Die Resilienz ukrainischer Gemeinden
Als im Februar 2022 russische Invasionstruppen aus dem Norden, Osten und Süden in die Ukraine einfielen, zeigten sich viele der betroffenen Gemeinden erstaunlich resilient. Trotz des Chaos, großer Fluchtbewegungen, kaum Vorbereitung und anfänglich keinen klaren Ansagen aus Kyjiw, setzten viele Bürgermeister:innen, Stadträt:innen und Dorfvorsteher:innen ihre Arbeit trotz Kampfhandlungen, Belagerungen oder Besetzungen fort. Diese beeindruckende Resilienz auf lokaler Ebene geht auf die horizontalen Verflechtungen und die Verbundenheit der lokalen Selbstverwaltungen mit ihren jeweiligen Gemeinden zurück, die im Zuge der Dezentralisierungsreform in den letzten Jahren gestärkt wurden. Durch die 2014 angestoßene Dezentralisierungs- und Gebietsreform wuchsen die Befugnisse und Steuereinnahmen der Städte und Gemeinden an und die Gemeinden konnten in vielen Fällen die Qualität von staatlichen (Verwaltungs-)Dienstleistungen und der öffentlichen Daseinsvorsorge erhöhen.
Der IRI Municipal Poll 2023, erhoben in den 21 regionalen Hauptstädten, zeigt beispielsweise, dass die Mehrheit der befragten Anwohner:innen selbst im Krieg zufrieden sind mit den erbrachten öffentlichen Dienstleistungen ihrer jeweiligen Städte. Gleichzeitig ist eine Mehrheit in jeder Stadt der Auffassung, dass lokal gewählte Behörden über die Prioritäten des Wiederaufbaus vor Ort entscheiden sollten.
Im Krieg wurden die Städte und Gemeinden zu einer tragenden Stütze des ukrainischen Staates. Trotz zum Teil massiven Beschusses, wie in Charkiw, Sumy oder Cherson, arbeiten die Gemeinden und Städte mit Hochdruck daran, dass Schäden schnellstmöglich behoben werden, Elektrizitäts- und Trinkwasserversorgung, die Abwasser- und Abfallentsorgung aufrechterhalten werden, dass Schulen und Kindergärten möglichst geöffnet bleiben bzw. über ausreichend Schutzräume verfügen. Gleichzeitig stellt die medizinische Versorgung Kriegsverletzter und die therapeutische Behandlung traumatisierter Menschen und die Unterstützung, Unterbringung und Integration von Binnenvertriebenen viele Städte und Gemeinden vor immense Herausforderungen.
Der vorliegende Text basiert auf ersten Ergebnissen des Projekts »Lokale Resilienz & Wiederaufbau: Kapazitäten der ukrainischen Zivilgesellschaft in der Region Tschernihiw«. Expert:innen des Deutsch-Ukrainischen Büros haben im Februar 2024 die Regionen Tschernihiw und Kyjiw bereist und Gespräche mit Vertreter:innen der lokalen Zivilgesellschaft, einem Dutzend Bürgermeistern und mehreren Stadträt:innen geführt. Zusätzlich dazu wurden 33 umfangreiche Fragebögen gesammelt und 15 vertiefte Interviews mit Gemeindevertreter:innen und lokalen Aktivist:innen geführt, in denen es um ihre Einschätzungen zum Wiederaufbau, die Rolle internationaler Partner und die deutsch-ukrainischen Städtepartnerschaften ging.
Deutschlands wichtige Rolle
Nach anfänglichen Verstimmungen in den deutsch-ukrainischen Beziehungen zu Beginn der russischen Vollinvasion gehört Deutschland zu den wichtigsten und verlässlichsten Partnern der Ukraine – sowohl auf nationaler als auch regionaler und kommunaler Ebene. Heute werden deutsche Politiker:innen, allen voran der Bundeskanzler, nicht müde zu betonen, dass Deutschland nach den USA zweitgrößter Geberstaat ist. Nach Angaben der Bundesregierung belaufen sich die Gesamtausgaben für die Ukraine und Ukrainer:innen in Deutschland auf knapp 32,2 Milliarden Euro (Stand Februar 2024). Diese Zahlen umfassen die bisher geleisteten Militärhilfen in Höhe von knapp sieben Milliarden Euro aber auch die bis zu sechs Milliarden Euro jährlichen Kosten für Sozialleistungen für die rund 1,2 Millionen Geflüchteten, überwiegend Frauen und Kinder, die in Deutschland seit Februar 2022 Schutz gefunden haben. Als größter europäischer Geber legt Deutschland ein besonderes Augenmerk auf die Unterstützung der lokalen Ebene. Bei der Ukraine Recovery Conference im Juni 2024 in Berlin wird die kommunale Ebene eine der thematischen Hauptsäulen der Konferenz.
Außenpolitik der Gemeinden und Bundesländer
Neben den Militär- und Finanzhilfen für die ukrainische Regierung, humanitärer Hilfe für die notleidenden Menschen in der Ukraine sowie der Unterstützung für Geflüchtete in Deutschland spielten und spielen bestehende und neu entstandene kommunale Partnerschaften eine wichtige Rolle bei der Lieferung von wichtiger Soforthilfe in die Ukraine.
Bei der Reise von Frank-Walter Steinmeier in die Ukraine im Oktober 2022 hob der Bundespräsident gemeinsam mit Wolodymyr Selenskyj die Bedeutung der kommunalen Partnerschaften hervor: »Deutsche Städte und Gemeinden haben große Solidarität bewiesen, indem sie Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor Russlands brutaler Aggression geflohen sind, aufgenommen haben; Kommunalpartnerschaften ermöglichen zielgerichtete, stabile und rasche Hilfslieferungen und die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern, sie fördern Erfahrungsaustausch, und sie leisten schon jetzt einen Beitrag zur wirtschaftlichen Erholung und zum Wiederaufbau der Ukraine.« Gemeinsam übernahmen die zwei Staatspräsidenten die Schirmherrschaft des deutsch-ukrainischen Städtepartnerschaftsnetzwerks. Zudem riefen sie Kommunalverwaltungen und führende Mitglieder der Zivilgesellschaft auf, sich dem Netzwerk anzuschließen und gemeinsam neue Partnerschaften aufzubauen.
Tatsächlich verdreifachte sich die Anzahl der deutsch-ukrainischen Kommunalpartnerschaften in den ersten zwei Jahren der russischen Vollinvasion fast und stieg von 76 auf 204 (Stand Februar 2024, Überblick auf S. 18) an. Gleichzeitig entstanden zahlreiche Betreiberpartnerschaften von Stadtwerken und Wasserbetrieben sowie Klinikpartnerschaften. Dieser rasante Anstieg folgte der immensen Hilfsbereitschaft der deutschen Gemeinden und lokalen Zivilgesellschaft, die sich einerseits um die eintreffenden Geflüchteten aus der Ukraine kümmerten und andererseits umfassend humanitäre Hilfe an ukrainische Gemeinden auf den Weg brachten. Bei der Reise der beiden Autor:innen in die Ukraine berichteten ukrainische Bürgermeister aus den Regionen Kyjiw und Tschernihiw, dass gerade bestehende polnischen Partnerstädte, zu denen viele ukrainische Städte und Gemeinden schon längere Beziehungen haben, bei der Vermittlung partnerschaftlicher Kontakte nach Deutschland eine große Rolle gespielt haben. Bei der Länderverteilung der deutschen Städtepartnerschaften dominieren Länder der EU, insbesondere Frankreich (2324) vor Polen (592) und Großbritannien (552). Polen wiederum unterhält fast 230 Städtepartnerschaften mit der Ukraine.
Seit 2023 entstanden auch sieben regionale Partnerschaften zwischen Bundesländern und den ukrainischen Oblasten. Den Anfang machte Nordrhein-Westfalen (NRW) mit Dnipropetrowsk; zuletzt unterzeichneten in diesem Jahr Mecklenburg-Vorpommern mit dem Gebiet Tschernihiw und der Freistaat Sachsen mit der Oblast Charkiw neue Regionalpartnerschaften. Die Ziele der Regionalpartnerschaften ähneln sich zum Teil. Dennoch gibt es Unterschiede, was die Ambitionen und die eingeplanten Mittel anbelangt. Die Zusammenarbeit zwischen NRW und Dnipropetrowsk ist wahrscheinlich die ambitionierteste und umfasst neben Wirtschaftskooperationen unter anderem die Bereiche Wissenschaft, Gesundheit, Verkehrsinfrastruktur und Umweltschutz. Das Land NRW kündigte im Februar 2023 an, das Bundesland und die Oblast Dnipropetrowsk auf allen Ebenen miteinander verbinden zu wollen – durch den Austausch von Kommunen, Verbänden, Vereinen und weiteren zivilgesellschaftlichen Akteuren. Im Zuge der Regionalpartnerschaft kamen gleich sieben neue Kommunalpartnerschaften aus NRW mit Gemeinden aus dem Gebiet Dnipropetrowsk zustande.
Mit Blick auf die Regionalpartnerschaften bleibt jetzt abzuwarten, wie diese beidseitig mit Leben gefüllt werden. Wegen der ukrainischen Verfassung sind die Leiter:innen der Gebietsverwaltungen vom Präsidenten ernannt und stehen in vielen Fällen im Dauerclinch mit – oder sehen sich als Konkurrenz zu – den selbstbewussten, direktgewählten lokalen Bürgermeister:innen. Im Falle von Tschernihiw sind die Spannungen zwischen dem Gouverneur und dem amtierenden Bürgermeister besonders akut.
Um Regionalpartnerschaften erfolgreich zu gestalten und die Potenziale der neuen Partnerschaften voll auszuschöpfen, gilt es, diese Spannungen zu verstehen und bedacht zu navigieren. Für deutsche Bundesländer wird es also darauf ankommen, einerseits sich dezidiert nicht nur auf die Gebietsverwaltung und ihre Führung zu konzentrieren, die oft in der Region nicht tief verwurzelt sind, sondern vor allem auch Kontakte zu einer Vielzahl von kommunalen Akteur:innen in den Partnerregionen zu knüpfen. Nicht zuletzt davon wird der Erfolg dieser Regionalpartnerschaften abhängen.
Fokus Nothilfe
Vor 2022 lag der Fokus bestehender kommunaler Partnerschaften vor allem auf den Themen Kultur, Bildung, Jugendaustausch; in einigen Fällen noch der Austausch der Feuerwehren. So arbeitete die sächsische Stadt Borna, die mit Irpin seit 47 Jahren eine Partnerschaft unterhält (was es zur zweitältesten deutsch-ukrainischen Partnerschaft überhaupt macht), seit Jahren am Aufbau einer Freiwilligen Feuerwehr in Irpin und spendete ein Feuerwehrfahrzeug.
Nach der großangelegten russischen Invasion rückte der Fokus der Zusammenarbeit auf humanitäre Nothilfe und umfangreiche Sachspenden wie Medizin, hygienische Produkte, Decken etc., aber auch kommunale Fahrzeuge wie Busse, Müll- und Krankenwagen und Feuerwehrfahrzeuge. Nach dem gezielten Beschuss der ukrainischen Energieinfrastruktur im Winter 2022/23 wurde massive Winterhilfe in Form von Generatoren, Heizöfen, Decken etc. geleistet.
Der amtierende Bürgermeister und eine Abgeordnete des Tschernihiwer Stadtrats berichteten uns, dass humanitäre Hilfe u. a. aus den Partnerstädten Memmingen und dem polnischen Tarnobrzeg die Stadt noch vor der staatlichen ukrainischen Hilfe erreichte. Bei der weiter oben erwähnten Reise in die Gebiete Kyjiw und Tschernihiw hörten wir immer wieder von Bürgermeistern, Stadträten und Aktivist:innen, dass die geleistete europäische Nothilfe, insbesondere die der kommunalen Partner, gerade in der frühen Phase des Angriffskrieges einen wichtigen symbolischen und praktischen Beitrag zur Stabilisierung der Lage leistete, gerade auch zur Versorgung der fast vier Millionen Binnenvertriebenen. Die Gemeinde Korjukiwka im Norden des Tschernihiwer Gebiets betonte uns gegenüber, dass die Winterhilfe ihrer kommunalen Partner (dt. Partner Walkirch) eine zentrale Rolle gespielt hat, die letzten zwei Winter zu überstehen.
Grenzen der Nothilfe
Im Verlauf des Krieges änderten sich die Bedarfe der ukrainischen Gemeinden. Auch wenn derzeit, gerade im Osten (und dort besonders in Charkiw und Umgebung), wieder akute Nothilfe benötigt wird, zeigen unsere vorläufigen Umfrageergebnisse und Interviews mit Vertreter:innen der Gemeinden und Städte aus dem Tschernihiwer Gebiet, dass die meisten von ihnen aktuell keine humanitäre bzw. Nothilfe benötigen. Mit Blick auf die Landkarte der Städtepartnerschaften wird klar, dass die Mehrheit der bestehenden Partnerschaften sich im Westen und der Zentralukraine bzw. weit entfernt von der aktuellen Frontlinie im Süden und Osten des Landes befindet.
Gleichzeitig wurde gerade in den Gesprächen mit den Gemeindevertreter:innen klar, dass Bedarfe und geleistete Hilfen nicht immer übereinstimmen. Zum Teil existieren sehr klare Listen von benötigten Dingen, beispielsweise für die Ausstattung von Schutzräumen in Schulen. Ausländische Partnergemeinden und internationale Geber liefern hingegen manchmal Dinge, die nicht zwingend benötigt werden – aus Dankbarkeit werden diese dann zwar angenommen, aber die konkreten Bedarfe auf der ukrainischen Seite decken sie nicht.
In den Gesprächen wurde auch klar, dass es auf Seiten zahlreicher ukrainischer Kommunen an Wissen und Know-How fehlt, um eigene Bedarfe auch mit Blick auf künftige Projekte zu priorisieren. Das ist insofern wichtig, da insbesondere (große) internationale Hilfsorganisationen ihre eigenen Lösungen und Konzepte zum Wiederaufbau anbieten, die von den ukrainischen Kommunen oft einfach übernommen werden müssen. In Borodjanka im Gebiet Kyjiw z. B., wo mehr als 1.500 Gebäude zerstört wurden und die Schäden sich auf 150 Mio. US-Dollar belaufen, sanierte eine U.S.-amerikanische Hilfsorganisation die Kanalisation der Hauptstraße. Die Stadt kann diese aber bis heute nicht nutzen, da ihr die Mittel fehlen, Häuserblöcke daran anzuschließen.
Gleichzeitig spielen Sprachkenntnisse in den Stadt- und Gemeindeverwaltungen im Gebiet Tschernihiw, aber auch anderen Gebieten, eine wesentliche Barriere beim Umgang mit ausländischen Partnern. Vor der Vollinvasion gab es kaum englischsprachiges Personal und auch nur wenige Bürgermeister:innen sprechen verhandlungssicher Englisch. So war die damalige Vizebürgermeisterin von Irpin, Mychajlina Skoryk-Schkariwska, zu Beginn der Vollinvasion die einzige Angestellte in der Stadtverwaltung, die fließend Englisch sprach. Seit 2023 leitet sie eine NGO, die Gemeinden aus der Kyjiwer Region bei der Projektplanung und Umsetzung hilft. Sie schilderte beim Besuch in Irpin eindringlich, wie trotz globaler Öffentlichkeit und großem Angebot an Fördermitteln nur ein Bruchteil tatsächlich umgesetzt werden konnte, weil es an englischsprachigen Mitarbeitenden mangelte.
Auch im wichtigen Feld der Unterstützung mit kommunalen Fahrzeugen gab es gemischte Rückmeldungen. Die Ukraine hat, wie bereits geschildert, auch von zahlreichen deutschen Gemeinden instandgesetzte, gebrauchte Fahrzeuge für den ÖPNV, Rettungs-, Müll- Feuerwehrfahrzeuge etc. erhalten. Gerade für die lokale Feuerwehr spielen die Rettungs- und Einsatzfahrzeuge eine wichtige Rolle, da Technik und Fahrzeuge immer wieder gezielt von russischen »Double Tap«-Angriffen auf die Helfenden beschädigt oder zerstört werden. Von Gemeindevertretern hörten wir dazu, dass es immense Unterschiede gibt, in welchem Zustand Fahrzeuge übergeben werden. Gerade deutsche Partner wurden positiv erwähnt, geben sie sich bei der Instandsetzung oft große Mühe und liefern bspw. Rettungswagen oft vollausgestattet mit Technik und Equipment – das sei jedoch nicht immer der Fall.
Angesichts der Kriegssituation und dem schlechten Zustand der Straßen ist die Haltbarkeitsdauer vieler Fahrzeuge jedoch beschränkt. Für die Ukraine ist es zudem kompliziert und teuer, die erhaltenen Fahrzeuge ohne umfassende Ersatzteile zu warten. Ein Bürgermeister aus dem Gebiet Tschernihiw sagte, dass die Ukraine zwar für jede Hilfe dankbar sei, sie aber langfristig keine Müllhalde für altes, verschlissenes Equipment sein wolle.
Partnerschaften auf Augenhöhe statt Opferrolle
Von fast allen interviewten Gemeindevertreter:innen vernahmen wir ein großes Interesse, bestehende Partnerschaften weiterzuentwickeln, weg von der reinen Nothilfe zu strategischen Kooperationen. Die thematische Bandbreite zur Entwicklung ist groß und geht von Wiederaufnahme des Jugendaustausch über Unterstützung bei medizinischer Ausrüstung und Weiterbildung von Fachpersonal zur Pflege und Reintegration von physisch und psychisch versehrten Menschen. Es besteht großes Interesse, von der deutschen Erfahrung in den Bereichen Inklusion und Barrierefreiheit zu lernen. Andere Gemeinden sehen den Wiederaufbau, verbunden mit umfassender Stadt- und Regionalentwicklung und lokaler Investitionsförderung, als ihre künftigen Prioritäten in den Partnerschaften an.
Gleichzeitig betonte die Mehrheit unserer Gesprächspartner:innen, dass sie die empfundene Opferrolle zurücklassen wolle. Vielmehr sollen die Potenziale der Kooperationen für beide Seiten in den Vordergrund gestellt werden. Die ukrainischen Städte sehen sich nicht nur als Bittsteller. Sie möchten eine Kooperation auf Augenhöhe und Wissen um die finanziell schwierige Lage der deutschen Kommunen. Von Krisenkommunikation und -management, Zivilschutz, lokaler Resilienz bis hin zur Digitalisierung von lokalen Verwaltungsdienstleistungen haben ukrainische Gemeinden ihren deutschen Partnern thematisch einiges anzubieten. Vertreter:innen der Stadt Nischyn (dt. Partner Neustadt in Holstein, Frankenthal (Pfalz) und Wolfsburg), aus der Oblast Tschernihiw berichteten etwa, wie eine Delegation aus der lettischen Partnerstadt Preili sie besuchte, um gemeinsam vom ukrainischen Zivilschutz und dem Umbau der Schutzräume für Schulen zu lernen. Dieses Potenzial des gegenseitigen Lernens sollte noch stärker in den Vordergrund gestellt werden.
Europäische Rechtsnormen und Fördermittel
Trotz des andauernden Kriegs wird auf der kommunalen Ebene mit Blick auf die vielen Partnerschaften in EU-Staaten auch oft über die Zukunft und den EU-Beitrittsprozess gesprochen. Der Acquis Communautaire wird zwar von der Zentralregierung in Kyjiw verabschiedet, umgesetzt werden müssen wird dieser jedoch auf lokaler Ebene. Deswegen brauchen ukrainische Städte und Gemeinden große Unterstützung im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses. Gerade ein Erfahrungsaustausch mit den osteuropäischen EU-Mitgliedern im Baltikum, Mittel- und Südosteuropa ist von hoher praktischer Relevanz, um EU-Standards umzusetzen und von deren Erfahrungen zu profitieren.
Unsere Feldforschung und Interviews mit Gemeindevertreter:innen aus Tschernihiw zeigen erstens, dass viele der ukrainischen Gemeinden noch nicht über nationale und internationale Förderprogramme Bescheid wissen und dass es ihnen zweitens an Kapazitäten, Fähigkeiten und Personal fehlt, um komplexe Projektbewerbungen vorzubereiten. Gerade mit Blick auf den in diesem Jahr anstehenden Zugang der Ukraine zum Interreg Europe Programm für grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf regionaler Ebene wird es wichtig sein, das Programm und seine Fördermöglichkeiten unter lokalen Behörden bekannter zu machen. An dem Programm können dann alle Regionen und Städte der EU und der Ukraine teilnehmen. Mit einem Partner in der EU können ukrainische Gemeinden dann gemeinsam Projekte in Höhe von ein bis zwei Millionen Euro einreichen.
Aus dem Gebiet Tschernhiw bestätigen unsere Gesprächspartner die grundsätzliche Bedeutung der deutschen bzw. internationalen Förderung der kommunalen Partnerschaften, wie den Kleinprojektfond von bis zu 50.000 EUR der Service Stelle Kommunen in der einen Welt (SKEW) umgesetzt von Engagement Global. Gerade das GIZ-Programm U-Lead with Europe zur Unterstützung der lokalen Entwicklung in der Ukraine wurde fast einhellig von kleineren Gemeinden positiv hervorgehoben. Gleichzeitig betonen sie, dass sie sich auch spezielle deutsche Förderprogramme wünschen, bei denen ukrainische Gemeinden als Hauptbewerber und damit auch Hauptempfänger von Fördermitteln fungieren können. Wenn Deutschland die Rolle der ukrainischen Gemeinden auch in Zukunft weiter stärken möchte, ist das Überdenken der Förderinstrumente jenseits der eigenen Projektumsetzung durch deutsche Organisationen wie der GIZ sinnvoll.
Fazit: Erfolgsfaktoren und Grenzen kommunaler Partnerschaft
Was die Erfolgsfaktoren in der kommunalen Partnerschaft angeht, nannten fast alle Gesprächspartner:innen das persönliche Engagement von Bürgermeister:innen, Stadträt:innen und der lokalen Zivilgesellschaft. Im Falle von Aachen etwa war die lokale Zivilgesellschaft, allen voran die lokale ukrainische Diaspora, Treiber hinter dem Zustandekommen der Kommunalpartnerschaft mit Tschernihiw. Die Gesprächspartner aus der Stadt Tschernihiw hoben die Partnerschaft mit Memmingen hervor, wo sich mehrere Menschen mit großem Engagement für die Städtepartnerschaft mit Tschernihiw einsetzen würden. Persönliche Begegnungen sind und bleiben von größter Bedeutung für den Vertrauensaufbau und die Etablierung von verlässlichen Arbeitsbeziehungen.
Die Hauptbeschränkungen der kommunalen Beziehungen decken sich mit Erkenntnissen aus vorherigen Studien zum Thema. Unsere Gesprächspartner:innen identifizierten insbesondere die personellen Ressourcen als Hauptbeschränkung. Anders als in mittelgroßen deutschen Gemeinden gibt es in vielen ukrainischen Gemeinden kaum Mittel und Stellen für den Kontaktaufbau auf internationalen Konferenzen, für die Kontaktpflege zu Partnern und die Akquise von Projektmitteln. Auch Sprachbarrieren können ein Hindernis sein.
Die deutsch-ukrainischen Partnerschaften haben sich nach der großangelegten russischen Invasion in die Ukraine 2022 sowohl quantitativ als auch qualitativ positiv entwickelt. Die deutschen Bundesländer, Städte, Landkreise, Gemeinden und die Zivilgesellschaft haben viel zur Unterstützung ihrer Partner in der Ukraine beigetragen. Zukünftig sollten verstärkt auch die Erfahrungen der ukrainischen Seite in Überlegungen einfließen, wie die Partnerschaften über die akute Nothilfe hinaus gestärkt und fortentwickelt werden können. Die ukrainischen Gemeinden sehen sich nicht nur als Bittsteller, sondern streben vielmehr nach einer strategischen partnerschaftlichen Zusammenarbeit auf Augenhöhe – und sie möchten ihre deutschen Partner dazu ermutigen, relevante Erfahrungen auszutauschen.
Anmerkung:
Das Projekt »Lokale Resilienz & Wiederaufbau: Kapazitäten der ukrainischen Zivilgesellschaft in der Region Tschernihiw« wird finanziert durch die Bundeszentrale für politische Bildung.