliche Erneuerung schon jetzt prägende Themen. Die folgenden selektiven Beispiele illustrieren, wie aus der Aufgabe des Wiederaufbaus tatsächlich ein Neuaufbau wird, der zur gesellschaftlichen Modernisierung der Ukraine beitragen kann.

Die Stadt Tschernihiw im Norden der Ukraine wurde gleich zu Beginn der Vollinvasion von russischen Truppen schwer zerstört. Bei gezielten Angriffen Russlands auf eine Lebensmittelverteilungsstelle, ein Krankenhaus und ein Wohnviertel starben etwa 700 Menschen. Neben zahlreichen Schäden an jahrhundertealten Kirchen, Klöstern und anderen historischen Gebäuden wurden fast 3.000 Privathäuser zerstört. Nach der Befreiung Ende März 2022 begann der Fotograf Walentyn Bobyr gemeinsam mit Freunden, an Wochenenden die zerstörten Privathäuser wieder aufzubauen. Um mehr Helfende zu gewinnen, postete er Fotos der Aktionen verbunden mit einem Unterstützungsaufruf in den sozialen Medien. Nach kurzer Zeit kamen professionelle Handwerker:innen und weitere Bürger:innen dazu. Um die wachsende Zahl von Helfenden mit angemessenem Werkzeug auszustatten, gründete Bobyr die NGO »Bo moschemo« (»Weil wir es können«) und sammelte auch international Spendengelder ein. Ein weiteres Beispiel für die Reorganisation der Zivilgesellschaft ist die NGO »District One«, die sich vor 2022 mit dem Ziel der Nachbarschafts- und Stadtentwicklung im Zentrums Kyjiws rund um die Reitarska-Straße gegründet hatte, sich aber seit April 2022 im Wiederaufbau der befreiten Städte und Dörfer engagiert.

Aus manchen Wiederaufbauprojekten ergeben sich Folgeprojekte zur Spendensammlung: Die Künstlerin Anastasia Hornitschar erstellte – angeregt durch Bobyrs Fotos der zerstörten Bibliothek in Tschernihiw – eine Sammlung von Papiermodellen zerstörter Gebäude, und verkaufte diese zu Gunsten des Wiederaufbau. Ein weiteres Projekt ist »Virtual Ukraine«, das bereits im Jahr 2015 als virtuelle Besuchserfahrung für Tourist:innen gegründet wurde, nun aber geolokalisiert zerstörte Gebäude zeigt und zugleich eine wichtige Datengrundlage für den Wiederaufbau sein kann.

Darüber hinaus entwickeln sich Kunst- und Kulturinitiativen zu Orten der gesellschaftlichen Resilienz. Das 2018 gegründete Dnipro Center for Contemporary Culture (DCCC) dient seit 2022 als Nachbarschaftstreff, Kultur- und Bildungsort für Geflüchtete und Stadtbewohner:innen. Durch Spenden und Fördergelder konnte das soziale Zentrum ausgeweitet werden und zu einem Integrationsort für sich verändernde Stadtgesellschaft werden. Neben der sozialen Arbeit sehen die Aktivist:innen aber die Kunst stärker denn je als ein Mittel zum Erhalt der gesellschaftlichen Resilienz in der Ukraine:

»Kultur [ist] eine gemeinsame Grundlage für uns alle. […] Kultur ist zu einem Weg des Widerstands und gleichzeitig zu einem Weg geworden, sich selbst und seine Identität zu verstehen. Das DCCC als Institution sieht seine Rolle darin, diese Prozesse zu unterstützen

Eine weitere Facette von Wiederaufbau und Transformation zeigt sich in der Arbeit der 2017 gegründeten Umweltorganisation Save Dnipro. Ursprünglich mit dem Ziel, gegen die Luftverschmutzung durch ein städtisches Heizkraftwerk zu protestieren, professionalisierte sich die Organisation zügig, beteiligte sich an der Erarbeitung eines Gesetzes gegen Greenwashing und stellte ab 2018 einen Chatbot zur Verfügung, mit dem Informationen zu umweltspezifischen Register- und Lizenzdaten abgerufen werden konnten. Auf dieser Basis bietet Save Dnipro aktuell Informationen zur Luftreinheit, zur radioaktiven Hintergrundstrahlung sowie über aktuelle Feuer und jeweilige Windverhältnisse in der ganzen Ukraine, wofür sowohl offizielle Messstellen als auch einfache Luftmessgeräte, die von Freiwilligen bedient werden, genutzt werden. Save Dnipro steht beispielhaft für eine hoch professionalisierte Zivilgesellschaft, die einerseits staatliche Aufgaben wie die Messung von Verschmutzung oder Strahlung übernimmt, dabei andererseits durch den Citizen Science-Ansatz zugleich partizipativ und innovativ ist und diesen verfolgt und ausbaut. Durch solche Kooperationen entstehen zugleich neue Netzwerke, beispielsweise zu ökologischem Wiederaufbau und demokratischer Partizipation. Save Dnipro kann als Initiative betrachtet werden, die durch Vernetzung, lokales Engagement und politische wie soziale Resonanz zu ökologischen Themen demokratische Prozesse und gesellschaftliche Modernisierung gerade mit Blick auf den Wiederaufbau fördert.

Fazit: Zur Resilienz der ukrainischen Zivilgesellschaft

Die Facetten der ukrainischen Zivilgesellschaft im Krieg sind äußerst vielseitig. Seit Februar 2022 ist die Zivilgesellschaft in ihren verschiedenen Ausprägungen zu einem Rückgrat der Gesellschaft und insbesondere des Widerstands gegen den russischen Angriff geworden. Die ›aktive Gesellschaft‹, wie sie Amitai Etzioni (1968) beschrieb, spiegelt sich in der Mobilisierung von Freiwilligen, die an das Engagement seit dem Beginn des Krieges im Jahr 2014 und noch weiter an die Selbstmobilisierung der Revolution der Würde anknüpft, in der Verbindung von Kunst, Kultur, Aufbau, Professionalisierung und Innovation und schließlich im subversiven oder offensiven Widerstand in den besetzten Gebieten. Selbstorganisation, Selbstbestimmung und gesellschaftliche Responsivität sind zentrale Kennzeichen der ukrainischen Zivilgesellschaft geworden.

Zudem zeigt sich eine starke Resilienz, die sich analytisch in verschiedene Muster aufteilen lässt. Die starke Freiwilligenbewegung stellt eine adaptive Resilienz dar, die eine unmittelbare Anpassung an eine krisenhafte Situation erfordert, um die grundlegenden Funktionen einer sozialen Einheit wie z. B. einer Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Zugleich werden in der Widerstands- und der Freiwilligenbewegung neue Narrative der ukrainischen Identität etabliert bzw. verstärkt, indem die Begriffe Freiheit, Unabhängigkeit, Demokratie und europäische Integration als zentrale Ziele der Verteidigung betont werden. Diese diskursive Resilienz ist zugleich Identitätsanker wie auch Framing zur Mobilisierung. Als transformative und damit langfristige Resilienz, welche die Gesellschaft selbst mit verändert, lässt sich die Etablierung von neuen Netzwerken, Handlungsmustern und partizipativen Modellen in der Übernahme gesellschaftlicher Aufgaben bezeichnen. Die ukrainische Zivilgesellschaft hat als Teil der gesellschaftlichen Verteidigung gegen den russischen Angriff damit ein hohes Niveau von Beteiligung, gesellschaftlicher Solidarität, Vertrauen und Selbstbewusstsein erreicht, das dem Demokratisierungs- und Europäisierungsprozess der politischen Institutionen des Landes nur zuträglich sein kann.

Lesetipps / Bibliographie

Zum Weiterlesen

Analyse

Der Beitrag lokaler Selbstverwaltungsbehörden zur demokratischen Resilienz der Ukraine

Von Oleksandra Keudel, Oksana Huss
Die Ukraine hat während der großangelegten russischen Invasion seit dem 24. Februar 2022 eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit bewiesen. Diese bezeichnen wir als „demokratische Resilienz“, weil sie von demokratischen Mechanismen unterstützt wurde. Diese drückt sich nicht nur im Engagement der ukrainischen Bürger:innen aus, die der Invasion auf vielfältige Weise Widerstand leisten, sondern auch in der Aufrechterhaltung der Staatlichkeit und Demokratie inmitten des größten Krieges auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. Basierend auf Umfragedaten beleuchtet der folgende Text, welchen maßgeblichen Anteil daran die kommunalen Selbstverwaltungsbehörden haben und wie sie eine auf Bürgerbeteiligung und Kooperation mit nichtstaatlichen Akteuren basierende demokratische Resilienz ermöglichen.
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Kommentar

Russland will die Ukraine kontrollieren – und wird langfristig das Gegenteil erreichen

Von Eduard Klein
Russlands Invasion hat zu einem eklatanten Bruch geführt, allerdings anders, als von Putin und seinen Beratern erwartet worden war: Anstatt eines schnellen Zusammenbruchs des ukrainischen Staates (den es laut Putin gar nicht gibt) ist die ukrainische Gesellschaft – im gesamten Land, unabhängig davon ob West oder Ost – enger zusammengerückt. Wenn Putin mit seinem militärischen Einmarsch etwas zerstört hat, dann nicht den ukrainischen Staat, sondern das Band zwischen der Ukraine und Russland.
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