Der ukrainische Arbeitsmarkt in Kriegszeiten

Von Inna Wolosewytsch (Info Sapiens, Kyjiw)

Zusammenfassung
Während der Arbeitsmarkt in der Ukraine vor der russischen Vollinvasion im Februar 2022 trotz der Corona-Pandemie recht stabil war und die Arbeitslosenquote noch bei moderaten 9 % lag, sorgte die russische Vollinvasion für einen Wirtschaftseinbruch und einen drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 30 % im März 2022. Inzwischen hat sich der Arbeitsmarkt an die Kriegsbedingungen angepasst, und die Arbeitslosigkeit lag im Februar 2025 bei 17 %. Der folgende Artikel analysiert die Anpassung des ukrainischen Arbeitsmarktes an den Krieg sowie die Probleme und Herausforderungen für dessen nachhaltige Erholung.

Anpassung des ukrainischen Arbeitsmarktes an den Krieg

Das ukrainische Bruttoinlandsprodukt (BIP) brach im Jahr 2022 kriegsbedingt um drastische 28,8 Prozent ein. 2023 erholte sich die Wirtschaft wieder und das BIP stieg um 5,5 Prozent und 2024 um weitere 3,5 Prozent (vgl. den Kommentar zur Wirtschaftsentwicklung in dieser Ausgabe, Anm. d. Red.), womit die Wirtschaftsleistung dennoch deutlich unter dem Vorkriegszeitraum liegt.

Im Februar 2025 waren 4,9 Mio. Ukrainer:innen als Binnenvertriebene registriert. Nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) leben jedoch nur 3,6 Mio. in den von der Regierung kontrollierten Gebieten, während die anderen in die vorübergehend besetzten Gebiete zurückgekehrt sind. Binnenvertriebene (IDPs) bilden eine der am stärksten von Arbeitslosigkeit bedrohten Gruppen.

Nach Schätzungen des Center for Economic Strategy sind seit Beginn der Vollinvasion etwa 6,5 Mio. Ukrainer:innen ins Ausland geflüchtet[1]. Dies ist zugleich einer der Faktoren für einen Personalmangel, den es gleichzeitig mit einer hohen Arbeitslosigkeit gibt.

Mit 6,4 Mio. Menschen hat etwa ein Drittel aller vor dem Krieg beschäftigten Ukrainer:innen (ca. 19 Mio.) seit dem Beginn der russischen Invasion ihren Arbeitsplatz verloren. Die Arbeitslosenquote, die vor der Vollinvasion im Februar 2022 noch bei 9 Prozent lag, stieg bereits im März 2022 auf 30 Prozent. Im Februar 2025 lag sie bei 17 Prozent und hat sich innerhalb von drei Jahren somit knapp halbiert. Ein stellvertretender Armutsindikator – der Anteil der Menschen, die für Lebensmittel sparen müssen – lag im Februar 2025 bei 20 Prozent (doppelt so hoch wie vor der Invasion, aber im Frühjahr 2022 erreichte er 30 Prozent)[2].

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Wie hat sich der ukrainische Arbeitsmarkt in den letzten drei Jahren entwickelt? Es ist schwer, die Antwort durch die Analyse offizieller Daten zu finden, da die inoffizielle oder halboffizielle Beschäftigung in der Ukraine weit verbreitet ist – nach Schätzungen des Wirtschaftsministeriums machte sie im Jahr 2021 32 Prozent aus[3]. Vermutlich stieg sie während des Krieges sogar noch weiter, weil die Steuervermeidung (die in jeder Krise vorkommt) zunahm und ein Teil der Männer sich vor der Mobilisierung versteckt.

Daher sind Umfragedaten zum Arbeitsmarkt in dieser Hinsicht hilfreicher als offizielle Daten. Im Mai 2024 sponserte das ZOiS-UNET-Programm eine repräsentative Umfrage unter der erwerbstätigen Bevölkerung im Alter von 15 bis 70 Jahren, die in den von der Regierung kontrollierten Gebieten der Ukraine lebt: 2026 Befragte wurden über Telefoninterviews mit Anrufen auf Mobiltelefone befragt. Die wichtigsten Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt und, soweit sinnvoll, mit älteren Erhebungen vor der Invasion verglichen.

Faktoren der Arbeitsmarkterholung

Umschulung und Berufswechsel

Unserer Umfrage zufolge haben 48 Prozent der ukrainischen Arbeitskräfte seit Februar 2022 den Beruf gewechselt, darunter auch Zivilisten. Menschen mit »Arbeiterjobs« (die in der Regel körperliche oder manuelle Arbeit verrichten und häufig in der Produktion arbeiten) wechselten viel häufiger den Beruf als Menschen mit »Angestelltenjobs« (die eine höhere Ausbildung erfordern). Bei denjenigen, die den Beruf gewechselt haben, beträgt das Verhältnis zwischen Arbeiter- und Angestelltenberufen 73 Prozent zu 27 Prozent und bei denjenigen, die nicht gewechselt haben, 62 Prozent zu 38 Prozent. Hierfür kann es zwei mögliche Gründe geben:

  • »Angestelltenjobs« können häufiger aus der Ferne ausgeübt werden – also auch von Binnenvertriebenen oder Flüchtlingen. Laut einer kürzlich durchgeführten CES-Erhebung unter ukrainischen Flüchtlingen im Ausland, die auf einer Zufallsstichprobe im Verhältnis zur Zahl der Flüchtlinge in den einzelnen Aufnahmeländern (außer Russland und Belarus) beruht, arbeiten 10 Prozent aller beschäftigten Flüchtlinge aus der Ferne für ukrainische Unternehmen[4].
  • Das Erlernen eines neuen »Angestellten«-Berufs ist oft zeitaufwendiger und mühsamer als das eines »Arbeiter«-Berufs.

Junge Menschen wechseln deutlich häufiger den Beruf als Ältere (55 Prozent vs. 31 Prozent) und Männer deutlich häufiger als Frauen (55 Prozent vs. 38 Prozent).

Viele internationale Geber wie die GIZ förderten während des Krieges Umschulungsprogramme in der Ukraine. Die Streichung der USAID-Programme in der Ukraine im Jahr 2025 wird sich insbesondere auf die Umschulung und die Entwicklung des Unternehmertums negativ auswirken.

Unternehmertum

Wenn im Februar 2022 der Anteil der Unternehmer:innen (registrierte und nicht registrierte) unter den erwerbstätigen Ukrainer:innen 14 Prozent betrug, so lag er im Februar 2025 bei 26 Prozent[5]. Laut unserer Umfrage haben Unternehmer:innen einen deutlich höheren Wohlstand als Vollzeitbeschäftigte, insbesondere müssen 10 Prozent der Unternehmer:innen an Lebensmitteln sparen, gegenüber 18 Prozent bei den Vollzeitbeschäftigten.

Auch hier ergibt die Analyse der offiziellen Daten kein vollständiges Bild, da die Arbeitgeber:innen in der Ukraine ihre Angestellten manchmal auffordern, sich als Privatunternehmer:innen zu registrieren, um Steuern zu sparen, und gleichzeitig ein erheblicher Teil der Selbstständigen sich nicht registrieren lässt. Laut unserer Umfrage haben 56 Prozent der privaten Unternehmer:innen (sowohl registrierte als auch nicht registrierte) nach Februar 2022 ihren Beruf gewechselt. Die »Arbeiter«-Unternehmer:innen wechselten den Beruf in die Bereiche Lebensmittel, Bauwesen, Logistik und andere Arbeitsbereiche, die »Angestellten« in die Bereiche Wirtschaft und Finanzen, Rechtswissenschaften, Ingenieurwesen und Technik sowie Bildung.

Die möglichen Gründe, warum Unternehmer:innen tendenziell widerstandsfähiger sind als Arbeitnehmer:innen, sind die folgenden: 1) sie sind flexibler/anpassungsfähiger als Angestellte – wie oben gezeigt wurde, wechselten sie häufiger den Beruf; 2) etwa die Hälfte von ihnen arbeitete aus der Ferne im Vergleich zu 26 Prozent der Angestellten; 3) als sie zu Binnenvertriebenen wurden (15 Prozent von ihnen sind es laut unserer Umfrage), war es für sie einfacher, die Dienstleistungen am neuen Ort (oder aus der Ferne) zu erbringen, als für andere Binnenvertriebene.

Viele Geber förderten während des Krieges auch Programme zur Unterstützung von Unternehmer:innen durch NGOs und staatliche Beschäftigungszentren. Wie bereits erwähnt, wird die Streichung der USAID-Programme in der Ukraine im Jahr 2025 ebenfalls negative Auswirkungen auf die Entwicklung des Unternehmertums haben.

Fernarbeit

Während im Februar 2022 fast ein Fünftel (19 Prozent) der Ukrainer:innen angab, aus der Ferne zu arbeiten, arbeiteten nach unserer jüngsten Umfrage 26 Prozent der ukrainischen Arbeitnehmer:innen aus der Ferne oder in gemischten Arbeitsverhältnissen. In dieser Zahl sind Flüchtlinge, die aus der Ferne arbeiten, nicht enthalten, so dass die tatsächliche Prävalenz der Fernarbeit höher ist.

Wenn die Covid-19-Pandemie für irgendetwas gut war, dann dafür, dass sie den Ukrainer:innen half, sich an die Arbeitsbedingungen in Kriegszeiten anzupassen: Vor der Pandemie arbeiteten oder studierten 12 Prozent aus der Ferne, und diese Zahl stieg bis März 2020 auf 22 Prozent[6].

Durch die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie wurde die Fernarbeit nicht nur für Flüchtlinge und Binnenvertriebene zu einer guten Lösung, sondern auch für Menschen, die ihr Zuhause nicht verlassen haben (85 Prozent der Bevölkerung) – wegen der Logistik- und Sicherheitsprobleme während des Krieges, geschlossener Kindergärten und Schulen, die ebenfalls auf den Online-Betrieb umgestellt wurden, und weil Frauen, deren Angehörige mobilisiert oder getötet wurden, allein mit Kindern oder pflegebedürftigen erwachsenen Verwandten zurückblieben (in der Ukraine tragen Frauen in der Regel die Hauptlast der Betreuungsarbeit für Kinder und pflegebedürftige Verwandte).

Höhere Arbeitsbelastung

Laut unserer Umfrage hatten 40 Prozent der erwerbstätigen Ukrainer:innen im Vergleich zur Zeit vor der Vollinvasion mehr Pflichten und Arbeit und nur 4 Prozent weniger Pflichten. Der Fleiß der Ukrainer:innen ist also der Schlüsselfaktor für die Erholung, die Arbeit wurde für viele Ukrainer:innen zu einer der Möglichkeiten des Widerstands. Gleichzeitig gaben nur 11 Prozent der erwerbstätigen Ukrainer:innen an, dass sich ihr finanzieller Wohlstand seit der Zeit vor der umfassenden Invasion verbessert hat, gegenüber 62 Prozent, die von einer Verschlechterung ihres finanziellen Status berichteten.

Zum Vergleich: Im Info Sapiens Omnibus[7] wurde die Frage nach der Arbeitsbelastung in der COVID-19-Pandemie verfolgt – in der gesamten Pandemieperiode meldete die relative Mehrheit der Beschäftigten weniger Aufgaben.

Weniger Diskriminierung

Wandelnde Rollenbilder

Laut Daten zu Geschlechterstereotypen unter Jugendlichen und der Allgemeinbevölkerung vom November 2022[8] sind die Auswirkungen der Vollinvasion auf Geschlechterrollen und -stereotypen zwiespältig: Einerseits führt der Krieg zu einer Stärkung der traditionellen Rollen von Männern als Verteidiger und Frauen als »Wächterinnen« (die sich um Kinder kümmern und auf ihren beschützenden Ehemann warten). Auch Männer leiden unter der Stärkung traditioneller Geschlechterrollen: Vorurteile gegenüber denjenigen, die nicht kämpfen; Verbot von Auslandsreisen, insbesondere für männliche Studenten; Zensur derjenigen, die in den militärischen Rekrutierungsbüros Dokumente für Auslandsreisen ausstellen.

Andererseits nimmt die aktive Rolle der Frauen in der Gesellschaft und im Land zu – vor allem in den Streitkräften und im Bereich der Freiwilligenarbeit. Einzelne Befragte stellten fest, dass die Rolle der Frauen im Berufsleben und in der Familie gestärkt wurde: »Die Männer sind an die Front gegangen, ihre Aufgaben werden zwangsweise, aber effektiv von den Frauen wahrgenommen«.

Vor der umfassenden Invasion galten Frauen bei Arbeitgeber:innen oft als schlechtere Kandidat:innen als Männer, weil sie das »Risiko« einer Mutterschaft mitbrachten, sich in der Kinderbetreuung und Familienpflege engagierten und allgemein glaubten, dass Männer die Ernährer sein sollten. Aus diesem Grund glaubten 2018 lediglich 31 Prozent der ukrainischen Bevölkerung, dass »Frauen gleichzeitig in Familie und Beruf erfolgreich sein können«. Seit 2022 sind Männer als Arbeitnehmer stärker benachteiligt, weil ihnen die Mobilisierung droht oder sie sich davor verstecken (diejenigen, die sich vor der Mobilisierung verstecken, verlassen oft nicht einmal das Haus und weigern sich, einer offiziellen Beschäftigung nachzugehen) und weil sie nicht ins Ausland gehen können, wenn dies für die Arbeit erforderlich ist. Möglicherweise war dies einer der Gründe dafür, dass die Skepsis gegenüber dem Erfolg von Frauen sowohl im familiären als auch im beruflichen Bereich auf 12 Prozent (Stand November 2022) gesunken ist[9].

Dieses Stereotyp gibt es auch in der Armee/Freiwilligenarbeit angewandt, und Soldatinnen/Freiwillige in Gefahrenzonen werden oft als »schlechte Mütter« oder sogar als »Sexsüchtige« bezeichnet. Gleichzeitig wird behauptet, »gute Mütter« hätten »Frauenprivilegien« (nicht in der Armee zu dienen). Während Geschlechterstereotypen immer noch existieren, können Frauen für jede Rolle kritisiert werden: Wenn eine Mutter mit Kindern ins Ausland geht, ist sie »unpatriotisch« und »privilegiert«, wenn sie in der Ukraine bleibt, ist sie eine »schlechte Mutter«, da die Kinder gefährdet sind. Geschlechterstereotypen können die Emanzipation in Diskriminierung umwandeln – in der Vergangenheit mussten Frauen im schlimmsten Fall Vollzeit arbeiten und alle häuslichen/pflegerischen Aufgaben übernehmen, und jetzt sind aus diesen zwei Schichten drei geworden: 1) Arbeit, 2) Familie, 3) Freiwilligenarbeit für das Mutterland[10].

Altersdiskriminierung

Leider fehlen uns Vergleichsdaten über die Verbreitung von Altersdiskriminierung vor und seit der Vollinvasion. Aber der Personalmangel (die Zahlen zu diesem Problem werden weiter unten vorgestellt) führte zu einem Anstieg der Beschäftigungsquote der über 60-Jährigen von 10 Prozent im Februar 2022 auf 12 Prozent im Februar 2025 (60 Jahre ist das Rentenalter in der Ukraine, wobei die durchschnittliche Lebenserwartung vor dem Krieg bei etwa 70 Jahren lag und jetzt nach Schätzungen auf 64 Jahre gesunken ist). Dieser Anstieg sieht auf den ersten Blick nicht sehr signifikant aus, ist aber von Bedeutung, wenn man bedenkt, dass die allgemeine Beschäftigungsquote von 56 Prozent im Februar 2022 auf 48 Prozent im Februar 2025 in der Gesamtbevölkerung zurückgegangen ist[11].

Menschen im Alter von 60+ können auch als vorteilhaftere Arbeitnehmer:innen wahrgenommen werden als junge Männer im wehrpflichtigen Alter. Außerdem sind sich viele Arbeitgeber:innen darüber im Klaren, dass die Überalterung der Bevölkerung unvermeidlich ist (insbesondere aufgrund der niedrigen Geburtenrate, der Mobilisierung, der körperlichen Behinderungen und der Todesfälle unter den ukrainischen Soldat:innen sowie der Abwanderung jüngerer Menschen) und schenken dieser Altersgruppe daher immer mehr Aufmerksamkeit. Und Menschen über 60 müssen häufiger arbeiten, weil die Renten deutlich langsamer steigen als die Inflation, was es für sie notwendig macht, auch nach Erreichen des Rentenalters zu arbeiten.

Ableismus

Nach Angaben des Ministeriums für Sozialpolitik ist die Zahl der Menschen mit Behinderungen in der Ukraine bis 2022–23 um 10 Prozent gestiegen. In Wirklichkeit ist die Zahl wesentlich höher, da viele Menschen ihre Behinderung nicht registrieren lassen können (es ist ein kompliziertes und teures Verfahren mit dem Risiko der Korruption) oder nicht an einer Registrierung interessiert sind (denn wer eine Altersrente bezieht, kann nicht gleichzeitig eine Invalidenrente erhalten).

Im Januar 2025 waren laut einer repräsentativen Umfrage 86 Prozent der Personalverantwortlichen an der Einstellung von Menschen mit Behinderungen interessiert[12]. Leider liegen uns keine Vergleichsdaten für die Vorkriegszeit vor, aber auch hier können Menschen mit Behinderungen als vorteilhaftere Arbeitnehmer angesehen werden als Männer im wehrpflichtigen Alter.

Die Einstellung von Menschen mit Behinderungen bedeutet für die Arbeitgeber:innen einen erheblichen bürokratischen Aufwand, aber im Januar 2025 wurde das Gesetz »Über die Änderung bestimmter Gesetze der Ukraine zur Gewährleistung des Rechts von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit« verabschiedet, das diesen Prozess erleichtern und sich positiv auf den Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen auswirken wird.

Hindernisse für die Erholung des Arbeitsmarktes

In den letzten zwei Jahren haben immer mehr ukrainische Arbeitgeber:innen unter Personalmangel gelitten. Im Januar 2025 meldete die Hälfte der Personaler:innen offene Stellen. Zu den am häufigsten genannten Positionen gehörten: Fahrer:innen (12 Prozent), allgemeine Arbeiter:innen (12 Prozent), Direktor:innen oder Vorgesetzte (10 Prozent), Elektriker:innen und Verkaufsleiter:innen (jeweils 9 Prozent), Buchhalter:innen und Schlosser:innen (jeweils 7 Prozent). Die meisten freien Stellen waren in Arbeiterberufen zu besetzen.[13].

Warum also gibt es gleichzeitig eine hohe Arbeitslosigkeit und einen gravierenden Personalmangel? Die Haupthindernisse für die Beschäftigung werden im Folgenden dargestellt.

Flucht

Nach Schätzungen der IOM wurden etwa 3,6 Millionen Menschen aufgrund der Vollinvasion zu Binnenvertriebenen (Internally Displaced Person, IDP). Diese Zahl ist in den letzten 2 Jahren relativ stabil geblieben. Etwa ein Drittel von ihnen wurde zweimal zu IDPs – während des lokalen Krieges 2014–21 und nach Beginn des umfassenden Krieges ab 2022. Die Arbeitslosigkeit unter IDPs (22 Prozent) ist höher als unter Einheimischen (16 Prozent), und fast jede:r dritte Arbeitslose in der Ukraine (30 Prozent) ist ein:e IDP[14].

Alle unten genannten Hindernisse sind bei IDPs häufiger anzutreffen als bei nicht-IDPs. Außerdem fehlt es ihnen an lokalen Kontakten und Kenntnissen über den Arbeitsmarkt am neuen Wohnort, und sie leben in einem Zustand der Ungewissheit – die meisten wissen nicht, ob sie langfristig am Ort der Zuflucht bleiben, nach Hause zurückkehren oder woanders hinziehen werden.

Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt und regionale Probleme

Viele hochqualifizierte Fachkräfte finden in ihren Gemeinden keine ihrem Ausbildungsstand und ihrer Erfahrung entsprechende Stelle und sind oft nicht bereit, in niedrigeren Positionen zu arbeiten. Was Arbeiter:innen betrifft, so haben die meisten von ihnen lange Zeit in spezialisierten Betrieben gearbeitet und können in der Region oft keine entsprechende Beschäftigung finden.

Die Arbeitslosigkeit ist in den östlichen und südlichen Regionen, die am stärksten unter der russischen Aggression leiden, am höchsten. Viele Unternehmen wandern in sicherere Regionen der Westukraine ab, was die Situation verschärft (vgl. Ukraine-Analysen[15]).

Hohe Nachfrage, aber unzureichendes Angebot an Tele- und Teilzeitarbeit

Wie bereits erwähnt, stellt die Telearbeit eine praktikable Lösung für viele Bereiche und Gruppen dar: Für IDPs, die ihren Wohnort verlassen haben; in Regionen mit kriegsbedingten Logistik- und Sicherheitsproblemen; für Männer, die sich vor der Mobilisierung verstecken; für Frauen, die sich um Kinder und Angehörige kümmern.

Laut unserer Umfrage unter der erwerbstätigen Bevölkerung nannten 16 Prozent der Arbeitslosen ungünstige Arbeitszeiten und fehlende Teilzeitstellen als ihr Hauptproblem, 14 Prozent die Schwierigkeit, die Arbeit mit der Kindererziehung oder der Pflege anderer Familienmitglieder zu vereinbaren, und 13 Prozent logistische Probleme als Hindernis für eine Beschäftigung. 19 Prozent der Personen, die ihren Arbeitsplatz wechseln wollten, nannten als Grund die Möglichkeit, von einem anderen Ort aus arbeiten zu können.

Andererseits gaben im Januar 2025 nur 56 Prozent der Personaler:innen die Möglichkeit zur Teilzeitbeschäftigung, 39 Prozent die Möglichkeit einer vollständigen Fernarbeit und 36 Prozent die Möglichkeit einer »hybriden« Arbeit an[16].

Gesundheit

Im Februar 2025 gaben 31 Prozent der Ukrainer:innen schwere psychische und 23 Prozent physische Gesundheitsprobleme als Folge des Krieges in ihrer Familie an[17]. Die Prävalenz psychischer Probleme könnte sogar noch höher sein, da dieses Thema in der Ukraine derzeit stigmatisiert ist und die Menschen nicht offen darüber sprechen wollen und es ihnen oft an Informationen fehlt.

Geringe Aktivität der Arbeitssuchenden

Nach unserer Umfrage suchen etwa 60 Prozent der Arbeitslosen nach offenen Stellen, aber nur 21 Prozent schicken Lebensläufe, 18 Prozent haben sich beim staatlichen Arbeitsamt beworben. Die Gründe dafür können sowohl ein schlechter Gesundheitszustand und/oder eine schlechte psychische Verfassung sein als auch ein Mangel an Informationen über Arbeitsmöglichkeiten und Erfahrung bei der Arbeitssuche sowie der traditionelle Glaube, dass ein Arbeitsplatz nur über »Vitamin B« gefunden werden kann (52 Prozent der Arbeitslosen bevorzugen diese Art der Suche). (Was Bewerbungen über das staatliche Arbeitsamt betrifft, so könnten der hohe bürokratische Aufwand und das Verstecken vor der Mobilisierung (für Männer) zusätzliche Hindernisse darstellen).

Gleichzeitig ist die Bereitschaft zur Umschulung hoch: 72 Prozent der Arbeitslosen sind bereit, einen neuen Beruf zu erlernen/ neue Fähigkeiten zu erwerben, aber 18 Prozent wissen nicht, wo sie anfangen sollen.

Anhaltende Diskriminierung

Der oben erwähnte Rückgang diskriminierender Praktiken bedeutet nicht, dass sie völlig verschwunden sind. Unseren Daten zufolge gaben 12 Prozent der Arbeitslosen das Alter als Beschäftigungshindernis an.

Wie bereits erwähnt, glauben 13 Prozent der Bevölkerung, dass »Frauen es nicht schaffen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen«, und 14 Prozent der Personaler:innen würden keine Menschen mit Behinderungen einstellen. Die tatsächlichen Zahlen könnten höher sein, da die Befragten sozial erwünschte Antworten geben können oder sich ihrer Vorurteile selbst nicht bewusst sind.

So waren im Januar 2025 nur 20 Prozent der Menschen mit Behinderungen beschäftigt, während weitere 19 Prozent gerne arbeiten würden. Zum Vergleich: In vielen Industrieländern sind 30–40 Prozent der Menschen mit Behinderungen beschäftigt[18].

Fazit

Die von Info Sapiens erhobenen Zahlen zeigen, dass sich der ukrainische Arbeitsmarkt seit Beginn der russischen Vollinvasion stark verändert hat. Viele Menschen haben ihren Beruf gewechselt, und der Anteil der Selbstständigen und Kleinunternehmer:innen an der Erwerbsbevölkerung ist deutlich gestiegen. Auch die Fernarbeit hat an Bedeutung gewonnen, wobei die tatsächliche Verbreitung noch höher sein dürfte als erfasst.

Die Arbeitslosigkeit ist nach einem starken Anstieg direkt zu Beginn der Invasion wieder gesunken auf aktuell 17 Prozent, gleichzeitig gibt es einen anhaltend hohen Personalmangel. Der Krieg hat massive Fluchtbewegungen innerhalb der Ukraine ausgelöst. Viele Menschen haben dadurch nicht nur ihr Zuhause verloren, sondern auch ihre Arbeit, weshalb IDPs besonders stark von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Infolgedessen bestehen erhebliche Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt, vor allem in den vom Krieg am stärksten betroffenen Regionen im Osten und Süden.

Die Diskriminierung von Frauen, älteren Menschen und Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt hat zwar abgenommen, bleibt aber weiterhin ein Problem.

Trotz hoher Nachfrage mangelt es an flexiblen Arbeitsmöglichkeiten wie Teilzeit- oder Telearbeit, die für viele Menschen eine Lösung wären, z. B. Mütter, die nun alleinerziehend sind oder Angehörige pflegen. Die Arbeitsbelastung hat sich für viele Beschäftigte insgesamt erhöht, wird aber in Kauf genommen – auch, weil es für viele Ukrainer:innen zu einer Form des Widerstands geworden ist.

***

Danksagung

Ich bin dankbar für die Großzügigkeit der UNET-Forschungsstipendien von KIU und ZOiS. Ihre Unterstützung ermöglichte mir die Erstellung dieses Textes.

Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Eduard Klein


Verweise

[1] Center for Economic Strategy: Ukrainian refugees. Future abroad and plans for return. The third wave of the research. 2025. https://ces.org.ua/en/ukrainian-refugees-third-wave-research/.

[2] Info Sapiens Omnibus, 2022-2025. https://www.sapiens.com.ua/en/omnibus.

[3] https://me.gov.ua/view/74e86de5-126a-4849-94d5-7d4ea048e4b8.

[4] Center for Economic Strategy: Ukrainian refugees. Future abroad and plans for return. The third wave of the research. 2025. https://ces.org.ua/en/ukrainian-refugees-third-wave-research/.

[5] Info Sapiens Omnibus, 2022-2025. https://www.sapiens.com.ua/en/omnibus.

[6] Doslidzhennya hromads'koyi dumky shchodo sytuatsiyi u krayini pid chas pandemiyi COVID-19. Info Sapiens, 2020. https://www.sapiens.com.ua/ua/publication-single-page?id=114.

[7] Info Sapiens Omnibus, 2022-2025. https://www.sapiens.com.ua/en/omnibus.

[8] Gender stereotypes among youth: before and after the full-scale war. Insight, 2022. https://www.insight-ukraine.org/wp-content/uploads/2023/02/GS_2.pdf.

[9] Gender stereotypes among youth: before and after the full-scale war. Insight, 2022. https://www.insight-ukraine.org/wp-content/uploads/2023/02/GS_2.pdf.

[10] NZZ: «Ukrainische Frauen arbeiten in drei Schichten im Krieg» – wie die Ukrainerinnen ihr Land verteidigen, von Katrin Büchenbacher, 12.05.2022, https://www.nzz.ch/international/ukraine-krieg-ein-viertel-des-militaerpersonals-sind-frauen-ld.1681681.

[11] Info Sapiens Omnibus, 2022-2025. https://www.sapiens.com.ua/en/omnibus.

[12] Study on the Needs of Persons with Disabilities for Livelihoods and Access to the Labor Market in the Context of War in Ukraine. The League of Strong, 2025. https://ls.org.ua/potreby-lyudej-z-invalidnistyu-u-zasobah-do-isnuvannya-ta-dostupu-do-rynku-praczi-v-umovah-vijny-v-ukrayini/.

[13] Study on the Needs of Persons with Disabilities for Livelihoods and Access to the Labor Market in the Context of War in Ukraine. The League of Strong, 2025. https://ls.org.ua/potreby-lyudej-z-invalidnistyu-u-zasobah-do-isnuvannya-ta-dostupu-do-rynku-praczi-v-umovah-vijny-v-ukrayini/.

[14] Info Sapiens Omnibus, 2022-2025. https://www.sapiens.com.ua/en/omnibus.

[15] https://laender-analysen.de/ukraine-analysen/300/ukraine-wirtschaft-erholung-verlagerung-in-den-westen/

[16] Study on the Needs of Persons with Disabilities for Livelihoods and Access to the Labor Market in the Context of War in Ukraine. The League of Strong, 2025. https://ls.org.ua/potreby-lyudej-z-invalidnistyu-u-zasobah-do-isnuvannya-ta-dostupu-do-rynku-praczi-v-umovah-vijny-v-ukrayini/.

[17] Info Sapiens Omnibus, 2022-2025. https://www.sapiens.com.ua/en/omnibus.

[18] Study on the Needs of Persons with Disabilities for Livelihoods and Access to the Labor Market in the Context of War in Ukraine. The League of Strong, 2025. https://ls.org.ua/potreby-lyudej-z-invalidnistyu-u-zasobah-do-isnuvannya-ta-dostupu-do-rynku-praczi-v-umovah-vijny-v-ukrayini/.

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