Die Selenskyj-Mehrheit ist eine Illusion: Die Intransparenz der Rada ist eine der Ursachen der Parlamentskrise

Von Oleksandr Salischenko (Chesno, Kyjiw)

Im dritten Jahr des vollumfänglichen Krieges in der Ukraine spricht die Werchowna Rada zunehmend von einer »Parlamentskrise«, einer »Krise der Mono-Mehrheit« oder einer »endgültigen Desorganisation«.

Gleichzeitig verschweigen die Führung des Parlaments und die Regierungsfraktion Diener des Volkes [»Sluha Narodu« ist die Partei von Wolodymyr Selenskyj und stellt die Mehrheit in der Werchowna Rada. Sie wird im Ukrainischen als »Mono-Mehrheit« bezeichnet, da sie die absolute Mehrheit im Parlament hat und Gesetze allein mit ihren Stimmen verabschiedet werden können, insofern die Fraktion geschlossen abstimmt, Anm. d. Red.] eine der Ursachen dieses Problems: Abgeordnete, die Rada-Sitzungen schwänzen und die »Helden« des »Monaco-Bataillons« oder des »Dubai-Bataillons«, über die investigative Journalist:innen berichteten [gemeint sind wohlhabende Abgeordnete, die aus privaten Gründen Zeit in Dubai oder Monaco verbringen, anstatt sich der Parlamentsarbeit und den Belangen des Staates im Kriegszustand zu widmen. [»Helden« und »Bataillon« sind im Kontext des Krieges beißend ironisch gemeint, Anm. d. Red.]. Dabei ist die formale Zahl der Abgeordneten (401 oder 450) oder die »Mono-Mehrheit« selbst (235 oder 242 Mandate) nicht so wichtig wie die direkte Beteiligung der Abgeordneten an der Arbeit im Plenum der Rada und in den Ausschüssen.

Ende Januar dieses Jahres sprach der Fraktionsvorsitzende der Diener des Volkes, David Arachamija, über die Probleme im Parlament und räumte ein, dass die Rada vor enormen Herausforderungen stünde und dass »sich eine große Krise anbahnte«. Ihm zufolge gibt es keine Einigkeit im Parlament, sie sei eine Illusion, und zu viele Abgeordnete wollen vorzeitig ihr Mandat abgeben. Dieser Mangel an Einigkeit innerhalb der parlamentarischen Mehrheit wurde dadurch sichtbar, dass es seit dem Beginn der Vollinvasion erstmals zu »Unterbrechungen« und Verschiebungen von Sitzungen der Werchowna Rada gab, dass die Beschlussfähigkeit bei Probeabstimmungen nicht erzielt werden konnte oder dass nur ein Thema auf die Tagesordnung gesetzt wurde.

Einer der Gründe, die zu diesen negativen Entwicklungen geführt haben, ist zweifellos der Arbeitsmodus, in dem das Parlament in den letzten zwei Jahren nach der Verhängung des Kriegsrechts getagt hat und der sich als ein sehr bequemes Format für schwänzende Abgeordnete herausgestellt hat.

Das mehrjährige Fehlen eines Arbeitskalenders der Werchowna Rada mit den traditionellen Sitzungswochen, eines Schlichtungsausschusses am Montag und einer Fragestunde an die Regierung jeden Freitag sowie wochenlanger Arbeit der Abgeordneten in Ausschüssen und Wahlkreisen hat einen sehr bequemen Modus für Schwänzer:innen geschaffen. Sie können der Rada mehr als ein Jahr lang physisch fernbleiben und nicht über Beschlüsse abstimmen, aber aus der Ferne per Video an Ausschusssitzungen teilnehmen.

Ein weiterer Faktor, der dieses laxe Wohlfühlparlamentarierdasein begünstigte, ist die lange Abwesenheit von Journalist:innen im Parlament. Schließlich waren es die Journalist:innen, die in allen Legislaturperioden der Werchowna Rada eine äußerst wichtige Kontrollfunktion ausübten und die Politiker:innen zu einer effektiveren Arbeit motivierten. Ein ebenso wichtiger Faktor, der die gegenwärtige Krise verschärft hat, war das Fehlen offizieller Übertragungen der Sitzungen der Rada. Stattdessen wählten einige Abgeordnete Live-Schalten auf TikTok als Kommunikationskanal nach außen.

Manche mögen dies für bloße Formalia oder eine weit hergeholte Lappalie halten, die gegenüber militärischen Sicherheitsfragen zweitrangig sind. Aber diese Fragen haben sich nun sich als grundlegend erwiesen.

Das Fehlen einer objektiven und transparenten Berichterstattung über die Arbeit des Parlaments durch Journalist:innen direkt aus dem Sitzungsgebäude der Werchowna Rada sowie das Fehlen einer öffentlichen Kontrolle der parlamentarischen Arbeit und der Abgeordneten führte dazu, dass die Werchowna Rada intern zersplittert und sie ihre Handlungsfähigkeit und -initiative einbüßt. Infolgedessen kam es zu einer Entwertung des Abgeordnetenmandats und dessen Bedeutung im politischen System.

Wenn wir die Äußerungen der Politiker:innen einmal beiseitelassen, stellen wir fest, dass es seit Beginn der Vollinvasion keine zusätzliche Arbeitsbelastung für das Parlament selbst oder einzelne Abgeordnete gegeben hat. Im Gegenteil, die Parlamentssitzungen finden nur noch wenige Male im Monat statt, im Durchschnitt etwa an vier Tagen (!), und die Debatte von Themen im Parlament eines kriegführenden Landes dauert nur noch wenige Stunden pro Sitzungstag (!). Und im Verlauf von fast drei Monaten im Jahr 2024 befanden sich die Abgeordneten insgesamt nur etwa 23 Stunden im Sitzungssaal. Auch die Zahl der Arbeitstage in den Ausschüssen der Werchowna Rada hat nicht zugenommen.

Gleichzeitig ist festzustellen, dass die »Mono-Mehrheit« auf dem Papier bestehen bleibt, da die Fraktion 235 Abgeordnete umfasst. Das Parlament erarbeitet und verabschiedet Gesetze, wenn auch unter Schwierigkeiten. In fast jeder Sitzung gibt es eine Verfassungsmehrheit von mindestens 300 Stimmen für gesellschaftlich wichtige Entscheidungen. Dieser Mechanismus stockt jedoch manchmal, es kommt zu Überraschungen und die Koordination fällt mitunter schwer.

Die Chesno-Bewegung hat bereits über die Krise der »Mono-Mehrheit« geschrieben, denn in den letzten zwei Jahren ist es der Fraktion »Diener des Volkes« nur bei 17 Abstimmungen in der Werchowna Rada gelungen, das Minimum von 226 oder mehr Stimmen zu erreichen [die für die Verabschiedung von Gesetzen ohne die Stimmen von Abgeordneten anderer Fraktionen notwendig sind, Anm. d. Red.].

Grafik 1–3 auf S. 19–20 visualisieren die Abstimmungsdynamik der Fraktion »Diener des Volkes« in den letzten zwei Jahren und zeigen einen allmählichen Rückgang der durchschnittlichen Zahl der Ja-Stimmen pro Monat, während der Anteil der abwesenden Abgeordneten gestiegen ist, insbesondere im Jahr 2023. Offensichtlich hat die Fraktion des »Diener des Volkes« bereits einen Stimmenschwund zu verzeichnen und muss dieses Defizit mithilfe anderer Fraktionen und Gruppen in der Rada ausgleichen.

Das Problem der Fraktion »Diener des Volkes«, die nötige Stimmenanzahl zu erreichen, trat fast unmittelbar nach den ersten euphorischen Monaten des »Turbomodus« auf, in den die neu einberufene Werchowna Rada geschaltet hatte. Je näher das Ende der Legislaturperiode rückte, desto offensichtlicher wurde dieses Problem. So war in den ersten Jahren dieser Legislaturperiode die »Mono-Mehrheit« durch die Stimmen der Fraktionen »Dowira« und »Sa Majbutnje« gesichert. Nach der Vollinvasion begannen die im Parlament verbliebenen Abgeordneten der verbotenen prorussischen Partei OPSSch konsequent im Einklang mit der »Mono-Mehrheit« abzustimmen.

Wenn Abgeordnete, die über die Parteiliste von »Diener des Volkes« in die Rada gewählt wurden, vorzeitig ihr Mandat niederlegen wollen, werden neue Kandidat:innen nachnominiert. Dies könnte sich sogar positiv auswirken, da »frisches Blut« eine aktivere parlamentarische Tätigkeit anregen würde. Gleichzeitig ist die Situation bei Direktkandidat:innen, die durch einen Wahlsieg in ihrem Wahlbezirk direkt in die Rada eingezogen sind, komplizierter, da Nachwahlen in Wahlkreisen während des Kriegsrechts verboten sind.

In früheren Legislaturperioden der Werchowna Rada gab es noch schwierigere Zeiten, in denen die Beschlussfähigkeit zu gewährleisten war. Deshalb mussten parlamentarische Koalitionen gebildet und ein Konsens mit der Opposition gefunden werden, um dieses Problem zu lösen. Gleichzeitig können der Parlamentsvorsitz sowie die Fraktionen und Gruppen die häufige Abwesenheit von Mandatsträger:innen nicht einfach ignorieren und tolerieren. Andernfalls könnten die Abgeordneten auf die Idee kommen, die Taste für die Abstimmungen in der Rada zu deaktivieren und zum »Knopfdrücken« [gemeint ist die rechtswidrige Stimmabgabe für einen oder mehrere abwesende(n) Abgeordnete(n), Anm. d. Red.] zurückzukehren, das früher dazu diente, Abwesenheit zu vertuschen und echte Abstimmungen zu imitieren.

12_ua299_abstimmungsverhalten_v_abgeordneten_d_fraktion_diener_d_volkes_2022_u_2023.jpg13_ua299_abstimmungsverhalten_v_abgeordneten_d_fraktion_diener_d_volkes_2022_u_2023_monatlich.jpg14_ua299_abstimmungsverhalten_v_abgeordneten_d_fraktion_diener_d_volkes_2022_u_2023_quartalsweise.jpg

Lesetipps / Bibliographie

Dieser Kommentar erschien zuerst am 22. März 2024 auf Ukrainisch bei Chesno und ist hier im Original abrufbar: https://www.chesno.org/post/5919/. Die Ukraine-Analysen bedanken sich bei Chesno für die Bereitstellung der Rohdaten, die Grafik 1 zugrunde liegen und die Erlaubnis, den Text in deutscher Übersetzung abdrucken zu dürfen.

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