Kennziffern der ukrainischen Landwirtschaft
Im Laufe der Geschichte diente die Ukraine als »Kornkammer«, sowohl für ihre Nachbarn als auch für weiter entfernte Regionen. In den 1940–50er Jahren wurden mehr als 25 % des sowjetischen Getreides in der Ukraine produziert. Zwischen 2013 und 2016 stiegen die ukrainischen Weizenexporte von 8 auf 14 Millionen Tonnen. In den letzten zehn Jahren hat sich die Ukraine zu einem wichtigen Akteur auf dem internationalen Agrarmarkt entwickelt: Im Jahr 2021 entfielen 10 % der weltweiten Weizen-, 15 % der Mais- und Gerste- sowie 50 % der Sonnenblumenexporte auf die Ukraine. Die Landwirtschaft trug zu dieser Zeit knapp 10 % zum BIP bei, etwa 18 % zur Beschäftigung und sogar 44 % zum Exportwert der Ukraine.
Der Reichtum an fruchtbaren Schwarzerdeböden (27,8 Mio. Hektar), größere Felder, gestiegene Erträge und weitere spezifische Merkmale begünstigten die Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktion. Etwa 80 Prozent der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche in der Ukraine werden für den Anbau von Getreide, Ölsaaten, Gemüse und andere einjährige Kulturen genutzt (Weltbank, 2021; Staatlicher Statistikdienst der Ukraine, 2020a).
Kriegsbedingte Schäden, Verluste und Bedarfe
Am 24. Februar 2022 wurde die gesamte Ukraine von Explosionen erschüttert. Die Auswirkungen der großangelegten russischen Invasion auf den Agrarsektor sind immens. In den ersten zwei Jahren beliefen sich die Schäden – also der Gesamtwert der zerstörten Güter – auf 10,3 Milliarden US-Dollar. Den größten Schaden gibt es bei landwirtschaftlichen Maschinen (5,8 Mrd. US-Dollar bzw. 56,7 % aller Schäden). Die kriegsbedingten sektoralen Verluste durch den Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion, gesunkene Preise, gestiegene Produktionskosten sowie Kosten für die Rekultivierung beliefen sich im Februar 2024 auf 69,8 Mrd. US-Dollar. Der Bedarf in den nächsten zehn Jahren für den Wiederaufbau und die Erholung des Sektors wird auf 56 Mrd. US-Dollar geschätzt (Neyter et al., 2024).
Auswirkungen auf die Exporte
Der Großteil der ukrainischen Agrargüter wird über den Seeweg durch das Schwarze Meer transportiert. Durch die russische Seeblockade war diese Exportroute versperrt. Im Sommer 2022 wurde unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei die Schwarzmeer-Getreideinitiative ins Leben gerufen, um die erheblichen ukrainischen Getreidevorräte, die nicht ausgeführt werden konnten, exportieren zu können. Im Rahmen des Abkommens wurde ein Transportkorridor für Getreide aus drei ukrainischen Tiefseehäfen am Schwarzen Meer (Odesa, Tschornomorsk und Piwdennyj) eingerichtet (UN, 2022). Das ermöglichte ab August 2022 die Wiederaufnahme der ukrainischen Agrarexporte auf dem Seeweg (Glauber und Laborde, 2022). Die Auswirkungen auf die inländischen Preise waren jedoch gering und verbesserten die Einnahmen der ukrainischen Landwirtschaftsbetriebe nur geringfügig, da Exporte zwar wieder ermöglicht wurden, die gestiegenen Transportkosten jedoch weiterhin hoch blieben (Nazarkina und Nivievskyj, 2023). Auch untergrub Russland immer wieder das Getreideabkommen, indem es Schiffsinspektionen verzögerte und wiederkehrend mit dem Ausstieg aus dem Abkommen drohte, was die Risiken und damit die Kosten hochhielt (UkrAgroConsult, 2022). Schließlich zog Russland sich Ende Juli 2023 ganz aus dem Getreideabkommen zurück.
Im Mai 2022, als der Seeweg über das Schwarze Meer noch blockiert war, startete die EU-Kommission den Aktionsplan European Solidarity Lanes (ESL), um Exportrouten über die westlichen Landgrenzen der Ukraine in die EU auf Straßen, Schienen und Flüsse zu erleichtern (EU-Kommission, 2022). Bis September 2023 wurden über die ESL 95 Mio. Tonnen Waren aus der Ukraine exportiert, darunter 52,2 Mio. Tonnen landwirtschaftliche Erzeugnisse (EU-Kommission, 2023b). Seit dem Auslaufen des Getreideabkommens betragen die Exporte landwirtschaftlicher Erzeugnisse per Schiene über die ESL ca. 1 Mio. Tonnen pro Monat und die Exportkapazitäten über Binnenhäfen sind auf ca. 2,8 Mio. Tonnen im Monat gestiegen. Unmittelbar mit dem Rückzug aus der Getreideinitiative begann Russland jedoch, die Infrastruktur der ukrainischen Donauhäfen anzugreifen, was die Exportkosten wieder in die Höhe trieb (NYT, 2023).
Die Kosten für Agrarexporte erhöhten sich durch die Vollinvasion um etwa das Dreifache: Von 30–40 US-Dollar pro Tonne vor der Invasion auf einen Höchstpreis von 200 US-Dollar pro Tonne Anfang 2022. Im Oktober 2022 stabilisierten sich die Preise bei etwa 125–150 US-Dollar pro Tonne. Russische Luftangriffe auf die Binnenhäfen sowie das Ende der Getreideinitiative führten wieder zu gestiegenen Exportkosten. Durch erfolgreiche ukrainische Militäroperationen gegen die russische Schwarzmeerflotte wurde diese aus dem westlichen Schwarzen Meer vertrieben und die Ukraine konnte schließlich einen eigenen Seekorridor einrichten und Sicherheitsgarantien für Exportunternehmen gewähren. Dadurch erreichten die Agrarexporte im Zeitraum zwischen August und September 2023 wieder in etwa das Niveau vom Getreideabkommen.
Preiskrise
Zu den größten kriegsbedingen Herausforderungen zählt die inländische Preiskrise. Die stark gesunkenen Exportkapazitäten und fehlende alternative Exportrouten führten nicht nur zum signifikanten Anstieg der Logistikkosten, sondern auch zum Preisverfall um den Faktor zwei bei den Agrarprodukten (Martyshev et al., 2023; Nivievskyi und Neyter, 2024). Nachdem Ostchem, einer der größten ukrainischen Düngemittelproduzenten, seine Produktion kriegsbedingt um mehr als zwei Drittel (von 5,3 Mio. Tonnen in 2021 auf 1,7 Mio. Tonnen in 2022) reduzieren musste, gab es zudem einen Mangel an Dünger (SuperAgronom, 2023). Während die Weltmarktpreise für Düngemittel von 2021 zu 2023 um das 1,5-fache sanken, stiegen die Preise für ukrainische Landwirtschaftsbetriebe um den Faktor 2,4.
Verfügbarkeit von Land und Boden
Die Verfügbarkeit von Flächen für wirtschaftliche Tätigkeiten, einschließlich der Landwirtschaft, schwankt und hängt unter anderem von dem Umfang der befreiten Gebiete ab. Anfang 2024 lag die wirtschaftlich geeignete Gesamtfläche in der Ukraine bei 48,1 Mio. Hektar. Davon sind 32,7 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche: 26 Mio. Hektar Acker- und Brachland sowie 5,3 Mio. Hektar Heuwiesen und Weiden, hinzu kommen 9,4 Mio. Hektar Wälder und bewaldete Flächen. Im Vergleich zu 2022 gab es 16,7 % mehr landwirtschaftliche Flächen durch die Befreiung von Gebieten in den Oblasten Charkiw und Cherson (Bogonos et al., 2024).
Langfristige Auswirkungen
Der Krieg hat nicht nur die oben beschriebenen, unmittelbaren Auswirkungen auf den Agrarsektor in der Ukraine, sondern auch langfristige. Veränderte und neue Bedingungen in den Bereichen Infrastruktur, Finanzierung, allgemeine Wirtschaftsbedingungen und die Verfügbarkeit von Land haben die Produktionsstruktur und damit auch die Produktionstrends verändert. Wir greifen auf das AGMEMOD-Modell[1]zurück, das die wichtigsten landwirtschaftlichen Aktivitäten abdeckt, um eine Prognose bis 2033 für die wichtigsten Agrargüter zu erstellen: Weizen, Mais, Gerste, Roggen, Hafer, Ölsaaten, Rindfleisch und Geflügel. Die Prognose stützt sich dabei auf folgende Annahmen:
- Ende des Krieges: Dezember 2024
- Produktionskosten: Realkosten konstant auf dem Niveau von 2024, nominaler inflationsbedingter Anstieg
- Inflation: Prognosen des Wirtschaftsministeriums bis 2026, danach eigene Extrapolation der Trends für den Zeitraum 2027–2033
- Technische Exportkapazitäten: nicht begrenzt
- Landwirtschaftliche Flächen: für 2024 nach vorgelegten Berechnungen, ab 2025: alle Flächen auf dem Territorium der Ukraine werden geräumt und entmint und für die Produktion genutzt
- Bevölkerung: Schätzung des Wirtschaftsministeriums bis 2026, danach eigene Extrapolation der Trends für den Zeitraum 2027–2033
- Reales BIP: Schätzung des Wirtschaftsministeriums bis 2026, danach eigene Extrapolation der Trends für den Zeitraum 2027–2033
- Wechselkurs (UAH zu USD): Schätzung des Wirtschaftsministeriums bis 2026, danach eigene Extrapolation der Trends für den Zeitraum 2027–2033
Prognose der Produktion pflanzlicher Erzeugnisse
Unter der Annahme, dass sich die Logistik und der Transport erholen, zeigen unsere Projektionen, dass die Ukraine ein Nettoexporteur von Weizen, Mais, Gerste und Ölsaaten sowie von Geflügel bleiben wird. Unseren Schätzungen zufolge wird die gesamte Getreideanbaufläche, nach einem drastischen Rückgang im Jahr 2022 von 15,5 auf 11,5 Mio. Hektar, bis 2033 leicht zurückgehen und sich im Bereich knapp über 11 Mio. Hektar stabilisieren. Die Anbaufläche für Ölsaaten hingegen wird voraussichtlich deutlich zunehmen und könnte mit etwa 11,9 Mio. Hektar die für Getreide übersteigen. Der Anstieg bei Ölsaaten wird hauptsächlich aufgrund der Aufgabe von Getreideanbauflächen und einer allmählichen Verlagerung von Getreide- zur Ölsaatenerzeugung erfolgen (s. Grafik 1).
Obwohl in unserer Projektion die Gesamtanbaufläche für Getreide relativ konstant bleibt, verändern sich die Anteile bei den Getreidesorten. Die größte Veränderung wird bei Mais erwartet, dessen Anteil sich von 37 % im Jahr 2023 auf 46 % im Jahr 2033 erhöhen wird. Mais verdrängt den Weizen, dessen Anbaufläche sich im selben Zeitraum von 47 % auf 34 % verringern wird. Der Anstieg der Maisanbauflächen ist u. a. auf den Klimawandel zurückzuführen: Im Vergleich zu den letzten zwei Jahrzehnten kann Mais heute besser in den Anbauzyklus integriert werden und durch die steigenden Durchschnittstemperaturen auch in weiter nördlich gelegenen Teilen des Landes angebaut werden. Darüber hinaus ist der Maisanbau rentabler als der Weizenanbau, was den Wachstum beim Mais ebenfalls erklärt. Der Anteil von Gerste wird vermutlich steigen, und zwar von 13 % auf 16 % der Getreideanbauflächen. Trotz des Wachstums der Anbauflächen für Mais und Gerste werden die Werte das Vorkriegsniveau nicht erreichen, da die Gesamtanbaufläche für Getreide aufgrund der Verlagerung hin zu Ölsaaten insgesamt zurückgeht (s. Grafik 2).
Aufgrund von Ertragssteigerungen durch bessere Technologien (z. B. durch qualitativ hochwertigeres Saatgut und Düngemittel) und die wirtschaftliche Erholung nach dem Krieg schätzen wir ein Wachstum der gesamten Getreideproduktion in der Ukraine im Projektionszeitraum voraussichtlich um 41,6 % auf 76,4 Mio. Tonnen. Der Anstieg geht dabei hauptsächlich auf die deutlich gestiegene Produktion von Mais (von 27 Mio. Tonnen 2023 auf 48,9 Mio. Tonnen im Jahr 2033) zurück. Auch die Erzeugung von Gerste (Anstieg um 50 % im Vergleich zu 2023 auf 7,3 Mio. Tonnen), Roggen (um 44,4 % auf 0,4 Mio. Tonnen) und Hafer (um 11,9 % auf 0,37 Mio. Tonnen) wird zunehmen. Die Weizenerzeugung wird weniger stark zurückgehen (−9,7 %) als der Rückgang der Anbauflächen (−27 %) erwarten lässt, was auf einen Anstieg der Ernteerträge (von 4,1 auf 5,1 Tonnen pro Hektar) zurückzuführen ist. Trotz des Anstiegs der Getreideerzeugung wird das Gesamtvolumen das Vorkriegsniveau nicht erreichen und 2033 bei etwa 90 % im Vergleich zu 2021 liegen.
Was die Ölsaaten anbelangt, wird der Anbau von Sonnenblumen mit 7,4 Mio. Hektar in 2033 weiterhin den größten Teil der Anbauflächen ausmachen; allerdings wird der Anbau von Raps und Sojabohnen zunehmen. Die höhere Rentabilität von Ölsaaten (gegenüber Getreide) in Verbindung mit einer wachsenden Nachfrage nach Futtermitteln vor allem im Geflügelsektor wird wesentlich zu diesem Trend beitragen (s. Grafik 3).
Die Gesamterzeugung von Ölsaaten wird deutlich steigen, von 20,2 Mio. Tonnen in 2023 auf 33,2 Mio. Tonnen in 2033. Wir erwarten ein Wachstum bei der Produktion der drei wichtigsten Ölsaaten Sonnenblumenkerne (um 53 % auf 19,4 Mio. Tonnen), Sojabohnen (um 129 % auf 5,9 Mio. Tonnen) und Rapssamen (um 43 % auf 7,9 Mio. Tonnen). Der deutliche Produktionsanstieg bei allen drei Kulturen geht auf mehr Anbauflächen und Ertragssteigerungen zurück.
Viehwirtschaftliche Produktion
Unsere Projektionen zeigen, dass die Geflügelproduktion 2033 im Vergleich zu 2023 um 28,4 % auf 1,7 Millionen Tonnen ansteigen wird bzw. um 20 % gegenüber dem Vorkriegsjahr 2021. Zu den Hauptfaktoren, die zu diesem Anstieg beitragen, zählen höhere Gewinnmargen und steigende Preise für Fleisch. Die ukrainischen Geflügelfleischproduzenten sind in der Regel große Unternehmen, die ihr eigenes Futter herstellen, wodurch sie von Größenvorteilen profitieren. Dieser Effekt dürfte sich verstärken, da der Trend zur Verlagerung der Produktion von privaten Haushalten (im Rahmen der Subsistenzwirtschaft, Anm. d. Red.) zu landwirtschaftlichen Betrieben anhalten wird.
Der Rinderbestand (einschließlich Milchkühe) und die Zahl der geschlachteten Rinder werden bis 2033 deutlich um 49,1 % bzw. 36,1 % gegenüber dem Stand von 2023 zurückgehen. Da das Schlachtgewicht der Rinder relativ unverändert auf dem Niveau von ca. 170 kg pro Tier bleiben wird, erwarten wir, dass die Gesamtmenge der Rindfleischproduktion von 122.000 Tonnen im Jahr 2023 allmählich auf 106.000 Tonnen im Jahr 2033 zurückgehen wird. Was den Rindfleisch- und Milchsektor betrifft, wird die Ukraine weiterhin deutlich mehr importieren müssen als exportieren können (Bogonos et al. 2024).
Fazit
Während der Krieg in der Ukraine andauert, ist der Agrarsektor mit einem Ressourcenmangel konfrontiert. 2023 waren sowohl die finanziellen als auch die humanen Ressourcen in Form von Arbeitskräften bereits bis an ihre Grenzen erschöpft. Unsere Modellrechnungen prognostizieren, dass bestimmte landwirtschaftliche Sektoren selbst nach einem Jahrzehnt des Friedens nicht wieder ihr Vorkriegsniveau erreichen werden. Die ukrainische Landwirtschaft könnte bis zu zwei Jahrzehnte benötigen, um nach den Zerstörungen durch Russland ihre früheren landwirtschaftlichen Produktionskapazitäten wieder zu erreichen.
Die resiliente ukrainische Nation, einschließlich ihrer Landwirtschaft, setzt sich entschlossen gegen das repressive russische Regime zur Wehr. Je eher die Ukraine gegen das totalitäre russische Regime gewinnt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Agrarsektor die Möglichkeit hat, sich wieder zu erholen und zu entwickeln.
Aus dem Englischen von Dr. Eduard Klein
Verweise
[1] https://www.thuenen.de/de/thuenen-institut/verbundstrukturen/thuenen-modellverbund/modelle/agmemod