Wie schnell bewegt sich die Ukraine auf die EU zu, in welchen Bereichen gibt es große Fortschritte und in welchen nicht?

Von Jewhen Angel (Institut für Wirtschaftsforschung und Politikberatung (IER), Kyjiw), Nestor Bartschuk (DeJure Foundation, Kyjiw), Oleksandra Betliy, Andrij Butin, Iryna Kosse, Stanislav Yukhymenko (alle Institut für Wirtschaftsforschung und Politikberatung (IER), Kyjiw)

Das Monitoring des europäischen Integrationsprozesses ist keine einfache Aufgabe, denn der Fortschritt wird nicht allein an der Zahl der verabschiedeten Gesetze oder Verordnungen bemessen.

Die Qualität des Regelwerks und ihre Übereinstimmung mit den Anforderungen des Assoziierungsabkommens und des Acquis Communautaire[1] der EU, die Erklärungen von Vertreter:innen der ukrainischen Behörden und die unmittelbare Umsetzung bestimmter Reformen sollten ebenfalls einbezogen werden.

Daher hat das Institut für Wirtschaftsforschung und Politikberatung im September letzten Jahres gemeinsam mit dem Bendukidze Free Market Centre und führenden Expert:innen aus verschiedenen Bereichen das Projekt UAEUmeter[2] ins Leben gerufen, das eine objektive Bewertung des europäischen Integrationsprozesses der Ukraine ermöglichen soll.

Mithilfe des UAEUmeter sollen die Fortschritte der Ukraine auf dem Weg in die EU sowohl allgemein als auch gesondert in sechs für die ukrainische Wirtschaft wichtigen Bereichen verfolgt werden können:

  1. Verkehr
  2. Digitale Transformation
  3. Unternehmertum und Industriepolitik
  4. Sozialpolitik und Beschäftigung
  5. Freier Warenverkehr und Zoll
  6. Rechtsstaatlichkeit

In jedem dieser Bereiche bewerten Expert:innen bestimmte Ereignisse auf einer Skala von −3 bis +3 (−3 bedeutet, ein Ereignis hat die denkbar negativsten Auswirkungen auf den Beitritt der Ukraine zur EU, 0 bedeutet keine negativen oder positiven Auswirkungen und +3 hat die positivsten Auswirkungen). Nach dieser Bewertung wird die Gesamtpunktzahl für jeden Bereich berechnet. Weitere Informationen über die Projektmethodik und die Bedeutung der Punktzahlen gibt es unter diesem Link:[3].

Insgesamt besteht der Acquis communautaire[4] aus 35 Kapiteln, die alle für den Beitritt der Ukraine zur EU von Bedeutung sind. Das UAEUmeter deckt nicht alle Bereiche ab und erfasst beispielsweise nicht die Veränderungen in den Bereichen Bildung und Kultur, Wissenschaft und Forschung, geistiges Eigentum, Finanzdienstleistungen und weiteren. Im Laufe der Zeit sollen neue Bewertungsbereiche in das UAEUmeter-Projekt aufgenommen, damit die Bewertung die Fortschritte der Ukraine auf dem Weg in die EU besser und gründlicher widerspiegelt.

Ende 2023 gab es die größten Fortschritte

Im Zeitraum zwischen September 2023 und März 2024 lag der Gesamtwert des UAEUmeter am höchsten zum Jahresende: im November und Dezember (+1,31 bzw. +1,30). Zu dieser Zeit gab es in fast allen Bereichen des UAEUmeters gesetzliche und andere Entwicklungen, die von den Expert:innen sehr positiv bewertet wurden. Das ist darauf zurückzuführen, dass zum Jahresende viele Fristen anstanden, die eingehalten werden mussten. Die einzigen Bereiche, in denen in dieser Periode nur sehr wenig geschah, waren Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.

Flaggschiffe der europäischen Integration

Die digitale Transformation zählt zu den Vorreitern bei der Annäherung an die EU. Von September 2023 bis März 2024 ist der Wert für diesen Bereich nicht unter +1 gefallen, und im November erreichte er +2, was ein sehr gutes Ergebnis ist.

Ursächlich dafür ist die Schaffung einer Reihe wirksamer digitaler Instrumente in den Bereichen Dokumentenmanagement, Unternehmensführung, Deklarationen, Einführung elektronischer Register und der Beginn der Harmonisierung der nationalen Cybersicherheitsvorschriften mit den europäischen Standards. Dem gingen die Verabschiedung entsprechender Vorschriften und die Ausarbeitung von Gesetzesentwürfen voraus, die in strategischen Dokumenten festgelegt wurden, von denen viele ebenfalls zwischen September und März verabschiedet wurden.

Freier Warenverkehr und Zoll – in diesem Bereich hat die Ukraine gute Ergebnisse vorzuweisen, insbesondere bei der Zollreform. So hat sich die Ukraine an das Zollinformationssystem der EU angeschlossen und nutzt nun das neue EDV-gestützte gemeinsame Versandverfahren (NCTS).

Von September 2023 bis März 2024 wurden weitere wichtige Rechtsakte verabschiedet:

  • Änderungen des ukrainischen Steuergesetzbuchs, um einige Bestimmungen des Gesetzes »Über den Zolltarif der Ukraine« mit EU-Recht in Einklang zu bringen und einige Bestimmungen zu präzisieren;
  • Änderungen des Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung der Ukraine, um den Schmuggel von Waren unter Strafe zu stellen;
  • Nationale Einkommensstrategie bis 2030.

Die Gesamtbewertung des Fortschritts in diesem Bereich durch die Expert:innen schwankte während des Beobachtungszeitraums um +1 und erreichte im März einen Höchstwert von +1,35.

Ähnlich wie bei der digitalen Transformation war das Jahresende 2023 im Verkehrssektor sehr erfolgreich (+1,69). Insbesondere wurde im November die Vereinbarung über die »Connecting Europe Facility«[5] ratifiziert, die die Bereiche Verkehr, Energie, digitale Transformation und Haushalt abdeckt. Auch im März gab es in diesem Bereich gute Fortschritte (+1,52). Es fand das erste Treffen seit fünf Jahren zwischen der Ukraine und der Europäischen Kommission zum Thema Verkehrssektor statt. Die ukrainische Regierung benannte Prioritäten für den Wiederaufbau, darunter die Exportlogistik. Und die Slowakei und die Ukraine setzten ihre Zusammenarbeit beim Personen- und Güterverkehr auf der Schiene, bei der Modernisierung der grenzüberschreitenden Kontrollpunkte für den Fußgänger- und Straßenverkehr und bei der Stärkung der Energiesicherheit in beiden Ländern fort. Abgesehen von der bereits erwähnten Ratifizierung wurden zwischen September und März allerdings keine neuen Gesetze in diesem Bereich verabschiedet.

Bereiche ohne nennenswerte Fortschritte

Die Fortschritte der europäischen Integration im Bereich der Unternehmens- und Industriepolitik beruhen auf früheren Errungenschaften aus der Vorkriegszeit, und zwar durch die Digitalisierung von Dienstleistungen und Deregulierung. Die jüngsten Fortschritte in diesem Bereich sind jedoch eher bescheiden. Zwischen September und März wurden zwei Gesetze verabschiedet, und zwar zur

  • Verbesserung der rechtlichen Regelung der Preisgestaltung bei der Beschaffung von Verteidigungsgütern während des Kriegsrechts
  • Vereinfachung des Verfahrens zur Änderung der Zweckbestimmung von Grundstücken, um Investitionen für den raschen Wiederaufbau der Ukraine anzuziehen.

Bei diesen Gesetzen handelt es sich jedoch nicht ausschließlich um Gesetze zur europäischen Integration, auch wenn sie für die Geschäfts- und Industriepolitik wichtig sind. Gleichzeitig wurden Bemühungen zur Digitalisierung fortgesetzt (Diia.Signature für juristische Personen, der Dienst E-Entrepreneur). Der November war der produktivste Monat für den Sektor mit einem Wert von +1,72. Die anderen Monate zwischen September 2023 und März 2024 wiesen jedoch eher niedrige Werte auf, meist unter +1. Die Ankündigung des Starts der neuen Wirtschaftsplattform »Made in Ukraine« (0,44 Punkte) und die Schaffung eines Rates für Unternehmertum im Kriegsrecht (−0,38 Punkte) haben die Expert:innen nicht begeistert. Noch negativer bewertet wurden die Auswirkungen der Nationalen Strategie für Einkommen bis 2030 (−1,27 Punkte).

Diese Ergebnisse zeigen sowohl eine gewisse Inkohärenz der Agenda mit dem europäischen Integrationsprozess als auch einen Mangel an Kommunikation zwischen der Regierung und der Wirtschaft. Gleichzeitig hatte die Veröffentlichung des Entwurfs der KMU-Konjunkturstrategie bis 2027, die sowohl von ukrainischen Akteur:innen als auch von internationalen Partner:innen seit langem erwartet worden war, eine deutlich positive Wirkung.

Im Bereich der Rechtsstaatlichkeit hat die Ukraine im Zeitraum 2022–2023 zwei Kriterien erfolgreich erfüllt: die Reform des Justizwesens und des Verfassungsgerichts. Diese Punkte waren in der Liste der Bedingungen enthalten, die die Europäische Kommission für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen festgelegt hatte.

Im November hatte die Europäische Kommission einen Bericht zur Ukraine veröffentlicht[6], in dem die Fortschritte im Bereich der Rechtsstaatlichkeit recht hoch bewertet wurden. Dementsprechend bewerteten die Expert:innen von UAEUmeter auch diesen Bericht mit einer guten Note (+1,71 für diesen Monat). Die weitere Umsetzung der Empfehlungen der Europäischen Kommission kommt jedoch nur sehr langsam voran.

Dies gilt insbesondere für die Erneuerung des Obersten Gerichtshofs, die Reform der juristischen Ausbildung und der Anwaltskammern. Die Ratifizierung des Abkommens zwischen der Ukraine und der Europäischen Union über die Teilnahme der Ukraine am EU-Justizprogramm steht ebenfalls noch aus, was jedoch kein Problem darstellen sollte.

Um die Situation zu verbessern, sollten die internationalen Partner:innen die finanzielle Unterstützung der Ukraine an wichtige rechtsstaatliche Reformen knüpfen. Tatsächlich sind einige Fortschritte bei der Verabschiedung des Gesetzes über die Schaffung eines spezialisierten Oberverwaltungsgerichts nur deshalb zu verzeichnen, weil der Internationale Währungsfonds (IWF) dies als strukturelle Benchmark für 2024 festgelegt hat.

Die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ist ein Bereich, in dem die Anpassung der Regeln und Vorschriften an die EU-Gesetzgebung noch am Anfang steht. Seit September 2023 ist die Bewertung der Fortschritte in diesem Bereich meist kleiner als +1; einzig im Oktober bewerteten die Expert:innen die Ergebnisse der Änderungen mit +1,36. Die bisherigen Änderungen betrafen die Bereiche Regulierung der Sozialdienstleistungen, einschließlich der Pflege. Auch die Stellungnahme des Europarats zu den Rechten nationaler Minderheiten in bestimmten Bereichen wurde berücksichtigt.

Die Expert:innen sind zudem der Ansicht, dass die im Ukraine-Plan[7] vorgesehenen Änderungen die ukrainischen Rechtsvorschriften näher an die EU-Vorschriften heranführen werden. Auch die Pläne zur Einführung eines neuen Arbeitsgesetzes werden positiv gewertet. So lautet das Fazit der Expert:innen, dass das Reformtempo im Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik in den letzten sechs Monaten zwar langsam ist, aber in die richtige Richtung geht.

***

Abschließend noch ein paar Worte zur Projektmethodik. Jeden Monat sammelt das Projektteam folgende Ereignisse in einer Datenbank (zugänglich auf der Website des UAEUmeters), die dann von Expert:innen ausgewertet werden:

  • Tatsächliche Gesetzesänderungen: Gesetze und andere Vorschriften, die verabschiedet wurden.
  • Geplante Gesetzesänderungen: Gesetzgebungsakte, die zur Prüfung anstehen, einschließlich der der Werchowna Rada vorgelegten Gesetzesentwürfe, sowie Verordnungen, die zur öffentlichen Diskussion gestellt werden.
  • Agenden: offizielle Absichtserklärungen, angenommene Strategien usw. Dies gibt Aufschluss über die mögliche Richtung der Entwicklung und schafft einen institutionellen Rahmen für das Handeln der Regierung.
  • Stand der Umsetzung: Bewertung der Expert:innen, inwieweit sich ein bestimmter Bereich in die richtige oder falsche Richtung der europäischen Integration bewegt.

Weitere Informationen zur Methodik gibt es unter diesem Link: https://uaeumeter.com.ua/methodology/

Übersetzung: Dr. Eduard Klein

Der Text erschien am 10. Juni 2024 auf der Website der Jewropejska Prawda, https://www.eurointegration.com.ua/articles/2024/06/10/7187672/. Wir danken der Jewropejska Prawda und den Autor:innen für die Erlaubnis zum Nachdruck der deutschsprachigen Übersetzung.


Verweise

[1] https://uk.wikipedia.org/wiki/Acquis_communautaire

[2] https://uaeumeter.com.ua/

[3] https://uaeumeter.com.ua/methodology/

[4] https://uk.wikipedia.org/wiki/Acquis_communautaire

[5] https://zakon.rada.gov.ua/laws/show/984_003-23

[6] https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/qanda_23_5631

[7] https://www.me.gov.ua/Documents/List?lang=uk-UA&id=8f36a2d9-9611-4bff-8fa9-474da62bd28d&tag=PlanUkraini

Lesetipps / Bibliographie

Der Text erschien am 10. Juni 2024 auf der Website der Ewropejska Prawda, https://www.eurointegration.com.ua/articles/2024/06/10/7187672/. Wir danken der Ewropejska Prawda und den Autor:innen für die Erlaubnis zum Nachdruck der deutschsprachigen Übersetzung.

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