Deutschland: Ein Schlüsselakteur in der neuen Kriegsphase?

Von Mattia Nelles (Deutsch-Ukrainisches Büro, Düsseldorf)

Eintritt in eine schwierige Kriegsphase

Während die westliche Öffentlichkeit die letzten Wochen gebannt auf die Entwicklungen im Nahen Osten und in Gaza blickt, geht der russische Angriffskrieg langsam in eine neue, für die Ukraine schwierige Phase über. Nach dem Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive ist Ende 2023 kaum absehbar, wann das Land in den nächsten Monaten genug ausgebildete und ausgeruhte Soldat:innen, Equipment und Munition zusammenziehen kann, um die Befreiung der von Russland besetzten Gebiete fortzusetzen. Allmählich versiegen die Bestände an Munition und Ersatzteilen für die alten Sowjetsysteme. Nach der Euphorie infolge der signifikanten Befreiungen in 2022 und den hohen Erwartungen an die eigene Sommeroffensive in diesem Jahr, herrscht aktuell Ernüchterung und Ermüdung – die aber nicht mit Defätismus zu verwechseln sind. Umfragen zeigen immer noch, dass eine große Mehrheit trotz oder vielleicht gerade wegen der Verluste das Einfrieren des Krieges auf Kosten von Gebietsverlusten ablehnt.

Gleichzeitig hat Russland trotz eigener hoher Verluste an Soldaten und Material und den Sanktionen auf Kriegswirtschaft umgeschaltet. Gute 40 Prozent des Staatshaushalts werden 2024 für Armee und Sicherheitsdienste ausgegeben. Die Armee soll im nächsten Jahr noch einmal um 300.000 Soldaten vergrößert werden. Gleichzeitig ist klar, dass Wladimir Putin an seinen Kriegszielen, der Unterwerfung und Zerstörung der Ukraine, festhält. Putin setzt darauf, dass die westliche Unterstützung langfristig abnimmt und seine Streitkräfte trotz immenser Verluste die Ukraine eines Tages doch noch militärisch schlagen können.

Rückläufige internationale Unterstützung

Ausgerechnet in dieser schwierigen Zeit zeigen die neuesten Daten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IFW) einen starken Rückgang westlicher Ukraine-Hilfen. Zwischen August und Oktober diesen Jahres belief sich der Gesamtwert neuer Pakete auf nur 2,11 Mrd. Euro. Das ist der niedrigste Betrag seit Januar 2022 und bedeutet einen fast 90-prozentigen Rückgang gegenüber dem gleichen Zeitraum im Jahr 2022. Die rückläufigen Zusagen bedeuten, dass die Ukraine zunehmend auf eine Kerngruppe von Ländern wie die USA, Deutschland sowie nord- und osteuropäische Staaten angewiesen ist, schreibt das IFW.

Sowohl Ukrainer:innen als auch Europäer:innen blicken derweil mit großer Sorge auf die innenpolitischen Auseinandersetzungen über die US-amerikanischen Ukraine-Hilfen, denn die USA ist der mit Abstand wichtigste Unterstützer der Ukraine. Mit Stand Anfang Dezember ist völlig unklar, ob und wann das von Biden vorgeschlagene Hilfspaket im Gesamtumfang von 106 Milliarden US-Dollar, von denen 61 Mrd. US-Dollar für die Ukraine vorgesehen sind, verabschiedet wird. Inmitten der politischen Streitigkeiten appellierte Präsident Joe Biden an die Republikaner, militärische Hilfen für die Ukraine nicht zu blockieren. Ohne sie könne Putin siegen und NATO-Länder angreifen und dann würden amerikanische Soldaten direkt kämpfen müssen, so Präsident Biden.

Wegen dieser für die Ukraine so schwierigen Großwetterlage titelte der Economist jüngst sogar: “Putin seems to be winning the war in Ukraine—for now”. Als einen der Hauptgründe dafür sieht das britische Magazin das Fehlen einer strategischen Vision insbesondere in Europa sowie den politischen Willen, der Ukraine entschlossener zu helfen.

Deutschland muss mehr Verantwortung übernehmen

Genau an diesem Punkt kommt es auf Europa und vor allem auf Deutschland an, mehr Verantwortung für die Ukraine zu übernehmen. Die europäischen Partner täten gut daran, sich schon jetzt auf die mögliche Wahl von Donald Trump vorzubereiten, was den Ausfall Amerikas als wichtigste Stütze der Ukraine-Hilfe bedeuten könnte. Mit 21 Milliarden Euro an Hilfen für die Ukraine, darunter 17 Mrd. an militärischen Hilfen, steht Deutschland als zweitgrößter Geber hinter den USA grundsätzlich gut dar.

Auch wegen der kontinuierlichen Unterstützung und der aktiven Bereitstellung von Flugverteidigungssystemen ist Deutschlands Ansehen nach dem anfänglichen Zögern zu Beginn der Vollinvasion gestiegen. Jüngste Umfragen des New Europe Centre zeigen etwa, dass das Vertrauen der Ukrainer:innen in Olaf Scholz trotz des Zögerns bei den dringend benötigten Taurus-Marschflugkörpern im Vergleich zu 2022 um rund 12 Prozent (von 49,2 auf 61,4 Prozent) gestiegen ist. Zuletzt einigte sich die Ampel-Koalition, die Militärhilfen für die Ukraine von vier auf acht Milliarden Euro zu verdoppeln. Die höheren Militärausgaben sind wichtig, decken aber lediglich die erwarteten Bedarfe der Ukraine ab und ersetzen keinesfalls den drohenden Rückgang oder gar Wegfall der U.S.-Hilfen.

Das langsame Hochfahren der Rüstungsindustrie und das Scheitern der Produktion von einer Millionen Artilleriegeschosse bis März 2024 zeigen, dass Deutschland und Europa nicht auf einen längeren Krieg vorbereitet sind. Nach fast zwei Jahren Vollinvasion sind die Bestände der Bundeswehr und Industrie größtenteils erschöpft und es werden kaum noch vorhandene Systeme abgegeben werden können, ohne die eigene Landes- und Bündnisverteidigung zu schwächen. Daher beschränken sich die Hilfen bei schweren Waffen derzeit im Wesentlichen auf die Instandsetzung der alten Leopard 1-Panzer.

Zur Wahrheit gehört ebenso, dass Deutschland nach fast zwei Jahren immer noch nicht weggekommen ist von der inkrementellen Abgabe bereits vorhandener Systeme. Bisher gab es keine größeren Bestellungen bei der Industrie, die der Ukraine den mittel- bis langfristigen Übergang von alten sowjetischen hin zu modernen Systemen ermöglichen. Von den 18 abgegebenen Leopard-2 Panzern wurden lediglich 18 neue Systeme nachbestellt und von der Option, als Teil des Rahmenvertrages bis zu 100 weitere Panzer zu kaufen, die an die Ukraine übergeben werden könnten, wurde kein Gebrauch gemacht. Auch die im Frühjahr 2022 ausgestellte Exportgenehmigung für 100 neue Panzerhaubitzen-2000 wurde bisher von der Ukraine nicht genutzt, auch weil dem angegriffenen Land die Mittel dafür fehlen und Deutschland sich bisher nicht bereit erklärt hat, im Verbund mit anderen Ländern dafür Kredite zur Verfügung zu stellen. Mit Blick auf den vermutlich noch länger andauernden Krieg muss Deutschland Abschied nehmen von der Salamitaktik in Form der Abgabe von einzelnen Restbeständen der Bundeswehr und der Industrie hin zur langfristigen und systematischen militärischen Ertüchtigung der Ukraine.

Bereits heute arbeiten hunderte von ukrainischen Unternehmen an der Produktion von Drohnen, Raketen und Mitteln der elektronischen Kampfführung. Gleichzeitig verfügt das Land über nicht zu unterschätzende Fähigkeiten, westliche Systeme zu reparieren. Genau deswegen wird es 2024 stark darauf ankommen, ob Europa – angeführt von Deutschland und anderen Ländern –, der Ukraine schnell dabei hilft, die heimische Produktion von Drohnen, Störsendern, Ersatzteilen für gelieferte Systeme etc. durch die Bereitstellung von Maschinen, Equipment, Know-How und Investitionen auszubauen. Der Markteintritt von Rheinmetall in die Ukraine kann dabei nur ein erster Schritt sein.

Ein Sieg Putins muss dringend verhindert werden

Gleichzeitig müssen deutsche Politiker:innen, an erster Stelle Olaf Scholz, Deutschland auf einen längeren Krieg einstellen. Damit die Unterstützung nicht einbricht – eine repräsentative Umfrage der Körber-Stiftung von November 2023 zeigt, dass 66 Prozent der Deutschen die militärische Unterstützung der Ukraine befürworten und 54 Prozent glauben, dass das Ziel dieser Unterstützung die Befreiung der von der Ukraine besetzten Gebiete sein sollte – muss den Menschen genau dargelegt werden, was langfristig auf dem Spiel steht und warum die deutsche, europäische und westliche Unterstützung für die Ukraine nicht nur moralisch geboten ist, sondern in unserem ureigenen Interesse. Russlands Krieg findet schließlich auf europäischem Boden statt und betrifft uns Europäer:innen direkt. Ein Sieg Putins in der Ukraine käme einem Horrorszenario gleich. Neben vielen Millionen neuen Geflüchteten und immenser Instabilität an den EU-Grenzen würde Putin höchstwahrscheinlich seine neo-imperialistischen Bestrebungen gegen EU und NATO-Länder fortsetzen. Jüngste Drohungen gegen Lettland zeigen, dass sich Putins Aggression nicht nur auf die Ukraine beschränkt.

Die Ukraine braucht wie kaum zuvor eine entschlossene und strategisch agierende Führung Deutschlands. Der Fokus auf Luftverteidigung bleibt wichtig, aber mit Flugabwehr alleine wird die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen. Stattdessen sollte Deutschland langfristiger und systematischer auf diesen Krieg blicken. Das bedeutet auch, wir müssen die Ukraine schnellstmöglich befähigen, selbst eigene Waffensysteme zu produzieren und zu reparieren.

Putin setzt alles daran diesen Krieg zu gewinnen, und aktuell scheint sein Kalkül aufzugehen. Es liegt auch an uns, das zu verhindern.

Zum Weiterlesen

Interview

»Dieser Krieg bleibt in erster Linie ein Artilleriekrieg, der die Munitionslieferungen zu einem sehr wichtigen Faktor macht«

Von Mykola Bielieskov
Die ukrainische Gegenoffensive im Sommer 2023 brachte nicht den erhofften militärischen Durchbruch. Stattdessen wird von einer neuen Phase des Stellungskriegs gesprochen. Während die westliche Unterstützung stockt, gelangen in der ukrainischen Politik zunehmend Konflikte an die Öffentlichkeit. In dieser schwierigen Situation wirft das Interview zwischen dem Journalisten Fabrice Deprez und dem Militäranalysten Mykola Bielieskov sowohl einen Blick auf schiefe historische Analogien, Fehlannahmen der Gegenoffensive und die Schwierigkeiten bei der Erlangung der strategischen Initiative für die Ukraine.
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS