Die Ukraine hat sich in den letzten zwanzig Jahren – vor der großangelegten russischen Invasion – zu einem immer wichtigeren globalen Lieferanten von Getreide und Speiseöl entwickelt. Zwischen 2018 und 2020 stammten durchschnittlich zehn Prozent aller Weizenexporte, 16 Prozent aller Maisexporte und die Hälfte aller Sonnenblumenölexporte weltweit aus der Ukraine. Die ukrainische Landwirtschaft basiert hauptsächlich auf Getreide und Ölsaaten (Abbildung 1) und ist ein Schlüsselsektor der nationalen Wirtschaft. Im Jahr 2020 erwirtschaftete der Agrar- und Ernährungssektor (also die landwirtschaftliche Produktion zuzüglich ihrer vor- und nachgelagerten Sektoren wie etwa Saatguthersteller oder Getreidemühlen) 20 Prozent des ukrainischen Bruttoinlandproduktes (BIP) und trug zu 45 Prozent der ukrainischen Exporte bei. Der Reichtum an fruchtbaren Schwarzerdeböden (fast ein Drittel des weltweiten Schwarzerdevorkommens liegt in der Ukraine), günstige klimatische Bedingungen, eine für großflächige Landwirtschaft gut geeignete Landschaft, eine günstige geographische Lage, der Zugang zum Schwarzen Meer sowie umfangreiche Investitionen in die landwirtschaftliche Produktion und nachgelagerte Industrien trugen zu den erheblichen Produktivitätssteigerungen bei (Abb. 1). Dabei blieben die Ernteerträge allerdings weiterhin unter ihrem Potenzial – sie hätten zur Volkswirtschaft der Ukraine und der weltweiten Nahrungsmittelversorgung auch noch deutlich mehr beitragen können.
Russland hat diesen positiven Wachstumstrend durch die Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022 gestoppt. Der Preis des weiterhin andauernden Krieges ist schon jetzt immens: Das ukrainische BIP sank 2022 um 30 Prozent. Nach der jüngsten Schätzung der Kyiv School of Economics (KSE) aus dem Juni 2023 belaufen sich die gesamten Kriegsschäden für die Ukraine auf 151 Milliarden US-Dollar – das ist fast so viel wie das gesamte ukrainische BIP von 2022. Mehr als 14 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben ihr Zuhause verlassen. 7,9 Millionen von ihnen sind in ganz Europa als Geflüchtete registriert. Russlands Krieg hat auch der ukrainischen Landwirtschaft massive Schäden und Verluste zugefügt und brachte die oben skizzierten positiven Entwicklungen zum Stillstand oder kehrte sie um.
Basierend auf einem von der KSE fortlaufend durchgeführten Monitoring über die Auswirkungen der russischen Invasion auf die ukrainische Wirtschaft schätzt dieser Beitrag die durch den Krieg verursachten finanziellen Folgen der erlittenen Schäden und Verluste in der ukrainischen Landwirtschaft. Die Schäden an der landwirtschaftlichen Nutzfläche durch Verminung weisen wir separat aus. Außerdem stellen wir unsere Einschätzung der Folgen der Kachowka-Damm-Sprengung für die ukrainische Landwirtschaft vor. Die hier präsentierten Ergebnisse sind von zentraler Bedeutung für ein Verständnis der aktuellen Lage der ukrainischen Landwirtschaft. Gleichzeitig geben sie auch eine Vorstellung von der Dimension der Anstrengungen, die nötig sein werden, damit dieser geschädigte Sektor sich nachhaltig erholen kann.
Ein Drittel des landwirtschaftlichen Sektors bereits zerstört
Das Zentrum für Ernährungs- und Landnutzungsforschung an der KSE (im Weiteren: KSE Agrocenter) schätzt die landwirtschaftlichen Schäden und nutzt dafür Sekundärdaten aus verschiedenen Quellen. Diese bewerten den Wert vollständig zerstörter oder gestohlener Sach- oder Vermögenswerte sowie den Wert teilweise beschädigter, aber noch für den Wiederaufbau geeigneter Vermögenswerte. Details zur Berechnung von Schäden und Verlusten, wie sie im weiteren Verlauf dieses Beitrags vorgestellt werden, sowie die Daten und exakten Methoden sind auf der Website der Kyiv School of Economics (https://kse.ua/agricultural-war-damages-review) einsehbar.
Die von uns erfassten Schäden werden in folgende Kategorien unterteilt: Landwirtschaftliche Maschinen und Geräte; Lagerflächen; Viehbestand, Bienen, Fischerei und Aquakultur; wichtige mehrjährige Kulturpflanzen; gestohlene oder verlorene Betriebsmittel und Ernteerträge. Der Gesamtschaden der ukrainischen Landwirtschaft wird für den 24. Februar 2023 – also ein Jahr nach dem Beginn der Invasion – auf 8,7 Milliarden US-Dollar geschätzt. Das entspricht dreißig Prozent des gesamten ukrainischen landwirtschaftlichen Grundkapitals vor Kriegsbeginn. Am schwerwiegendsten sind die Schäden in den ukrainischen Oblasten im Osten und Süden. Hier haben die meisten Kampfhandlungen stattgefunden.
Die größte Schadenskategorie sind landwirtschaftliche Maschinen und Werkzeuge – auf sie entfallen 53 Prozent aller Schäden bzw. 4,7 Milliarden US-Dollar. Mit einem Schadenswert von bis zu 2,0 Milliarden US-Dollar stehen hier Traktoren an der Spitze der Liste, gefolgt von Sämaschinen (ausgenommen sind Düngemittel-Sämaschinen, 646,9 Millionen US-Dollar) und Eggen (442,1 Millionen US-Dollar). Insgesamt wurden mehr als 17 Prozent des gesamten verfügbaren Bestands an landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten zerstört oder beschädigt.
Die zweitgrößte Schadenskategorie sind eingelagerte Ernten. Die Schäden in dieser Kategorie gehen nicht nur auf physische Zerstörung, sondern auch auf systematische Diebstähle durch Russland zurück, ein Thema, das in verschiedenen Medienkanälen weltweit ausführlich behandelt wurde. Die Schäden durch Zerstörung und Diebstahl eingelagerter Produkte betragen schätzungsweise 1,9 Milliarden US-Dollar, darunter sind circa vier Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten.
Die drittgrößte Schadenskategorie sind Lagerungsmöglichkeiten (z. B. Getreidesilos) mit 15 Prozent aller Schäden bzw. 1,3 Milliarden US-Dollar. Der Schätzung zufolge wurden von den ursprünglich vorhandenen 75 Millionen Tonnen Lagerkapazitäten fast 11,5 Millionen Tonnen teilweise oder komplett zerstört. Die aktuelle Zahl wäre deutlich höher, wenn die intensive Bombardierung der Infrastruktur der Donau-Häfen und des Hafens von Odesa mit eingeflossen wären. Die Schadenskalkulation würde nochmal höher ausfallen, wenn man berücksichtigen würde, dass einige Anlagen zwar physisch intakt sind, jedoch in den besetzten Territorien liegen und damit für die ukrainischen landwirtschaftlichen Erzeugerinnen und Erzeuger nicht erreichbar sind.
Schäden an landwirtschaftlichen Nutzflächen und Minenräumung
Nicht enthalten in der oberen Kostenaufstellung sind durch Minen und andere Militär- und Kampfreste verursachten Schäden. Die Ukraine ist derzeit mit Sicherheit das am stärksten verminte Land Europas, geschätzt 16 Millionen Hektar sind möglicherweise vermint – mehr als ein Viertel der gesamten Landesfläche. 11,2 dieser 16 Millionen Hektar sind landwirtschaftliche Nutzflächen. Das entspricht der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche in Deutschland und stellt eine immense Herausforderung dar.
Ein langwieriger und sehr hoher Einsatz ist nötig, um die Ukraine zu entminen und wieder einer sichereren Nutzung zuzuführen. Der Entminungsprozess besteht dabei aus drei Schritten. Der erste ist eine nichttechnische Überprüfung, bei der Informationen über die gefährlichen Gebiete gesammelt werden: Ob dort Kämpfe stattgefunden haben, ob Truppen in der Gegend stationiert waren oder es Berichte über Minenvorfälle gibt. Laut Interviews mit ukrainischen Unternehmen für Minenräumung werden im Rahmen dieser Phase 84 Prozent der Flächen wieder freigegeben. Die restlichen 16 Prozent bzw. 1,75 Millionen Hektar müssen genauer untersucht werden. Durch die nichttechnische Überprüfung kann nicht nur der Großteil der Flächen bereits einer sicheren Nutzung zugeführt werden, sie ist mit durchschnittlich rund acht US-Dollar pro Hektar auch recht preiswert.
Im zweiten Schritt werden die landwirtschaftlichen Nutzflächen technisch überprüft. In dieser Phase untersuchen Minenräumteams das Gebiet entweder mit großer Vorsicht manuell, mit Metalldetektoren und anderen Geräten, oder setzen Minenräumfahrzeuge ein. Wichtigstes Ziel der technischen Überprüfung ist es, Minen und andere nicht explodierte Kampfmittel zu verorten. Derzeit müssen etwa 1,75 Millionen Hektar zum Preis von rund 3.000 US-Dollar pro Hektar technisch überprüft werden. Die technische Überprüfung kann jene Gebiete identifizieren, die tatsächlich entmint werden müssen, wobei in dieser Phase zurzeit etwa 70 Prozent der Gebiete wieder zur sicheren Nutzung freigegeben werden.Als letzter Schritt findet die tatsächliche Entminung statt. Geschätzt eine halbe Million Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche müssen zum Preis von durchschnittlich 25.600 US-Dollar pro Hektar entmint werden. Die Gesamtkosten für die Entminung landwirtschaftlicher Nutzfläche in der Ukraine liegen damit zwischen 12,8 und 26,6 Milliarden US-Dollar.
Anmerkung zur Zerstörung des Kachowka-Damms
Am 6. Juni 2023 sprengte Russland den Kachowka-Damm und richtete damit verheerende Verwüstungen in der Südukraine an. Am stärksten wurde von dieser menschengemachten Katastrophe der landwirtschaftliche Sektor getroffen. Die Schäden und Verluste für die primäre Landwirtschaft werden auf insgesamt 1,18 Mrd. US-Dollar ,geschätzt (wobei sich die Verluste auf 1,15 Mrd. US-Dollar und die Schäden auf 25,7 Millionen US-Dollar belaufen). Das Fischereiwesen ist nach Schätzungen des Ministeriums für Agrarpolitik und Ernährung (MAPE) mit 24,5 Millionen US-Dollar der am meisten betroffene Bereich. Hier wurde der Wert der durch das Ereignis getöteten Fische zugrunde gelegt. Die restlichen Verluste entfallen auf Schäden an Erntekulturen und ertrunkenes Vieh. Die Verluste wurden auf die nächsten fünf Jahre hochgerechnet, wobei hierfür der voraussichtlich nötige Zeitraum für den Wiederaufbau des Kachowka-Damms und der mit ihm zusammenhängenden Infrastruktur zugrunde gelegt wurde. Der Großteil der Verluste (909 Millionen US-Dollar) geht auf die unterbrochene Bewässerung der hochgradig dürregefährdeten landwirtschaftlichen Flächen in der Südukraine zurück (etwa 262.000 Hektar). Die restlichen Verluste betreffen den Fischereisektor (242,3 Millionen US-Dollar), Viehverlust (1,9 Millionen US-Dollar) und Ausgaben, die zur Rekultivierung von Land nötig sind (0,5 Millionen US-Dollar).
Gesamtverluste in der Landwirtschaft höher als landwirtschaftliches BIP vor dem Krieg
Laut der Untersuchung des KSE-Agrocenters betragen die Gesamtverluste der Landwirtschaft 40,2 Milliarden US-Dollar – diese Zahl ist höher als etwa das landwirtschaftliche BIP der Ukraine von 2021. Anders als die Schäden kommen die Angaben zu den Verlusten der Landwirtschaft durch Schätzung entgangener Einnahmen angesichts geringerer Produktion und gestiegener Produktionskosten zustande.
Die größte Verlustkategorie geht auf eine geringere Produktion im Pflanzenbau zurück und beträgt 57 Prozent der Verluste oder 23 Milliarden US-Dollar. Bei einjährigen Kulturen, dem größten Posten in dieser Kategorie, wurde der Rückgang für zwei Anbauzyklen geschätzt – 2021/22 und 2022/23 –, da die Ernte des Kalenderjahres 2023 bereits vom Krieg betroffen war. Die Verluste durch geringere Produktion in den Bereichen Nutztierhaltung, Aquakultur und Fischerei belaufen sich auf 1,7 Milliarden US-Dollar.
Die zweitgrößte Kategorie von Verlusten ist auf die Unterbrechung des Exports zurückzuführen. Vor der russischen Invasion wurden über 90 Prozent aller landwirtschaftlichen Erzeugnisse aus der Ukraine über den Seeweg exportiert. Nach der Invasion wurden die Exporte auf dem Seeweg jedoch gestoppt. Damit waren ukrainische Agrarunternehmen gezwungen, ihre Exporte über Landkorridore und die Donauhäfen umzuleiten. Dadurch stiegen die Logistikkosten und es kam zu Engpässen bei den Agrarexporten, was wiederum die Inlandspreise drückte (Abbildung 4). Trotz einer teilweisen Erholung der Exporte auf dem Seeweg durch die Schwarzmeer-Getreide-Initiative seit August 2022 sorgte Russland durch verzögerte Schiffskontrollen weiterhin für hohe Exportunsicherheiten, die wiederum zu deutlich höheren Logistikkosten und weiterhin niedrigen einheimischen Preisen führten. Im Juli 2023 verließ Russland die Initiative dann. Wir haben die Verluste aufgrund von Exportunterbrechungen für die Getreidebestände der Ernte 2021 und die gesamte Ernte 2022 geschätzt. Dafür haben wir die durchschnittliche Preisdifferenz zwischen den Vorkriegs- und Nachkriegspreisen, gewichtet nach den monatlichen Exportmengen, verwendet.
Eine weitere Herausforderung für die ukrainischen Erzeugerinnen und Erzeuger war der Anstieg der Produktionskosten. Wir haben den Preisanstieg für zwei wichtige Inputs geschätzt: Kraftstoff und Düngemittel. Wenn man davon ausgeht, dass sich die Produktionstechnologie nicht ändert, werden die ukrainischen Erzeugerinnen und Erzeuger aufgrund des Anstiegs der Düngemittel- und Kraftstoffpreise nach der Invasion voraussichtlich zusätzliche Verluste in Höhe von 844 Millionen US-Dollar erleiden. Eine weitere Herausforderung ist die Rekultivierung der beschädigten landwirtschaftlichen Nutzflächen, die von der beschriebenen Entminung der Flächen unterschieden werden muss. Rund 835.000 Hektar müssen rekultiviert werden, dafür wären weitere 184 Millionen US-Dollar Finanzierung nötig.
Ausblick: Wiederaufbau- und Markterholungsbedarfe in der Landwirtschaft
Für die folgende Bedarfsanalyse kam eine Methode aus den Post-Disaster Needs Assessment Guidelines zum Einsatz, welche die Global Facility for Disaster Reduction and Recovery, die Weltbankgruppe, die Europäische Union (EU) und die Vereinten Nationen (UN) entwickelt haben. Außerdem wurden Informationen aus Gesprächen mit dem Ministerium für Agrarpolitik und Ernährung der Ukraine, dem Finanzministerium der Ukraine sowie internationalen Entwicklungsprojekten und anderen Stakeholdern verwendet. Die Bedarfe werden insgesamt auf 29,8 Milliarden US-Dollar geschätzt (Tab. 1).
Hier sind zum einen die Wiederaufbaubedarfe zu nennen: Diese Kategorie enthält die Kompensation und den Wiederaufbau beschädigter materieller Vermögenswerte. Der Wiederaufbaubedarf wurde nach dem sogenannten »Build-back-Better-Prinzip« geschätzt, das einen Aufschlag von 20 Prozent für bestimmte Schadenskategorien vorsieht.
Zum anderen sind auch die Markterholungsbedarfe zu bestimmen: Diese zielen darauf ab, das Vorkriegsproduktionsniveau wieder zu erreichen. Dazu gehören 1.) Maßnahmen, die zur unmittelbaren Erholung der Produktion beitragen und sofort ergriffen werden müssen, 2.) Aktivitäten, welche die langfristige Erholung des Agrarsektors fördern und die Zukunft der ukrainischen Wirtschaft gestalten und 3.) Investitionen in die Stärkung und Unterstützung öffentlicher landwirtschaftlicher Institutionen. Letztere sind angesichts der durch den Krieg gestiegenen Arbeitsbelastungen aber auch wegen des wachsenden Bedarfs an öffentlichen Institutionen mit Blick auf den angestrebten EU-Beitritt nötig. Insgesamt erstrecken sich die Bedarfe über die nächsten zehn Jahre.