Einleitung
Korruption war nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 eines der größten Probleme des jungen Staats. Erst nach der Majdan-Revolution 2014 wurden zwei unabhängige Behörden geschaffen, die es ermöglichen sollten, auch gegen hochrangige Politiker und Beamte wegen Vorteilsnahme oder Bestechlichkeit sowie gegen Oligarchen wegen Bestechung zu ermitteln.
Ende 2015 nahmen zwei neue Behörden ihre Arbeit auf: das Amt für Korruptionsbekämpfung (NABU) und die Sonderstaatsanwaltschaft zur Korruptionsbekämpfung (SAPO). Das Besondere an den neuen Institutionen war, dass die Führungsposten in einem aufwendigen und transparenten Auswahlverfahren unter Beteiligung internationaler Experten besetzt wurden, die mit ihren ukrainischen Kollegen sowohl auf die fachliche Eignung der Bewerber als auf deren Integrität achteten. Gleiches galt für die Besetzung des Hohen Gerichts für Korruptionsdelikte (WAKS), das 2019 gegründet wurde, nachdem in den Vorjahren mehrfach von NABU und SAPO ermittelte Korruptionsfälle vor gewöhnlichen Gerichten versandet waren. Die drei Institutionen galten weithin als »Inseln der Integrität« in einem Umfeld, in dem nach 2014 zwar einige Reformen angestoßen und umgesetzt wurden, aber die wesentlichen Strafverfolgungsbehörden im Großen und Ganzen weiter nach sowjetischem Muster aufgebaut sind und auch die Gerichte weiter von alten Netzwerken durchzogen sind.
Gleichwohl hatte es nach 2014 eine Reihe weiterer wichtiger Reformen zur Eindämmung der Korruption gegeben. Zu den wichtigsten Schritten gehörte die Schaffung von mehreren Transparenzregistern sowie des mehrfach prämierten digitalen Beschaffungsportals ProZorro und ein in Sachen Transparenz und Umfang weltweit einzigartiges Vermögensregister für eine Million Angestellte im öffentlichen Dienst der Ukraine sowie Politiker und hohe Beamte.
Im Jahr 2013 hatte die Ukraine im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International auf Rang 144 von 175 Ländern gelegen und ist seitdem immerhin auf Rang 122 im Jahr 2021 und Rang 105 im Jahr 2024 aufgestiegen. Teilte sich die Ukraine einst mit Russland den traurigen Ruf des korruptesten Lands in Europa, so liegt sie heute mit anderen EU-Beitrittskandidaten wie Albanien und Serbien im unteren Mittelfeld.
Das NABU – ein Dorn in den Augen der Mächtigen
NABU und SAPO sind zwei im Vergleich zur Nationalen Polizei, dem Geheimdienst SBU oder der Generalstaatsanwaltschaft kleine, hochspezialisierte Institutionen. Das NABU nahm im Oktober 2015 mit knapp 70 Ermittlern seine Arbeit auf. Heute beschäftigt das NABU knapp 800 Personen, von denen 300 Ermittler sind. Bei der SAPO liegt die gesetzliche Obergrenze bei 150 Angestellten, aktuell arbeiten 57 Staatsanwälte für das Amt, von denen jedoch 13 in der Armee dienen.
Anderthalb Jahre nach Aufnahme ihrer Arbeit gingen die beiden Behörden im Jahr 2017 erstmals gegen »große Fische« vor. Im März 2017 wurde beispielsweise der Leiter der staatlichen Steuerbehörde, Roman Nasirow, der bis 2016 Abgeordneter der Regierungspartei Block Petro Poroschenko gewesen war, wegen Verdachts auf Korruption festgenommen. Nasirow wurde Ende Oktober 2025 zu sechs Jahren Haft verurteilt. Es folgten Ermittlungen gegen mehrere Abgeordnete, Richter sowie ehemalige und amtierende (Vize-)Minister. Die Ermittler des NABU und des SAPO waren den Mächtigen schnell ein Dorn im Auge. Spätestens seit Ende 2017 kam es zu zahlreichen Versuchen, die beiden Behörden zu entmachten.
NABU und SAPO-Ermittlungen nehmen Fahrt auf
Richtig nahmen die Ermittlungen von NABU und SAPO aber nach Russlands Großangriff an Fahrt auf. Seit Februar 2022 sind auch hochrangige Politiker ins Fadenkreuz der Ermittler geraten.
Im Juli 2022 wurde nach langem Ringen der 35-jährige Oleksandr Klymenko, ein ehemaliger hochrangiger NABU-Detektiv, zum Leiter der SAPO ernannt. Zuvor hatte die Regierung seine Berufung in das Amt politisch und juristisch monatelang blockiert. Im März 2023 folgte die Ernennung von Semen Krywonos zum Direktor des NABU. Beide hatten ein aufwendiges und transparentes Auswahlverfahren durchlaufen.
Während aufgrund des Krieges in vielen Bereichen die Reformen stocken, arbeiten NABU und SAPO mit Hochdruck. In der ersten Jahreshälfte 2024 wurden 323 neue Ermittlungen eröffnet und 64 Fälle vor Gericht gebracht. In 27 Fällen sprach das Hohe Gericht für Korruptionsdelikte die Angeklagten schuldig. In der ersten Jahreshälfte 2025 stieg die Zahl der neuen Fälle auf 370, 154 Verdächtige wurden angeklagt und 62 verurteilt.
Hinter den Zahlen verbergen sich zum Teil hochbrisante Fälle. Zu den Beschuldigten bzw. Angeklagten gehörten im Juli 2025 mehr als 30 Parlamentsabgeordnete, der ehemalige stellvertretende Leiter der Präsidialverwaltung Andrij Smyrnow (2019–2024), der amtierende Landwirtschaftsminister Witalij Kowal, der Chef der Antimonopolbehörde Pawlo Kyrylenko sowie mehrere Richter am Obersten Gericht, inklusive dem Vorsitzenden Wsewolod Knjasew, der auf frischer Tat ertappt wurde, als er knapp drei Millionen US-Dollar Schmiergeld annahm. Auch vor Ermittlungen im sensiblen Bereich Rüstung und Verteidigung schreckten die Ermittler nicht zurück. Nach eigenen Angaben eröffneten sie zwischen 2022 und 2023 mehr als 60 Verfahren in diesem Feld. Darunter war der Skandal um den Ankauf von Lebensmitteln für die Armee zu überhöhten Preisen, bei dem ein geschätzter Schaden in Höhe von 730 Millionen UAH (fast 18 Millionen US-Dollar) entstand.
Die Einschläge kommen näher ans Zentrum der Macht
Anlass für das Vorgehen der Präsidialadministration gegen NABU und SAPO im Sommer 2025 waren jedoch wohl andere Fälle. Bereits 2023 leitete das NABU Ermittlungen gegen Rostyslaw Schurma ein, der knapp drei Jahre lang als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung für die ukrainische Wirtschaft zuständig war. Trotz der laufenden Ermittlungen hielt Präsident Selenskyj monatelang an seinem engen Vertrauten fest und entband ihn erst Anfang September 2023 von seinem Posten. Mitte Juli 2025 durchsuchte dann überraschend die bayrische Polizei nach einem Rechtshilfeersuchen des NABU ein Anwesen Schurmas am Starnberger See.
Ein weiterer enger Vertrauter Selenskyjs, der laut ukrainischen Medienberichten ins Fadenkreuz der Ermittler geriet, ist Timur Minditsch, Miteigentümer der Unternehmensgruppe Kvartal 95. Ende Juli 2025 berichtete der Investigativjournalist Mychajlo Tkatsch, NABU und SAPO würden seit geraumer Zeit gegen den langjährigen Freund und Geschäftspartner von Selenskyj ermitteln, hörten seine Wohnung ab und stünden kurz davor, die Öffentlichkeit über die Ermittlungen zu informieren (Anm. d. Red: Mehr zum Korruptionsfall um Minditsch in den Kommentaren dieser Ausgabe).
Besonders aber muss Selenskyj die Aufnahme von Ermittlungen gegen Oleksij Tschernyschow getroffen haben. Der erste stellvertretende Ministerpräsident und Minister für Einheit ist das hochrangigste amtierende Kabinettsmitglied, gegen das bislang ermittelt wurde. Vor allem aber ist er ein enger Freund der Familie Selenskyj sowie der Familie des Chefs der Präsidialadministration Andrij Jermak. Selenskyjs Frau Olena Selenska ist die Taufpatin, Andrij Jermak der Taufpate von einem der drei Kinder Tschernyschows. Mit dem Vorgehen gegen Schurma, Minditsch und Tschernyschow scheinen NABU und SAPO aus Sicht des Präsidenten und seines engsten Umfelds »rote Linien« überschritten zu haben.
Der erste Akt: offener Angriff auf das NABU
In den frühen Morgenstunden des 21. Juli 2025 führten der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU und die staatliche Ermittlungsbehörde DBR 70 Durchsuchungen bei insgesamt 15 Mitarbeitern des NABU durch. Der Inlandsgeheimdienst SBU ist ein aus sowjetischer Zeit stammender riesiger Apparat, der über weitreichende polizeiliche Befugnisse verfügt und nur schwacher parlamentarischer Kontrolle unterliegt. Für keine einzige der Durchsuchungen gab es einen richterlichen Beschluss. Laut NABU und ukrainischer Medienberichte wendeten die SBU-Ermittler in drei Fällen exzessive physische Gewalt an, obwohl die Betroffenen keinerlei Widerstand leisteten.
Laut SBU handelte es sich um eine Spezialoperation zur »Neutralisierung des russischen Einflusses« auf das NABU. Zwei leitenden Ermittlern wurde Hochverrat und die Weitergabe von Informationen mit Auswirkungen auf die nationale Sicherheit vorgeworfen. Parallel teilte die Ermittlungsbehörde DBR mit, sie ermittle gegen drei NABU-Beamte, die Verkehrsunfälle verschuldet hätten. Zwei der drei Fälle gehen in das Jahr 2021 zurück.
Einer der verdächtigten NABU-Ermittler ist Ruslan Mahamedrasulow, Leiter der überregionalen Abteilung der Behörde und einer ihrer wichtigsten Ermittler. Mahamedrasulow koordiniert u. a. die Arbeit in den frontnahen Gebieten und leitete die Ermittlungen gegen den Selenskyj-Vertrauten Minditsch. Mahamedrasulow selbst warnte in einem Interview, das er nach seiner Verhaftung geben konnte, dass der SBU möglicherweise durch sein Vorgehen an viele Informationen über laufende Ermittlungen und Quellen gelangen könnte. Er drückte zudem die Sorge aus, dass Informanten in Gefahr seien. Die gegen Mahamedrasulow erhobenen Vorwürfe sind schwerwiegend. Ihm wird u. a. vorgeworfen, er habe seinen Vater beim illegalen Handel mit Nutzhanf nach Russland unterstützt, Kontakte zu Moskauer Geheimdiensten sowie zu dem flüchtigen Abgeordneten der verbotenen Partei Oppositionsplattform (OP) gehabt. Der SBU hat jedoch bislang keine überzeugenden Beweise für die Anschuldigungen veröffentlicht.Der zweite Akt: Entmachtung von SAPO und NABU
Am Morgen des 22. Juli 2025, wenige Stunden nach den Razzien gegen das NABU, beschloss der Parlamentsausschuss für Strafverfolgung eine von Maksym Buschanskyj von der Fraktion Diener des Volkes eingebrachte weitreichende Änderung des ukrainischen Strafrechts. An einen bereits in erster Lesung verabschiedeten Gesetzestext (Nr. 12414) zu vermissten Personen wurden seitenlange, nach Experteneinschätzung über Wochen professionell vorbereitete Änderungen angehängt, die im Wesentlichen die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft und des Generalstaatsanwalts enorm ausweiteten und die SAPO diesem unterordneten.
Nur wenige Stunden nach dem Beschluss des Ausschusses wurde das in der Substanz vollkommen neue Gesetz unter Verletzung etlicher prozeduraler Regeln ins Plenum eingebracht. Eine Gruppe von Abgeordneten der Oppositionsparteien Holos und Europäische Solidarität versuchte zwar, eine Abstimmung zu verhindern. Doch bei vielen Abgeordneten sind NABU und SAPO äußerst unbeliebt. Am Ende der kurzen Aussprache im Plenum hielt die frühere Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko eine Rede, in der sie gegen internationale Experten, Beratungsgremien und Aufsichtsräte wetterte. Diese würden die Souveränität der Ukraine untergraben. Die Gesetzesvorlage bezeichnete sie als »Beginn der Dekolonisierung der Ukraine« und erklärte: »Heute ist ein lichter Tag dieses Parlaments, erstmals kann ich mich davon überzeugen, dass die Kolonisierung der Ukraine nicht das Allheilmittel für all unsere Probleme ist.« Nach Tymoschenkos Rede war lautes Jubeln in der Rada zu vernehmen.
Bei der Abstimmung am frühen Nachmittag votierten 263 Abgeordnete für die Gesetzesänderung, die die nach 2014 geschaffenen Institutionen der Korruptionsbekämpfung ihrer Unabhängigkeit beraubte und sie der politisch kontrollierten Generalstaatsanwaltschaft unterstellte. An deren Spitze hatte Selenskyj vier Wochen zuvor mit dem 35-jährigen Ruslan Krawtschenko einen Mann berufen, der als loyaler Gefolgsmann gilt. Krawtschenko hatte sich in den Jahren 2019–2020 auf die Leitung der SAPO und 2023 auf die Leitung des NABU beworben – ohne Erfolg. Im Auswahlverfahren für den NABU-Direktor wurde er nicht berücksichtigt, weil er die Integritätsprüfung nicht bestand – die Kommission äußerte Zweifel an der Plausibilität seiner Einkünfte und Ausgaben sowie an einzelnen persönlichen Verbindungen.
Der Vorsitzende der Werchowna Rada, Ruslan Stefantschuk, unterschrieb das Gesetz umgehend und übersandte es dem Präsidenten zur Unterschrift. Nur wenige Stunden später formierten sich erste Proteste in der Hauptstadt. Die Proteste und Anrufe wichtiger Partner der Ukraine versuchten, Selenskyj von dem letzten Schritt abzuhalten. Doch dieser unterzeichnete das Gesetz noch am selben Abend und löste die größte innenpolitische Krise in der Ukraine seit 2019 aus.
Proteste, internationaler Druck und ein Rückzieher
Am Tag nach der Unterzeichnung protestierten rund 10 000 überwiegend jüngere Menschen in Kyjiw. Auch in mehreren anderen Städten von Lwiw bis Dnipro versammelten sich Demonstranten und forderten eine Rücknahme des Gesetzes. Ebenso wie zahlreiche Beobachter zeigten sich die Protestierenden überzeugt, dass die Ukraine dabei ist, den Weg in die Europäische Union zu verlassen. Und tatsächlich gingen immer mehr Anrufe wichtiger internationaler Partner der Ukraine bei Selenskyj und seiner Regierung ein, die unisono eine Kurskorrektur forderten.
Der Druck der Straße und von Seiten internationaler Partner wurde so groß, dass der Präsident am 24. Juli – keine 48 Stunden nach der Unterzeichnung des Gesetzes – einen neuen Gesetzesentwurf ankündigte. Ohne einen Fehler einzuräumen, erklärte Selenskyj, er habe einen neuen Gesetzesentwurf vorgelegt, der sicherstellen solle, dass die Unabhängigkeit und Wirksamkeit der beiden mit der Korruptionsbekämpfung befassten Behörden gewährleistet bleibe.
Dieser Entwurf (Nr. 13533) wurde in kürzester Zeit ausgearbeitet und am 31. Juli 2025 mit den Stimmen von 331 Abgeordneten verabschiedet. Nach Einschätzung zahlreicher Nichtregierungsorganisationen sowie der beiden betroffenen Behörden selbst stellt das neue Gesetz die Unabhängigkeit der Behörden wieder her. Eine Ausweitung der Proteste und des internationalen Drucks in der schwierigen Kriegsphase war damit abgewendet.
Der Vorgang hat jedoch dem Ruf Selenskyjs geschadet und auch die erst kurz zuvor von ihm ernannte neue Regierung von Ministerpräsidentin Julija Swyrydenko sowie das Parlament beschädigt. Selenskyj hatte offenbar darauf gesetzt, dass die internationalen Partner wegschauen und die ukrainische Gesellschaft sich mit dem Argument abspeisen lasse, das Gesetz richte sich gegen russischen Einfluss.
Fortsetzung des Machtkampfs mit anderen Mitteln
Bei einem gemeinsamen Auftritt am 8. August 2025 warnten die Leiter von NABU und SAPO vor weiteren Angriffen auf ihre Behörden. Beide gaben an, konkrete Informationen darüber zu haben, dass sie ihres Postens enthoben werden sollen. Auch in den folgenden Wochen machten beide Behördenleiter deutlich, dass der Druck auf sie und ihre Ämter nach wie vor hoch ist. Oleksandr Klymenko, Leiter der SAPO, erklärte am 13. September 2025 in einem Interview: »Man darf nicht außer Acht lassen, dass dies [die vorübergehende Entmachtung der beiden Behörden] unsere Arbeit erheblich verlangsamt hat. Die Folgen sind ziemlich gravierend. Und wir werden weiter daran gehindert, unsere Arbeit effektiv zu erledigen.«
Ein zentrales Druckmittel ist das Vorgehen gegen die Ende Juli verhafteten NABU-Ermittler. In einer Analyse der Anklagepunkte und der bislang vorgelegten Beweise gegen Mahamedrasulow und seinen Vater bezeichnet Olena Scherban, Vorstandsmitglied der wichtigen NGO Anti-Corruption Action Centre (Antac), die Anklage als »fabriziert«. Scherban gehört zu einer Gruppe von Rechtsanwälten, die Mahamedrasulow verteidigen. Hauptziel sei es, so Scherban, Ermittlungen gegen Selenskyj-Vertraute zu unterbinden. Zu den vom SBU präsentierten Indizien gehört ein veröffentlichtes Telefonat, in dem der Beschuldigte von Geschäften mit Unternehmen in Dagestan gesprochen haben soll. Der Zeuge, mit dem sich der NABU-Ermittler in dem abgehörten Gespräch unterhielt, hat erklärt, dass es in dem Gespräch nicht um Handel mit Dagestan, sondern mit Usbekistan gegangen sei. Auch habe der SBU ihm Drohungen zukommen lassen. Beides bestätigte auch der Sohn des Zeugen.
Seit dem 10. September 2025 ist mit Witalij Tebekin ein dritter NABU-Ermittler angeklagt. Dem stellvertretenden Leiter einer NABU-Abteilung wird vorgeworfen, er soll eine falsche Vermögensdeklaration abgegeben haben. Tebekin wurde beurlaubt und gegen eine Kaution von fast drei Millionen Hrywnja aus der Untersuchungshaft entlassen. Das NABU kündigte eine interne Überprüfung an, gab aber bekannt, dass Tebekins Vermögenserklärung im Jahr 2024 geprüft worden sei und keine Verstöße festgestellt wurden.
Trotz dieser Einschüchterungsversuche setzten NABU und SAPO ihre Ermittlungen auch im hochsensiblen Bereich der Rüstungsindustrie fort. Wenige Tage nach der Wiederherstellung ihrer Unabhängigkeit deckten die Behörden einen Korruptionsskandal bei der Beschaffung von Drohnen auf. Ende August wurde zudem bekannt, dass die Ermittler den Rüstungsproduzenten Fire Point unter die Lupe genommen haben.
Einem Test auf ihre Durchsetzungsfähigkeit unterzogen sich NABU und SAPO vier Wochen nach dem Entmachtungsversuch. Anfang September gaben sie bekannt, dass sie gegen Ilja Witjuk, einen hochrangigen Mitarbeiter des SBU, wegen des Verdachts auf illegale Bereicherung und falsche Vermögenserklärung ermitteln. Auf die Mitteilung der beiden Behörden reagierte der SBU empört: Es handele sich um einen Racheakt, nachdem der SBU »effektiv gegen russischen Einfluss auf Staatsbehörden vorgegangen ist und Straftaten mehrerer Mitarbeiter des Amts [NABU] aufgedeckt hat«.
Am 25. September leitete der SBU erneut zahlreiche Durchsuchungen ein. Betroffen waren nun ehemalige NABU-Ermittler, die beim staatlichen Eisenbahnunternehmen Ukrsalisnyzja arbeiten. Einer von ihnen ist der Bruder der Anwältin Scherban, die den NABU-Ermittler Mahamedrasulow verteidigt. Nach Angaben des SBU seien die Durchsuchungen per Gerichtsbeschluss genehmigt. Ziel sei es, gegen Missbrauch in der Güterverkehrssparte von Ukrsalisnyzja vorzugehen. Das NABU sprach davon, es werde systematisch Druck ausgeübt, um sie gefügig zu machen. Der SBU bestritt, dass die Durchsuchungen in einem politischen Zusammenhang stünden.
Auch das überdimensionierte Aufgebot der Staatsanwaltschaft im Verfahren gegen Mahamedrasulow und seinen Vater lässt sich kaum anders deuten denn als Hinweis auf die große politische Bedeutung des Falls: Alleine die Anklageschrift gegen den NABU-Ermittler wird von 42 Staatsanwälten unterstützt, darunter Generalstaatsanwalt Krawtschenko. Das Anti-Corruption Action Centre bezeichnet Mahamedrasulow mittlerweile als »Geisel« und begründet dies mit dem Vorgehen der Staatsanwaltschaft und der involvierten Gerichte, die Mahamedrasulow über Wochen das Recht auf Einspruch gegen die angeordnete Untersuchungshaft verwehrten. Mehrfach vertagte das Berufungsgericht im Kyjiwer Stadtbezirk Petschersk die Sitzung, um dann am 23. September den Antrag der Verteidigung auf Umwandlung der Untersuchungshaft in nächtlichen Hausarrest zurückzuweisen.
Von all diesen Vorgängen geht eine deutliches Signal aus: Staatsanwälte und Ermittler, die hochrangige Korruptionsfälle bearbeiten, sollen eingeschüchtert werden. Ihre Gewissheit, vor Druck, Gewalt und staatlichen Maßnahmen geschützt zu sein, soll erschüttert werden. Eine ähnliche Wirkung ist auch bei Informanten und Whistleblowern zu erwarten, die sich den beiden Behörden anvertraut und sie mit sensiblen Informationen versorgt haben.
Schleichende Entmachtung mit neuen Gesetzen
Zudem gibt es erneut Versuche, den Handlungsspielraum von NABU und SAPO mit Gesetzesänderungen einzuschränken. In der Werchowna Rada liegen mehrere Gesetzesentwürfe, die die Unabhängigkeit der beiden Behörden bedrohen. Das Vorgehen ist nicht mehr so grobschlächtig wie beim ersten Versuch. Nun sollen die Kompetenzen der beiden Behörden in wichtigen Bereichen beschnitten werden. Zwei Gesetzesentwürfe verdeutlichen dies: Entwurf Nr. 13423 soll vom Verteidigungsministerium ausgewählten Rüstungsunternehmen rückwirkend Immunität verschaffen. Auch soll der Einfluss der Generalstaatsanwaltschaft auf Verfahren ausgeweitet und im Gegenzug die Unabhängigkeit von Ermittlern und Staatsanwälten geschwächt werden – auch in Fällen, die eigentlich in die Zuständigkeit von NABU, SAPO und des Obersten Gerichts für Korruptionsbekämpfung fallen.
Entwurf Nr. 12439 soll »die Wirtschaft schützen« und würde Handlungen für rechtmäßig erklären, sofern sie den »Erläuterungen« von Regulierungsbehörden entsprechen. Würde dieser Entwurf gebilligt, könnten also administrative Auslegungen an die Stelle von Gerichtsentscheidungen treten, die auf Gesetzen fußen. Transparency International Ukraine bemängelt auch, dass Eildurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss in Korruptionsfällen – etwa bei Bestechung oder Einflussnahme – mit dieser Gesetzesvorlage erschwert werden sollen.
Zudem wurde in der Werchowna Rada am 19. Juni 2025 auf Beschluss von 257 Abgeordneten ein temporärer Untersuchungsausschuss zur Aufklärung möglicher Korruption in den Sicherheits- und Justizbehörden geschaffen. Zum Vorsitzenden wurde Serhij Wlasenko von Julija Tymoschenkos Partei Batkiwschtschyna (Vaterland) gewählt, zum Stellvertreter Maksym Buschanskyj, also jener Abgeordnete aus der Fraktion der Präsidentenpartei Diener des Volkes, der das Gesetz eingebracht hatte, das nach dem Sturm der Entrüstung zurückgenommen wurde. Beide haben sich immer wieder mit scharfer Kritik an NABU und SAPO hervorgetan. Die Vermutung liegt nahe, dass die Kommission nicht geschaffen wurde, um neutrale Untersuchungen zu ermöglichen, sondern ein politisches Werkzeug ist, mit dem Druck auf NABU, SAPO und andere unabhängige Institutionen ausgeübt werden soll.
Verleumdung
Schließlich werden in großem Stil falsche Informationen über die beiden Behörden in Umlauf gebracht, die das Vertrauen in deren Integrität untergraben sollen. NABU-Direktor Semen Krywonos sprach im Juli 2025 von einer »Schmutzkampagne«, die vor allem über anonyme Telegram-Kanäle geführt werde, um die Arbeit der Behörde zu diskreditieren. Ermittlern wird unterstellt, sie seien »pro-russisch« oder selbst in Korruptionsfälle verstrickt.
Die Desinformationsbemühungen zeigen laut Umfragen erste Wirkung. Laut einer Online-Umfrage des Instituts Info Sapiens, in Auftrag gegeben vom öffentlichen Fernsehsender Suspilne vom 9.–10. September, sehen 26 Prozent der Ukrainer darin lediglich einen »Kampf der Sicherheitsorgane um Einfluss«. Zugleich vertrauen 39 Prozent weder SBU noch NABU oder SAPO, während 16 Prozent eher dem SBU und nur 12 Prozent den beiden Behörden Vertrauen schenken.Ausblick
Konsequentes Vorgehen gegen Korruption ist eine zentrale Voraussetzung für einen Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union. Russlands Krieg gegen die Ukraine kann kein Vorwand sein, die Eindämmung der Korruption hintanzustellen. Die Angriffe auf NABU und SAPO im Sommer 2025 haben allerdings gezeigt, wie verwundbar die Institutionen der Korruptionsbekämpfung in der Ukraine sind. Nur Proteste und vor allem internationaler Druck verhinderten eine Entmachtung der beiden Behörden. Das Vertrauen in die politische Führung hat jedoch erheblichen Schaden genommen – sowohl in der Ukraine als auch bei ihren internationalen Partnern.
NABU und SAPO werden weiter unter Druck gesetzt, insbesondere durch den SBU und die Generalstaatsanwaltschaft. Auch von den Parteien, die im Parlament für das Entmachtungsgesetz gestimmt hatten, geht weiter Gefahr für die unabhängige Arbeit der Behörden aus. Es handelt sich keineswegs lediglich um einen Machtkampf zwischen nachgeordneten Behörden. Für die Angriffe, die die Präsidentenpartei Diener des Volks aus dem Parlament führt, sowie für jene, die von Selenskyj direkt unterstellten und loyalen Behördenleitern ausgehen, tragen der Präsident und sein Umfeld die direkte politische Verantwortung.
Um die Unabhängigkeit von NABU und SAPO zu sichern, braucht es klare Schutzmechanismen. Nur auf diese Weise können Rückschritte verhindert und die Autonomie der beiden Behörden gestärkt werden. Um selbständiger arbeiten zu können, benötigen die beiden Ämter eine eigenständige forensische Expertise sowie die technischen Möglichkeiten, um Verdächtige nach einer richterlichen Anordnung abhören zu können. Bislang müssen die Ermittler auf den SBU zurückgreifen, was diese nach Angaben des NABU wegen des mangelnden Vertrauens in den SBU nur äußerst selten tun.
Auch sollten die Befugnisse der SAPO-Leitung insbesondere bei Verfahren gegen Abgeordnete erweitert werden. Bislang muss der Generalstaatsanwalt im Falle eines Verdachts die Ermittlungen genehmigen. Ob der seit Juli amtierende Generalstaatsanwalt Krawtschenko Ermittlungen gegen Abgeordnete zulassen wird, ist offen. Weitere konkrete Empfehlungen zur Stärkung von NABU und SAPO liegen vor, nicht zuletzt aus den unabhängigen Audits und dem im November 2025 veröffentlichen EU-Erweiterungsbericht.
Die Bekämpfung von Korruption auf höchster Ebene in der Ukraine wird immer wieder in Frage gestellt werden, wenn die dafür zuständigen Ämter die mächtigsten Behörden des Landes gegen sich haben. Daher steht der Ukraine eine Herkulesaufgabe bevor: SBU und Generalstaatsanwaltschaft müssen reformiert und entpolitisiert werden. Ein Umbau der Generalstaatsanwaltschaft wurde nach 2014 angestoßen, aber nie umfassend umgesetzt. Nun steht die Reform, zu der auch ein neues Verfahren bei der Ernennung des Generalstaatsanwalts gehört, auf der Agenda der Reformen für einen Beitritt zur EU.
Von zentraler Bedeutung ist, dass die internationalen Partner der Ukraine das weitere Geschehen um die beiden Behörden genau beobachten. Versteckte Versuche zur Beschneidung der Kompetenzen müssen rasch als solche erkannt werden. Anschließend bedarf es einer sofortigen Intervention auf höchster politischer Ebene. Die EU-Spitze und wichtige Verbündete sollten Selenskyj und seiner Regierung unmissverständlich klarmachen, dass jeder weitere Versuch, die Korruptionsbekämpfung zu behindern, Folgen für die Bemühungen um einen EU-Beitritt hat.
Hinweis: Dieser Text ist eine gekürzte Fassung des in Osteuropa 8-9/2025 erschienenen Beitrags »Tod durch tausend Nadelstiche. Angriff auf die Korruptionsbekämpfung in der Ukraine«, der frei zugänglich ist unter https://zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2025/8-9/tod-durch-tausend-nadelstiche/. Dort finden sich auch zahlreiche Quellenlinks.
Die Redaktion der Ukraine-Analysen dankt der Zeitschrift Osteuropa für die Erlaubnis zur Nachnutzung.