Einleitung
Die beiden Schlüsselfragen nach mehr als eineinhalb Jahren eines allumfassenden Krieges in der Ukraine bleiben bestehen: Wie kann die Ukraine den Krieg gewinnen, und was muss dafür von Seiten der ukrainischen Verbündeten, einschließlich Deutschlands, getan werden? Diese Kernfragen spiegeln sich auch in den deutschen TV-Talkshows wider, die der Ukraine ab der »Zeitenwende« im Februar 2022 so viel Aufmerksamkeit und Sendezeit zukommen ließen, wie noch nie.
Auch wenn soziale Medien den Printmedien und dem Fernsehen den Rang abzulaufen scheinen und für eine ganz eigene Dynamik der Meinungsbildung sorgen, hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland in der Breite der Bevölkerung immer noch den wichtigsten Einfluss auf die Meinungsbildung. Die Zuschauermarktanteile der größten politischen Talkshows in ARD und ZDF liegen zwischen 10–15 Prozent und 2023 gab es in Deutschland 6,85 Mio. Menschen, die sich »sehr gern« politische Talkshows im Fernsehen ansahen. Deswegen bleibt es umso relevanter, über welche Themen gesprochen wird, welche Akteur:innen in den Talkshows auftreten und welche Positionen dabei vertreten werden und welche Argumente sich letztlich durchsetzen können bzw. beim Publikum ankommen.
Was können Fernsehtalkshows leisten und was nicht? TV-Debatten spitzen zu und fördern die Meinungsbildung. Hintergrundwissen ersetzen sie nicht. Nicht selten verstellen sie sogar den Weg zur Klärung von Sachverhalten. So mancher Schlagabtausch im Studio, der zu hitzigen Debatten führt (wie zum Beispiel zwischen dem ukrainischen Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk und dem Soziologen Harald Welzer am 8.5.2022 in der Talkshow »Anne Will«) zeigt eher die Sprachlosigkeit als das sinnvolle Abwägen von Argumenten. Andererseits können Talkshows zur Verständigung kontroverser Standpunkte führen und im besten Fall dazu beitragen, Mythen und Trugbilder zu falsifizieren.
Untersuchungsgegenstand und Methodik
Die vorliegende Studie basiert auf einer empirischen Untersuchung und bietet eine Übersicht über die deutschen TV-Talkshows zu Russlands Krieg gegen die Ukraine. Damit lässt sich klären, wer vor und nach der großangelegten Invasion 2022 die maßgeblichen Studiogäste waren, die die Debatten geprägt haben, und was sich im Laufe der Zeit verändert hat.
Anknüpfend an eine Voruntersuchung von 2014 zur »Ukraine-Krise in den deutschen Talkshows« von Fabian Burkhardt in den Ukraine-Analysen 135, wurden für die vorliegende Studie alle im überregionalen öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlten TV-Talkshows der Sender ARD, ZDF und Phoenix seit den Euromaidan-Protesten im Herbst 2013, die sich dem Konflikt zwischen der Ukraine und Russland widmeten, ausgewertet.
Um mögliche Veränderungen analysieren zu können, wurden zwei Vergleichszeiträume ausgewählt. Zeitraum 1 umfasst die Zeit von Dezember 2013, dem Beginn der medialen Aufmerksamkeit gegenüber der Ukraine durch die Euromaidan-Demonstrationen, bis zum Vorabend der großangelegten russischen Invasion am 23.2.2022. Zeitraum 2 bildet das erste Jahr des allumfassenden Krieges Russlands gegen die Ukraine vom 24.2.2022 bis zum 23.2.2023 ab. Aufgenommen in die Datensammlung wurden neben den Sendedaten, Teilnehmer:innen und angekündigten Themen auch die berufliche Funktion, das Geschlecht und soweit bekannt die Parteizugehörigkeit und Nationalität der Studiogäste.
Es wurde versucht, alle Sendungen zu berücksichtigen, die einen inhaltlichen Bezug im Titel beziehungsweise den Ankündigungen zu den Gästen erkennen lassen. Sendungen, die verschiedene Themenschwerpunkte hatten, wurden berücksichtigt, wenn zumindest ein Studiogast mit einem Beitrag zum Krieg in der Ukraine im Programm angekündigt war. Sendungen mit Einzel-Interviews wurden nicht berücksichtigt, ebenso wenig reine Gesprächsrunden unter Journalist:innen, wie z. B. der »Presseclub« auf Phoenix.
Bei der Themeneingrenzung muss man die Überlagerung der Debatte um den richtigen Umgang mit Russland berücksichtigen, die auch Fragen zum IS, Russlands Eingreifen in Syrien und Vergleichen zwischen Putin, Erdogan und Trump diskutierten. Bei diesen Gesprächsrunden ging es nicht immer um die Ukraine. Die Sendungen wurden dann in die Auswertung mit aufgenommen, wenn der außenpolitische Konflikt mit Russland und die Frage nach der richtigen Politik diesbezüglich zur Sprache kam. Dazu gehören auch Themenschwerpunkte zur NATO oder zu Nord Stream 2.
Insbesondere im Zeitraum von 2014 bis 2022 sind auch Sendungen berücksichtigt worden, die die politische Entwicklung innerhalb Russlands thematisierten, ebenso Besuche deutscher Politiker im Kreml. Sendungen ab 2022, die sich nur mit den innenpolitischen Konsequenzen des Krieges hierzulande beschäftigten, wie übergreifende Flüchtlings- oder Energiefragen, die aber nicht weiter auf die Lage in der Ukraine eingingen, wurden nicht berücksichtigt.
Die inhaltliche Dynamik und unterschiedlichen Kontroversen zu rekonstruieren, würde aufgrund der schieren Menge an Daten den Rahmen der vorliegenden Analyse sprengen: Allein seit dem großangelegten russischen Angriff im Februar 2022 bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung liegen rund 19.500 Sendeminuten intensiver Debatten vor. Die Studie kann die komplexe Dynamik der Debatte daher nur grob umreißen und zu einer umfangreicheren Aufarbeitung und Kontroverse einladen (die Daten werden demnächst auf www.discuss-data.net zugänglich gemacht).
Entwicklung der Themen und Häufigkeit der Sendungen seit 2013
Wie hat sich die Aufmerksamkeit gegenüber dem Konfliktraum Russland-Ukraine generell verändert? Die inhaltlichen Schwerpunkte der Talkshows orientieren sich an zentralen Ereignissen. Standen am Anfang die Proteste auf dem Maidan und die Okkupation der Krim sowie die Lage im Donbas im Vordergrund, ging es zunehmend um die Frage des adäquaten Umgangs mit Russland.
Betrachtet man die Aufmerksamkeitskurve bzw. Häufigkeit der Sendungen, ist sie ein guter Indikator für das mediale Interesse an den Vorgängen in der Ukraine. Der Verlauf zeigt, dass nach einer sehr intensiven Phase (allein 15 Sendungen im März 2014) die Häufung der Talkshows mit Ukraine-Russland-Bezug bis zum Nachgang des Minsk II-Abkommens im Februar 2015 (allein in jenem Monat 9 Sendungen) relativ hoch blieb und erst danach stark nachließ.
Die inhaltlichen Schwerpunkte verlagerten sich zunehmend auf Russland, beziehungsweise den Umgang mit der Politik des russischen Präsidenten. Die gravierenden innenpolitischen Veränderungen in der Ukraine nach dem Maidan spielten ab dem Jahr 2015 in den Talkshows keine Rolle mehr, wenn sie davor je angemessen reflektiert waren. Mit der Ermordung von Boris Nemzow im Februar 2015 verlagerte sich der Blick zunehmend auf die innenpolitische Situation in Russland.
Quantitativ lässt sich festhalten, dass 2014 insgesamt 44 Sendungen und 2015 immerhin noch 22 Talkshows zu den genannten Themenkomplexen ausgestrahlt wurden. Von 2016 bis 2022 gab es dann nur zwischen 3 und 7 Sendungen pro Jahr. Lediglich 2018 kam es mit 12 Sendungen noch einmal zu einem größeren Interesse der TV-Diskussionsrunden, allerdings weniger wegen der Ukraine sondern eher Russland-bezogenen Themen wie dem Syrienkrieg, der Gegenüberstellung Trumps vs. Putin (auch Dauerbrenner 2017), dem Vergiftungs-Fall Skripal sowie der Fußballweltmeisterschaft in Russland (Grafik 1).
Der russische Überfall am 24.2.2022 auf die Ukraine und der sich abzeichnende größte Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg sprengte dann jeglichen Vergleich auch in der Häufigkeit der Talkshows. Allein im Jahr 2022 gab es doppelt so viele TV-Talkshows wie im gesamten analysierten Zeitraum zuvor: Von 2013 bis Ende 2021: 106, von Januar bis Dezember 2022: 235. Die Frequenz blieb bis Ende Juni 2022 sehr hoch (24 bis 45 Sendungen pro Monat) und sank dann bis Dezember 2022 auf durchschnittlich 5 Sendungen pro Monat. 2023 lag das Interesse am Thema mit ca. 10 bis 20 Sendungen pro Monat unter dem Wert der ersten Kriegsmonate, war aber immer noch sehr hoch (Grafik 2).
Die Themenschwerpunkte seit der großangelegten Invasion sind breit gefächert: die Lage der Not leidenden Zivilbevölkerung, Flüchtlingsfragen, Sanktionen und Auswirkungen auf andere Länder (Energie, Getreide-Abkommen), die Rolle des ukrainischen Präsidenten, Chinas und übergreifende Fragen zur Sicherheitspolitik – um nur einige zu nennen. Maßgeblich waren die Talkshows aber durch die unmittelbare Kriegsentwicklung gezeichnet: von der überraschenden Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Armee, den Kriegsverbrechen Russlands und der Frage nach der angemessenen militärischen Unterstützung der Ukraine, die zunehmend diskutiert wurde.
Drei Fragestellungen tauchen besonders häufig auf: 1. Droht eine Eskalation des Krieges, 2. Wie steht man zu Waffenlieferungen? und 3. Wie lange wird der Krieg noch dauern und wie lässt er sich beenden? Besonders die Forderung nach Friedensverhandlungen, die Sicherheitsexpert:innen in naher Zukunft für wenig erfolgversprechend halten, ist eine Besonderheit der Debatte in Deutschland. Ebenso auffällig war die häufige Verwendung einer »drohenden Eskalation«, die angesichts der am Maximum operierenden militärischen Verbände Russlands schon semantisch fragwürdig ist. Oft wurde dieser Zusammenhang mit der Spekulation eines Einsatzes von Atomwaffen verbunden, die immer wiederkehrend vom Großteil der Expert:innen als unwahrscheinlich eingestuft wurde. Inwieweit die zögerliche Haltung der Bundesrepublik bei den Waffenlieferungen möglicherweise den Kriegsverlauf zu Lasten der Ukraine geprägt hat, müssen spätere Studien zeig. Diese Frage scheint in letzter Zeit, auch nach dem Untersuchungszeitraum, zunehmend die Debatten in den Talkshows zu beschäftigen.
Auswertung der Basisdaten zu Sendungen und eingeladenen Gästen
Für den Zeitraum 1 bis zur großangelegten Invasion sind 132 Sendungen mit 562 Gäste-Einladungen ausgewertet worden, woraus sich 263 Einzelpersonen identifizieren ließen. Im Zeitraum 2, dem ersten Kriegsjahr seit der Invasion, wurden 242 Sendungen mit 1.105 Gäste-Einladungen bzw. 457 Einzelpersonen in die Auswahl aufgenommen. Insgesamt liegen dieser Studie somit 374 ausgewertete Sendungen mit 1.667 Einladungen von Studiogästen zugrunde. Vergleicht man die Einladungen über den gesamten Zeitraum, lassen sich insgesamt 613 unterschiedliche Gäste identifizieren, die zu den Sendungen in die Studios eingeladen wurden.
Die Zusammensetzung der Gäste nach Berufszuordnung stellt sich wie folgt dar: Unter den Gästen waren im ersten Zeitraum 37 Prozent Journalist:innen (Zeitraum 2: 29 Prozent), 37 Prozent (35 Prozent) Politiker:innen, 16 Prozent (22 Prozent) Wissenschaftler:innen und Expert:innen, sowie 4 Prozent (8 Prozent) ausgewiesene Militärexpert:innen (siehe Grafik 3). Der Anteil der eingeladenen Ukrainer:innen lag in beiden Zeiträumen im Schnitt bei rund 6 Prozent; der der russländischen Gäste sank von 12 Prozent auf 2 Prozent (zum Ungleichgewicht im Jahr 2014 vgl. Ukraine-Analysen 135).
Auf den ersten Blick mag sich über die Zeit wenig an der Zusammensetzung geändert haben. Man sollte aber die auffälligste Veränderung nicht unterschätzen: im Vergleich der beiden Zeiträume ist der Anteil von Wissenschaftler:innen, Expert:innen und Militärfachleuten stark gestiegen; während der Anteil an Journalist:innen zurückging.
Fragt man nach der Ausgeglichenheit der Einladungspolitik, gerät auch die Verteilung der Parteimitglieder unter den Studiogästen in den Blick. Der Proporz der Parteizugehörigkeit sollte nicht überbewertet werden, sind die Kompetenzschwerpunkte in den Parteien unterschiedlich verteilt. Man kann eher von Glück sprechen, dass die TV-Redaktionen vor allem nach 2022 zunehmend nach Kompetenz und Relevanz einluden und nicht nach einem strikten Parteiproporz. Trotzdem ist es interessant, wenn man den Parteien-Proporz der eingeladenen Gäste mit den Ergebnissen der Bundestagswahlen 2013, 2017 und 2021 vergleicht (Grafik 4).
Bei SPD und CDU ist die Abweichung vom Einladungsproporz zu den Wahlergebnissen im Vergleichszeitraum verschwindend gering, bei der FDP mäßig (Abweichungs-Faktor 0,7 bis 1,3). Die Grünen waren vor 2022 um einen großen Faktor von 2,8 stärker repräsentiert im Vergleich zu ihren Wahlergebnissen, ab 2022 weniger (Faktor 1,5). Die Linkspartei wurde sowohl vor der »Zeitenwende« als auch nach Beginn des Angriffskrieges jeweils um einen Faktor von 1,9 stark überproportional eingeladen. Lediglich die AfD ist deutlich seltener repräsentiert im Vergleich zu ihrem Wahlergebnis. Schaut man sich die wenigen Sendungen mit Beteiligung der AfD an, wie zum Beispiel mit dem Parteivorsitzenden Tino Chrupalla am 21.6.2023 bei »Maischberger« versteht man, warum. Die Verdrehung von Tatsachen und das Ignorieren der einfachsten Prämissen außenpolitischer Verhältnismäßigkeit verhindern schlicht eine seriöse Debatte.
Wer dominiert die TV-Debatten?
Die Einladungspolitik der Talkshows zeigt, dass es auch hier nach dem 24.2.2022 eine »Zeitenwende« gab. Waren noch kurz vor dem Angriff viele medial prominente pro-russische Stimmen wie der Gazprom-Berater Alexander Rahr (Phoenix Runde, 23.2.2022), die Russland-Autorin Gabriele Krone-Schmalz (Markus Lanz, 22.2.2022) oder Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht (Anne Will, 20.2.2023) gern gesehene Studiogäste, wurden sie nach dem Angriff durch neue Gesichter ersetzt, die davor nur wenige kannten bzw. die davor nie zu einer der untersuchten Talkshows eingeladen waren, wie z. B. die Sicherheitspolitik-Expertin der SWP Claudia Major, die Zeit-Journalistin Alice Bota oder der Militärexperte Carlo Masala.
Betrachtet man die Rangliste der am meisten eingeladenen Studiogäste vor dem russischen Großangriff, sind auf den ersten drei Plätzen ausgerechnet die Akteure zu finden, die eindeutig pro-russische Positionen vertreten: Auf dem ersten Platz findet sich der Lobbyist Alexander Rahr zusammen mit Dmitri Tultschinski, Büroleiter der staatlichen russischen Nachrichtenagentur »Ria Nowosti« in Deutschland, gefolgt vom ehemaligen Generalinspektor Harald Kujat (Grafik 5). Sie reden Russlands aggressive Haltung gegenüber der Ukraine klein und sehen die Ursache für den Konflikt nicht beim eindeutigen Aggressor Russland, sondern der NATO.
Dahinter folgen zwar dezidierte Transatlantiker wie der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen, der Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger und Ursula von der Leyen, die zum damaligen Zeitraum Verteidigungsministerin war. Aber auf den nächsten Plätzen folgen mit wenigen Ausnahmen wieder ausgesprochene Russland-Apologet:innen wie Gabriele Krone-Schmalz oder RT-Chefredakteur Ivan Rodionov, der offen die völkerrechtswidrige Annexion der Krim verteidigt.
Zieht man die Sendungen des Spartenkanals Phoenix ab, der über eine vergleichsweise sehr geringe Reichweite verfügt, und berücksichtigt nur die einschaltstärkeren Sendungen in ARD und ZDF, liegt die ehemalige Moskau-Korrespondentin Krone-Schmalz sogar unter den ersten drei der meist eingeladenen Studiogäste im öffentlich-rechtlichen Fernsehen im Zeitraum vor 2022. Auch weitere in den Top-15 platzierte Studiogäste wie Putin-Biograf Hubert Seipel, die russische Journalistin Anna Rose oder die Linkenpolitiker Dietmar Bartsch und Gregor Gysi fielen in der Zeit vor 2022 nicht durch ihre kritische Einordnung der russischen Außenpolitik auf.
Es ließe sich zu den inhaltlichen Konsequenzen, die sich aus dieser einseitigen Einladungspolitik ergaben, viel sagen, und es lässt zumindest die Frage aufkommen, inwiefern die Talkshows dem Programmauftrag der Öffentlich-Rechtlichen nach »Ausgewogenheit« nachkamen.
Wie die Zeiten sich nach dem 24.2.2022 schlagartig geändert haben, wird vor allem daran deutlich, wer quasi über Nacht nicht mehr eingeladen wurde: Harald Kujat, Gabriele Krone-Schmalz, Dmitri Tultschinski oder Ivan Rodionov, um nur die am stärksten exponierten pro-russischen Dauergäste zu nennen. Stattdessen stieg die Anzahl der Expert:innen und Politiker:innen, die sich mit sicherheitspolitischen Fragen und einer kritischen Haltung gegenüber Russland hervorgetan haben (Grafik 6).
Die Rangliste der meisten Einladungen nach der großangelegten Invasion führen Norbert Röttgen (CDU), Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Roderich Kiesewetter (CDU), Carlo Masala (Universität der Bundeswehr) und Claudia Major (SWP) an. Der Unterschied zu der Zeit vor der Zeitenwende ist offensichtlich. Dass nach dem Angriff vermehrt Verteidigungsexpert:innen eingeladen wurden, ist nicht erklärungsbedürftig. Erfreulich ist die große Zahl an Wissenschaftler:innen, die nicht durch ihre steilen Thesen im polarisierten medialen Meinungsstreit über Russland auffielen, sondern sich seit Jahren mit komplexen sicherheitspolitischen Fragen beschäftigt haben und ihre fundierte Expertise in die Debatte einbringen konnten. Unter den ersten 20 Plätzen befinden sich entsprechend viele dezidierte Sicherheitsexpert:innen, Außen- oder Verteidigungspolitiker:innen oder Gäste mit Ukraine-Expertise (siehe Grafik 6 und auch die Fach-Rankings Grafik 7, 8 und 9).
Somit haben auch die Redaktionen nach der »Zeitenwende« eine große Korrektur ihrer Einladungspolitik vorgenommen. Festzuhalten ist, dass aber auch Vertreter:innen eines kritischen Kurses – gegen eine militärische Unterstützung der Ukraine – in die Talkshows eingeladen wurden, wie Ralf Stegner (SPD), Erich Vad (Brigadegeneral a. D.), Johannes Varwick (Politologe) oder Sahra Wagenknecht (Die Linke), wenngleich diese beim Ranking nicht in den Top-20 vertreten sind.
Resümee: Die »Zeitenwende« der Talkshows?
Was bedeutet diese Zäsur für die Debatte, und hat man vor allem aus den Fehlern in der Vergangenheit gelernt? Die positive Veränderung der deutschen TV-Talkshows betrifft nicht nur die Einladungspolitik, sondern auch die »Dramaturgie« mancher Talkshow. Waren vor 2022 viele Diskussionsrunden durch eine starke Polarisierung mit fragwürdigem Erkenntnisgewinn geprägt, die nicht selten den Eindruck eines multiperspektivischen Durcheinanders evozierten, dominierte nach dem Wendepunkt 2022 tatsächlich ein konstruktiverer Tonfall, der vermehrt nach einem Konsens sucht, wie mit der neuen Situation umzugehen ist. Ob dem tatsächlich ein Paradigmenwechsel zugrunde liegt und sich der Fokus von einem manchmal beliebigen Meinungspluralismus hin zu einer eher lösungsorientierten Debatte verlagert hat, müsste man für die einzelnen Talkshow-Formate vergleichend untersuchen bzw. wird sich vielleicht auch erst mit der Zeit zeigen. Positiv aufgefallen ist beispielsweise das Format »Markus Lanz«, das einzelne Studiogäste ausführlicher über Sachverhalte Auskunft geben ließ und auf so manchen Disput verzichtete.
Die Einladungen von Politiker:innen mit umstrittenen Positionen wie Sarah Wagenknecht (Die Linke) oder Tino Chrupalla (AfD), zeigen aber einen fatalen Rollback. Man bietet Akteur:innen erneut eine Bühne, die keine Bereitschaft zeigen, ihre eigene Haltung aufgrund der neuen weltpolitischen Lage zu korrigieren oder ihre Positionen, beispielsweise zu Waffenlieferungen, nur ansatzweise seriös zu diskutieren. Würde man diese extrem populistischen Standpunkte in Zukunft wieder vermehrt in die Debatte einbringen, droht der konstruktivere Ansatz unterlaufen zu werden.
Mit dieser verzögerten Umorientierung in Deutschland hat man schlicht wertvolle Zeit verloren, einen Konsens in der deutschen Politik und Gesellschaft herzustellen, der die Unterstützung der Verteidigungsbereitschaft der Ukraine überhaupt nur erlaubt. Man kann nur hoffen, dass ein konstruktiver, den komplexen Umständen geschuldeter lösungsorientierter Ansatz die Debatte im deutschen Fernsehen zunehmend prägt.