Gefangen zwischen Front und Grenze? Einstellungen zu Mobilisierung und Reisebeschränkungen in der Ukraine nach 2022

Von Yana Lysenko (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

Zusammenfassung
Seit Beginn der russischen Vollinvasion zählen Mobilisierungsmaßnahmen und kriegsbedingte Ausreisebeschränkungen für Männer zu den sensibelsten und gesellschaftlich am stärksten polarisierenden Themen in der Ukraine. Beide Maßnahmen betreffen seit dem 24. Februar 2022 nahezu jede Familie: Gegenwärtig umfasst die Mobilisierungspflicht Männer im Alter von 25 bis 60 Jahren, während die Ausreisebeschränkungen seit Ende August 2025 für Männer zwischen 23 und 60 Jahren gelten. Der Beitrag untersucht die Einstellungen verschiedener Bevölkerungsgruppen zu diesen Maßnahmen. Grundlage sind 34 qualitative Tiefeninterviews mit Ukrainerinnen und Ukrainern im In- und Ausland aus dem Jahr 2025. Die Analyse zeigt ein breites Spektrum an Wahrnehmungs- und Deutungsmustern. Dieses reicht von loyaler Akzeptanz der Mobilisierung als notwendige Maßnahme zur Landesverteidigung bis hin zu scharfer Kritik an ihrer praktischen Umsetzung.

Gesetzliche Rahmenbedingungen der Mobilisierung in der Ukraine: Rechtslage, Zuständigkeiten und Verpflichtungen

Die allgemeine Mobilmachung wurde in der Ukraine am 24. Februar 2022 als Reaktion auf Russlands Überfall auf die Ukraine mit dem Erlass des ukrainischen Präsidenten Nr. 65/2022 ausgerufen. Gleichzeitig trat auch der Präsidialerlass Nr. 64/2022 »Über die Einführung des Kriegsrechts in der Ukraine« in Kraft, der das Kriegsrecht landesweit ausrief und bis heute im 90-Tage-Rhythmus verlängert wird. Die rechtliche Grundlage für die Mobilisierung ist ein Zusammenspiel aus mehreren Gesetzen, Präsidialdekreten und Kabinettsbeschlüssen.

Zentral für die Durchführung der Mobilisierung in der Ukraine sind das Gesetz »Über die Verteidigung der Ukraine«, das die Grundprinzipien der Landesverteidigung definiert und explizit darauf verweist, dass die Regulierung der Mobilmachung mit weiteren Gesetzen erfolgt. Dazu gehören das Gesetz »Über die Mobilisierungsvorbereitung und Mobilisierung«, das die Pflichten der Bürger und Zuständigkeiten bei der Durchführung der Mobilmachung festlegt sowie das Gesetz »Über die Wehrpflicht und den Militärdienst«, das die Wehrpflichten und Kategorien der Wehrdienstpflichtigen definiert und erläutert.

Obwohl Männer im Alter von 18 bis 60 als wehrdienstpflichtig gelten, können derzeit allerdings nur Männer zwischen 25 und 60 Jahre für den Kriegsdienst im Rahmen der Generalmobilmachung mobilisiert werden. Am 2. April 2024 hat die ukrainische Regierung das Mindestalter für die Einberufung zum Kriegsdienst von 27 auf 25 Jahre gesenkt. Die jüngeren Männer im Alter von 18 bis 24 Jahren sind vom Wehrdienst ausgeschlossen und können nur freiwillig eingezogen werden. Allerdings unterliegen sie seit dem 23. Lebensjahr den geltenden Ausreisebeschränkungen.

Von der Einberufung ausgeschlossen sind nur Männer, die durch eine militärärztliche Kommission als »ungeeignet für den Militärdienst« eingestuft wurden, alleinerziehend sind oder Pflege- bzw. Betreuungsverpflichtungen haben sowie Väter von mindestens drei minderjährigen Kindern. Zu beachten ist, dass jede Befreiung und Zurückstellung vom Wehrdienst formell beantragt werden muss und gegebenenfalls auch wiederholter oder regelmäßiger Überprüfung bedarf. Außerdem sieht die aktuelle ukrainische Rechtslage vor, dass Mitarbeitende bestimmter Institutionen und Unternehmen, die zur kritischen Infrastruktur gehören, freigestellt werden können. Eine solche Freistellung bedeutet allerdings keine endgültige Befreiung von der Wehrdienstpflicht, da diese immer befristet ist und daher regelmäßig vom Unternehmen beantragt werden muss. Sie darf üblicherweise nicht mehr als 50 Prozent der wehrpflichtigen Beschäftigten umfassen.

Während das Verteidigungsministerium der Ukraine für die Leitlinien, Mobilisierungskriterien und Koordination ihrer Umsetzung zuständig ist, wird die tatsächliche Mobilisierung landesweit von Mitarbeitenden der Territorialen Zentren für Rekrutierung und soziale Unterstützung (im Ukrainischen gewöhnlich als TZK abgekürzt) durchgeführt. Die TZK sind eine dem Verteidigungsministerium unterstellte Verwaltungsbehörde, die nach Beginn der großflächigen Invasion 2022 das System der Militärkommissariate ersetzt hat und aktuell für die Implementierung der kriegsbedingten Mobilisierungsmaßnahmen verantwortlich ist. Zur Zuständigkeit der TZK gehören die Einberufungen, die Verwaltung des Wehrregisters, die Erteilung der Vorladungen zum Militärdienst sowie die Durchführung der medizinischen Eignungsprüfungen für den Wehrdienst.

Vorladungen zum Wehrdienst werden nach geltender ukrainischer Rechtslage entweder persönlich – durch befugte TZK-Mitarbeitende – gegen Unterschrift überreicht oder mit Empfangsbestätigung an die Wohnadresse per Post verschickt. Beide Zustellformen gelten nach dem Beschluss des Ministerkabinetts »Über die Frage der Einberufung von Bürgern zum Militärdienst während der Mobilmachung, für einen besonderen Zeitraum« als ordnungsgemäße Vorladung. Elektronische Instrumente wie das »elektronische Kabinett des Wehrpflichtigen« (Beschluss Nr. 1487/2022) werden schrittweise eingeführt und bereits für bestimmte Dokumente (z. B. medizinische Überweisungen) genutzt. Allerdings ergänzt die elektronische Zustellungsform die klassischen Zustellformen von Vorladungen, ersetzt diese aber derzeit noch nicht.

Kontroversen bei der Mobilisierung: Einstellungen zum rechtlichen Rahmen und zur Umsetzungspraxis

Das Thema Mobilisierung wird derzeit sowohl im Parlament als auch in den Medien der Ukraine ausführlich und kontrovers diskutiert. Obwohl sich die Parlamentsparteien grundsätzlich einig sind, dass eine personell ausreichend ausgestattete Armee zur Abwehr der russischen Aggression notwendig ist, gehen die politischen Haltungen bezüglich der konkreten Regelungen, Formen und Ausführungspraxis der Mobilisierung auseinander.

Vor diesem Hintergrund waren die Änderungen im Mobilisierungsgesetz (Nr. 3633-IX), das im Mai 2024 in seiner neuen Fassung in Kraft trat, das zentrale Thema der Parlamentsdebatten in Bezug auf Mobilisierung. Das Gesetz verknüpft die Mobilisierungspraxis enger mit dem bereits bestehenden digitalen Wehrregister. Zudem schreibt es die Pflicht zur Aktualisierung persönlicher Daten über analoge und digitale Kanäle vor. Darüber hinaus werden die Sanktionsmechanismen gegen Dienstverweigerung und die Nichtbefolgung von Einberufungsbescheiden erweitert. Ebenso werden die Personenkategorien, die mobilisiert werden können, erweitert (z. B. ehemalige Verurteilte). Zudem werden die Kategorien von Personen, die Anspruch auf zeitweilige Freistellung vom Wehrdienst haben, präzisiert (z. B. Studierende im Erststudium).

Während die Partei des Präsidenten Selenskyj, »Sluha Narodu«, dem Gesetz mehrheitlich zustimmte, wurde es von den oppositionellen Parteien stark kritisiert. Der wesentliche Kritikpunkt bezog sich auf die Streichung der Regelung zur Demobilisierung nach 36 Monaten, die in den früheren Entwürfen des Gesetzes noch enthalten war. Vor allem auf Drängen der militärischen Führung wurde diese Bestimmung gestrichen. Sie verwies auf die Lage an der Front: Starre Demobilisierungsfristen könnten einen massenhaften Verlust erfahrener Soldaten ohne ausreichenden Ersatz verursachen und seien daher aus militärischer Sicht hoch riskant. Die Regierungspartei bleibt daher bei ihrer öffentlichen Position, dass Forderungen nach einem klaren zeitlichen Rahmen für die Demobilisierung zwar politisch verständlich, unter den aktuellen militärischen Bedingungen jedoch nicht umsetzbar sind.

Die stärkste Ablehnung des neuen Mobilisierungsgesetzes äußerten die oppositionellen Fraktionen »Europäische Solidarität« und »Batkiwschtschyna«. Während sich die »ES« geschlossen enthielt, taten dies die Mitglieder der »Batkiwschtschyna« mehrheitlich. Die übrigen oppositionellen Abgeordneten – insbesondere aus der Fraktion »Holos« – stimmten dem Gesetz trotz ihrer deutlichen Kritik mehrheitlich zu. Sie begründeten dies vor allem mit der dringenden Notwendigkeit, ein funktionsfähiges Mobilisierungsgesetz sicherzustellen, um die Verteidigungsfähigkeit des Landes nicht zu gefährden.

Parallel zur politischen Kontroverse um den gesetzlichen Rahmen rückte die praktische Umsetzung der Mobilisierung zunehmend ins Zentrum der Debatte. Im Jahr 2025 standen die Territorialen Rekrutierungs- und Sozialunterstützungszentren (TZK) aufgrund zahlreicher Korruptions- und Missbrauchsvorwürfe besonders im Fokus öffentlicher Kritik. In mehreren Regionen kam es zu Fällen von Gewaltanwendung und körperlichen Übergriffen durch TZK-Mitarbeitende. Zudem wurden Männer auf der Straße festgenommen, obwohl sie die gesetzlich geregelten Bedingungen für eine Freistellung vom Wehrdienst erfüllten. Vom 1. Januar bis zum 29. Oktober 2025 gingen beim ukrainischen Menschenrechtsombudsmann etwa 5.000 Beschwerden über Rechtsverletzungen und Kompetenzüberschreitungen durch TZK-Mitarbeitende im Mobilisierungsprozess ein.

Bis Juni 2025 wurden landesweit mehr als 900 strafrechtliche Ermittlungen gegen Mitarbeitende der TZK eingeleitet. Ihnen wurde Machtmissbrauch, Gewaltanwendung, illegale Freiheitsentziehung, Korruption und die Überschreitung ihrer Befugnisse vorgeworfen. Um Missständen innerhalb der Einberufungsbehörden entgegenzuwirken, wurden im Zuge dieser Ermittlungen zahlreiche TZK-Beamte ihres Amtes enthoben und durch neues Personal ersetzt. Mehrere ukrainische NGOs und Menschenrechtsgruppen – darunter ZMINA und die Kharkiv Human Rights Protection Group – weisen jedoch darauf hin, dass es sich bei diesen Rechtsverletzungen nicht um Einzelfälle handelt, sondern dass sie Ausdruck eines strukturellen Problems im Mobilisierungsapparat sind.

Diese institutionellen Probleme spiegeln sich deutlich in der öffentlichen Wahrnehmung wider. Laut der letzten Umfrage von Active Group vom 7. September 2025 sind ca. 78 Prozent der Befragten der Meinung, dass die bestehende TZK-Struktur nicht in der Lage ist, eine effektive Mobilisierung sicherzustellen.

Dabei lassen sich die Spaltungen auch in der öffentlichen Wahrnehmung der Wehrpflicht in der Ukraine im Jahr 2025 klar erkennen. Eine Umfrage von KIIS vom 2. bis 14. September 2025 zeigte, dass etwa die Hälfte der befragten erwachsenen Ukrainerinnen und Ukrainer, die derzeit keinen Militärdienst leisten, Bereitschaft äußert, sich bei Bedarf den Streitkräften anzuschließen. Unter den Männern sind es 63 Prozent, unter den Frauen 46 Prozent. Obwohl die Mehrheit der Meinung ist, dass die Landesverteidigung in der aktuellen Kriegslage eine erforderliche Maßnahme sei, ist die gesellschaftliche Einstellung zu Dienstverweigerern (»uchyljanty« auf Ukrainisch) widersprüchlich, da diese nicht mehrheitlich verurteilt werden. Eine Umfrage des Instituts für Soziale und Politische Psychologie vom 9. April 2025 zeigt, dass ca. 58 Prozent der Bevölkerung Verständnis für Dienstverweigerung haben. Gleichzeitig sank der Anteil derer, die es beschämend finden, dass Männer sich vor der Mobilisierung verstecken, von 43 Prozent im Jahr 2024 auf 39 Prozent im Jahr 2025.

Die Mehrheit (ca. 77 Prozent) gibt außerdem an, Männer zu kennen, die sich dem Wehrdienst entziehen (Active Group, 7. September 2025). In der Ukraine wurden von Januar 2022 bis September 2025 19.273 Strafverfahren (Art. 336 StGB der Ukraine) wegen Wehrdienstverweigerung registriert, von denen 7.902 beendet wurden. Deutlich höher liegt im Vergleich dazu die Zahl der registrierten Desertionsverfahren – insgesamt etwa 54.000 – für den Zeitraum Januar 2022 bis September 2025 (Art. 408 StGB der Ukraine bestraft bewusste und dauerhafte Fahnenflucht). Laut der Generalstaatsanwaltschaft wurden im selben Zeitraum gleichzeitig 235.646 Verfahren wegen »eigenmächtigen Verlassens der Einheit« (Art. 407 StGB der Ukraine bestraft das unerlaubte, kurzfristige Verlassen des Dienstes) registriert. Insgesamt ergibt sich somit eine Zahl von rund 290.000 Strafverfahren nach den beiden Artikeln.

Trotz dieser ambivalenten Einstellung spricht sich die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung für die Fortsetzung des militärischen Abwehrkampfes gegen Russland aus, um einen gerechten Frieden zu erreichen (KIIS, 2.–14. September 2025; Razumkov-Zentrum, 12.–17. September 2025). Dies deutet auf komplexe und widersprüchliche Meinungsmuster und Positionen hin, die die ukrainische Bevölkerung gegenüber kriegsbedingten Maßnahmen und Einschränkungen entwickelt. Diese werden im nächsten Abschnitt anhand qualitativer Methoden näher analysiert.

Muster der Einstellungen zu Mobilisierung und Ausreisebeschränkungen

Das Ziel dieser Untersuchung besteht darin, Einstellungen der ukrainischen Bevölkerung zu kriegsbedingten Maßnahmen qualitativ zu erfassen und auszuwerten. Dabei geht es nicht um die Frage, wie viele Personen welche Haltung vertreten, sondern darum, aus welchen Inhalten, Nuancen und Erfahrungsbezügen sich diese Positionen zusammensetzen und welche Faktoren sie beeinflussen. Grundlage der Analyse bilden 34 qualitative Tiefeninterviews mit ukrainischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern (19 Frauen und 15 Männer) im Alter von 19 bis 65 Jahren, die sich zum Zeitpunkt des Interviews (2025) entweder in der Ukraine aufhielten oder nach 2022 nach Deutschland ausgereist waren. Diese Auswahl der Befragten ermöglicht einen Vergleich zwischen den Einstellungen von Ausgereisten und Verbliebenen, um zentrale Einflussfaktoren auf die Einstellung zu kriegsbedingten politischen Entscheidungen zu identifizieren.

Wichtig anzumerken ist, dass sich aus dieser Analyse keine Rückschlüsse auf die Stimmung der ukrainischen Gesamtbevölkerung ziehen lassen, da diese qualitative Studie nicht in der Lage ist, repräsentative Ergebnisse zu liefern. Ihr Mehrwert gegenüber quantitativen Umfragen liegt vielmehr darin, komplexe, ambivalente und teils widersprüchliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sichtbar zu machen, die in standardisierten Erhebungsformaten aufgrund ihres Fokus auf Mehrheitsverteilungen kaum erfassbar sind.

In den folgenden Abschnitten wird analysiert, woraus sich loyale und kritische Haltungen zur Mobilisierung sowie Einstellungen zum Ausreiseverbot und zu ausgereisten Männern zusammensetzen und welche Faktoren diese Positionen prägen.

Loyale Haltung zur Mobilisierung

Die loyale Haltung zur Mobilisierung beruht auf der Prämisse, dass diese in der jetzigen Form zwar nicht perfekt verläuft, aber trotzdem notwendig ist, um eine personell hinreichend ausgestattete Armee zu haben, die in der Lage ist, das Land zu verteidigen. Mögliche Gewaltausübungen durch TZK-Mitarbeitende im Zuge der Mobilisierung werden von dieser Gruppe dennoch scharf verurteilt und trotz des Gefühls der bürgerlichen Pflicht nicht als gerechtfertigt angesehen.

Die loyalste Position zeichnet sich dabei durch das Fehlen von Erfahrungen mit gewaltsamer Mobilisierung im nahen Umfeld aus. Entsprechend werden die Geschichten über »Bussifizierungen« – also gewaltsame Zwangsmobilisierungen, bei denen TZK-Mitarbeitende Männer auf der Straße in »Busse« (Kleintransporter) zerren und meist unter Widerstand direkt in das TZK überführen – eher als Ausnahmen und über soziale Medien verstärkte Einzelfallnarrative wahrgenommen. Abgesehen davon, dass niemand aus ihrem nahen Bekanntenkreis von der »Bussifizierung« betroffen wurde, zeichnen sich die weiblichen und männlichen Respondenten, die am loyalsten zur Mobilisierung in der Ukraine stehen, dadurch aus, dass sie keine unmittelbaren Berührungspunkte mit dem Geschehen an der Front haben. Da die Befragten mit dieser Position zum Zeitpunkt der Interviews und davor nicht selbst an aktiven militärischen Handlungen teilgenommen haben und auch keine nahen Familienangehörigen an der Front hatten, basiert ihre Vorstellung über das Befinden von Soldaten im Krieg zumeist auf Medienberichten oder Erzählungen von Bekannten, die positive Erfahrungen mit dem Wehrdienst gemacht hatten.

Bei Frauen, die sich besonders loyal zur Mobilisierung äußerten, fällt außerdem auf, dass zum Zeitpunkt des Interviews niemand aus ihrer Familie an der Front war oder mobilisiert werden konnte. Entweder waren die betreffenden Männer nicht im wehrpflichtigen Alter oder es gab gesundheitliche bzw. wirtschaftliche Gründe, wegen denen sie nicht eingezogen werden konnten (etwa durch Freistellung von Fachkräften in bestimmten Betrieben). Die größere Distanz zum Kriegsgeschehen scheint demnach die loyale Einstellung zur Mobilisierung zu beeinflussen.

Ein weiterer prägender Faktor für die Haltung zur Mobilisierung unter weiblichen und männlichen Befragten ist eine zumeist positive Einstellung zu Wolodymyr Selenskyj und seiner Regierung. Selenskyj wird dabei nicht idealisiert, sondern es geht eher um die Überzeugung, dass er, wenn auch nicht perfekt, so doch das geringste Übel für die Ukraine in der gegebenen Situation darstelle. Am höchsten werden Selenskyj dabei sein Mut, nach der großflächigen Invasion in der Ukraine zu bleiben, sowie sein Einsatz für die Ukraine auf der außenpolitischen Bühne angerechnet. Die positive Einstellung gegenüber Selenskyj beruht außerdem auf der Sorge, dass sich die Lage in eine ungewisse Richtung entwickeln könnte, wenn jemand anderes an seine Stelle träte. Daher stößt die Idee, die Präsidentschaftswahlen vor dem Kriegsende durchzuführen, bei den Respondenten mit dieser Haltung zumeist auf Ablehnung.

Auffällig dabei ist, dass eine loyale Haltung gegenüber kriegsbedingten Maßnahmen nicht automatisch eine mobilisierende Wirkung entfaltet. Das heißt, dass diejenigen, die Verständnis dafür äußern, nicht unbedingt auch entsprechend handeln. Keine/r der Befragten, die der loyalen Gruppe zugeordnet wurden, hat zum Zeitpunkt der Interviews oder davor selbst an militärischen Handlungen teilgenommen und würde dies nach eigenen Aussagen freiwillig tun. Nur ein Befragter könnte sich das im Falle des Erhalts eines Einberufungsbescheids vorstellen, da er dann keine Wahl mehr hätte.

Unter den Respondenten, die sich am loyalsten gegenüber der Mobilisierung äußern, weisen wehrpflichtige Männer, die trotz ihrer Unterstützung der Mobilisierung nicht freiwillig den ukrainischen Streitkräften beitreten, starke innere Dissonanzen auf. Dies zeigt sich im Widerspruch zwischen ihren Handlungen und ihren moralischen Überzeugungen. Um mit dieser inneren Zerrissenheit zurechtzukommen, versuchen die betroffenen Respondenten, ihre Entscheidung für sich plausibel zu rechtfertigen und nehmen dabei eine entschuldigende Haltung ein. Dabei lassen sich mehrere Rechtfertigungsmuster erkennen:

  • Verweis auf eine schlechte gesundheitliche Verfassung;
  • Verpflichtungsgefühl gegenüber der eigenen Familie;
  • Verweis auf mangelnde militärische Ausbildung und damit unzureichende Eignung;
  • Eingeständnis der eigenen Angst.

Daher entscheiden sich diese Männer entweder für eine fatalistische Haltung: Wenn der Einberufungsbescheid kommt, könne man nicht mehr ausweichen. Oder sie kompensieren ihre bürgerliche Pflicht auf andere Weise – zum Beispiel durch Spenden oder Freiwilligenarbeit.

Kritische Haltung zur Mobilisierung

Die stärkste Kritik an der Mobilisierung wird in erster Linie von Respondenten geäußert, die starke Unzufriedenheit damit empfinden, wie sie als Bürger vom ukrainischen Staat und von seinen Verwaltungen behandelt werden. Die Kritik bezieht sich dabei nicht auf das Mobilisierungsgesetz an sich, sondern eher auf die Art und Weise seiner Umsetzung und die unbefriedigenden Zustände in der Armee.

Auf der einen Seite kritisieren Respondenten die gesundheitliche Eignungsprüfung bei der Einberufung als mangelhaft, weil gesundheitliche Probleme von der militärärztlichen Kommission nicht berücksichtigt würden und nahezu jede Person für sie als militärdiensttauglich gelte. Auch weitere Umstände, die eine Mobilisierung ausschließen, etwa Pflegeverpflichtungen gegenüber Familienangehörigen, werden von der Einberufungsbehörde häufig nicht berücksichtigt. Berichte über rechtswidrige Zwangsmobilisierungen gewinnen daher schnell an Resonanz. Ein oder mehrere solcher Fälle im direkten Umfeld reichen aus, um bei den Bürgern das Gefühl zu erzeugen, vom Staat misshandelt zu werden, und eine negative Einstellung zur Mobilisierung zu fördern.

Auf der anderen Seite wird die Mobilisierung wie ein »One-Way-Ticket« wahrgenommen, da klare Fristen des Militärdienstes und regelmäßige Rotationen fehlen. Kritiker der Mobilisierung gehen daher davon aus, dass diejenigen, die an die Front geschickt werden, nur schwer verwundet oder tot vom Schlachtfeld zurückkehren könnten. Die Vorstellung eines zeitlich unbegrenzten Militärdienstes sowie persönliche Erfahrungen mit zahlreichen Todesfällen im Bekanntenkreis führen zu einer aktiven Ablehnung des Wehrdienstes und dazu, dass man nach Wegen sucht, diesem zu entgehen.

Korruption als eine Möglichkeit, dem Wehrdienst zu entgehen, wird von Respondenten mit dieser Einstellung jedoch unterschiedlich gewertet. Ihre Kritik richtet sich dabei nicht primär gegen Menschen, die bereit sind, Schmiergeld zu zahlen, sondern gegen diejenigen, die solche korrupten Dienstleistungen ermöglichen und daran verdienen. Dies führt zu dem Gefühl, dass sich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft herausbildet, in der sich Wohlhabende die Freistellung vom Dienst kaufen können, während der Rest an die Front muss. Am stärksten wird dabei allerdings die ukrainische Regierung kritisiert, die ihre Bürger in eine Lage versetze, in der dies für viele den einzigen Weg darstelle, um ihr Leben zu retten.

Innerhalb der Gruppe mit den kritischsten Einstellungen zur Mobilisierung lassen sich zudem kaum Unterschiede zwischen den Haltungen von Männern und Frauen erkennen. Sowohl Männer als auch Frauen sind sich einig, dass die »Bussifizierung« von Männern auf der Straße nicht nur rechtswidrig, sondern auch kontraproduktiv für die Qualität der Streitkräfte sei, da unmotivierte Soldaten ihre Kampffähigkeit schwächen würden. Gewaltsame Zwangsmobilisierung durch TZK-Mitarbeitende scheint außerdem nicht nur dem Image der Streitkräfte, sondern auch dem der Ukraine als einem demokratischen Staat massiv zu schaden. »Bussifizierungen« werden von den Betroffenen daher als abwertende und erniedrigende Maßnahmen wahrgenommen. Ihre Wut richtet sich somit nicht nur gegen die russische Aggression, sondern auch gegen das eigene Staatssystem und seine Akteure.

Eine weitere Gemeinsamkeit in den Argumentationsmustern dieser beiden Geschlechtergruppen ist eine kritische bis negative Einstellung gegenüber Selenskyj und seiner Regierung. Die Hauptkritikpunkte beziehen sich auf Korruption und mangelnde Kompetenz auf verschiedenen staatlichen Ebenen, insbesondere in den ukrainischen Militärstrukturen. An der Armee als einer der zentralen Institutionen des Staates wird insbesondere kritisiert, dass Befehlshierarchien fachlichen Kompetenzen vorangestellt werden.

Auffällig ist außerdem, dass die meisten Befragten, die eine kritische Haltung zur Mobilisierung einnehmen, entweder nahe Familienangehörige an der Front haben oder selbst Kriegsdienst geleistet haben. Die stärkste Kritik an der Lage in der Armee und in der ukrainischen Staatsführung kommt von den befragten Männern, die sich nach der Vollinvasion 2022 freiwillig den ukrainischen Streitkräften angeschlossen haben. Trotz des fortschreitenden Krieges wünschen sich diese einen vollständigen Regierungswechsel und bevorzugen eine möglichst zeitnahe Durchführung von Neuwahlen.

Anders als bei den männlichen Respondenten mit einer loyalen Haltung zur Mobilisierung weisen die kritisch eingestellten Männer keine vergleichbar starke innere Zerrissenheit zwischen ihren Handlungen und ihren Vorstellungen von Pflicht auf. Um ihre Position zu begründen, greifen auch sie auf Rechtfertigungsstrategien zurück, wenden diese jedoch eher aus einer offensiven Haltung heraus an. Ihre fehlende Motivation wird daher rhetorisch mit einem hohen Grad an Unzufriedenheit mit dem Staat als System sowie durch Enttäuschung über seine Führung erklärt. Die Vorwürfe beziehen sich zumeist auf das gestiegene Ausmaß an Korruption, die Nichteinhaltung von Gesetzen sowie den abwertenden Umgang staatlicher Akteure mit Bürgern. Hinzu kommt auch das Empfinden von Ungerechtigkeit in Bezug darauf, wer und wessen »Söhne« an die Front geschickt werden oder auch nicht.

Die häufigsten Handlungsoptionen, auf die befragte Männer mit kritischen Einstellungen zur Mobilisierung zurückgreifen, bestehen in der Suche nach Ausreisemöglichkeiten oder in Versuchen, Begegnungen mit TZK-Mitarbeitenden zu vermeiden, weshalb sie sich seltener im öffentlichen Raum aufhalten. Wenn ihnen die Ausreise aus der Ukraine nicht gelingt, entscheiden sich viele für die Option, sich zu verstecken. Dabei halten sie sich überwiegend zu Hause auf und üben eine Arbeitstätigkeit – falls vorhanden – möglichst im Homeoffice aus.

Die Annahme, dass diejenigen, die die Mobilisierung am stärksten kritisieren, auch nicht freiwillig an die Front gehen, scheint allerdings nur zum Teil zuzutreffen. Unter den Befragten mit solchen Einstellungen befinden sich nämlich auch Menschen mit Militärerfahrung sowie Personen, die aktuell im Militär dienen. Die Motivation derjenigen, die sich trotz Kritik an kriegsbedingten Maßnahmen den Streitkräften angeschlossen haben, kann daher weniger durch Loyalität gegenüber dem Staat und der Staatsführung erklärt werden. Vielmehr sind es eigene Überzeugungen und Bedürfnisse, die sie antreiben. Einerseits scheint dies ein Weg zu sein, ihren Widerstand gegenüber den russischen Besatzern aktiv zu äußern. Andererseits wird dies nicht als Verpflichtung und Loyalität gegenüber dem Regime, sondern eher als Maßnahme zur Verteidigung der eigenen Familie und des Heimatlandes angesehen.

Dabei können auch pragmatische Überlegungen eine Rolle spielen. Wenn sich Männer freiwillig den ukrainischen Streitkräften anschließen, haben sie die Möglichkeit, eigene Präferenzen bezüglich ihrer Einsatzfunktion und Militäreinheit anzugeben. Bei Männern mit Vorerfahrungen in anderen Kriegseinsätzen scheint ein weiterer Faktor relevant zu sein – die Gewöhnung an den militärischen Alltag. Diese kann sich bei einigen durch Schwierigkeiten bei der Anpassung ans Zivilleben äußern, beispielsweise in Form von posttraumatischer Belastungsstörung oder Adrenalinsucht.

Einstellungen zum Ausreiseverbot und zu ausgereisten Männern

Das Ausreiseverbot für Männer stellt ein weiteres sensibles Thema für die ukrainische Gesellschaft dar. Nach dem Beginn der russischen Vollinvasion 2022 betraf das Ausreiseverbot zunächst militärdienstpflichtige Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren. Im August 2025 beschloss die ukrainische Regierung, die Ausreiseeinschränkungen für wehrpflichtige Männer von 18 bis 22 Jahren zu lockern, sodass aktuell das Ausreiseverbot nur für Männer im Alter von 23 bis 60 Jahren gilt.

Alle Interviews, die in der Analyse berücksichtigt wurden, fanden vor der Lockerung der Ausreiseregelungen statt. Die Analyse zeigt, dass die Unterstützung der Mobilisierung meistens mit einer verständnisvollen Haltung gegenüber dem Ausreiseverbot für Männer zusammenhängt. Die Befragten, die Mobilitätseinschränkungen bei Männern nachvollziehen können, betrachten diese als unangenehme, aber notwendige Maßnahme. Ihre Haltung basiert auf der Annahme, dass Ausreisebeschränkungen einer der wenigen Hebel sind, um Männer im Land zu halten. Zur Unterstützung dieser Maßnahme wird am häufigsten argumentiert, dass ohne Ausreisebegrenzungen ein Großteil der Männer ausreisen würde und die Ukraine ohne ausreichend Soldaten rasch von Russland eingenommen worden wäre.

Befragte, die der Mobilisierung kritisch gegenüberstehen, neigen jedoch auch dazu, die Reiseeinschränkungen zu verurteilen. Aus ihrer Argumentation wird deutlich, dass sie diese Maßnahme als Zeichen des Misstrauens der Regierung gegenüber den Bürgern wahrnehmen. Außerdem werden Reiseeinschränkungen unter anderem als ein weiterer Bereich angesehen, in dem Korruption vom Staat toleriert wird. Dies verstärkt das Gefühl, dass kriegsbedingte Einschränkungen vor allem diejenigen betreffen, die es sich finanziell nicht leisten können, sich davon freizukaufen bzw. sie zu umgehen.

In Bezug auf die Mobilisierung lassen sich keine klaren Unterschiede in den Einstellungen zwischen den Ausgereisten und den Verbliebenen feststellen. Die Unterstützer und Gegner der Mobilisierung auf beiden Seiten greifen zumeist auf ähnliche Erklärungsmuster zurück, um ihre Position zu begründen. Unterschiede zeigen sich jedoch in der Einstellung der beiden Geschlechtergruppen zu Männern, die ins Ausland ausgereist sind. Eine negative Einstellung gegenüber Männern im wehrdienstpflichtigen Alter, die sich im Ausland aufhalten, wurde dabei ausschließlich bei Befragten mit einer loyalen Haltung zur Mobilisierung festgestellt.

Insgesamt verurteilten die befragten Frauen die Ausgereisten deutlich häufiger als die männlichen Befragten. Dabei ließen sich zwei feste Argumentationsmuster beobachten: Bei dem einen handelt es sich um die moralische Überzeugung, dass die Verteidigung des Vaterlandes die Aufgabe der Männer sei. Bei dem anderen steht das Gefühl der Ungerechtigkeit im Vordergrund. Auffällig ist, dass die moralische Erwartung an die Männer, die vom Vaterland vorgeschriebene Pflicht zu erfüllen, zumeist von den befragten Frauen geäußert wird, die keine Familienmitglieder haben, die von der Mobilisierung betroffen sein könnten. Frauen, die Familienmitglieder haben, die mobilisiert werden können oder bereits an der Front sind, verweisen dagegen eher auf die Ungleichbehandlung und die unfaire Verteilung staatsbürgerlicher Pflichten in der Gesellschaft.

Frauen, die der Mobilisierung kritisch gegenüberstehen, empfinden dagegen zumeist keine Abneigung gegenüber den ausgereisten Männern, unabhängig davon, ob sie in der Ukraine oder im Ausland wohnen. Sie betrachten dies als einen natürlichen Überlebensinstinkt und als Versuch, einer möglichen Lebensgefahr zu entkommen.

Unter den männlichen Respondenten auf beiden Seiten der Grenze ließ sich sowohl unter den Loyalen als auch unter den Kritikern der Mobilisierung in fast allen Fällen keine negative Einstellung gegenüber den ausgereisten Männern feststellen. Trotzdem scheinen ukrainische Männer, die nach 2022 ins Ausland ausgereist sind, mit einer inneren Zerrissenheit zu kämpfen. Dies äußert sich durch eine Dissonanz zwischen dem Wunsch, für sich selbst und die eigene Sicherheit zu sorgen, und dem sozialen Erwartungsdruck, der selbstschützendes Verhalten als unwürdig oder eigennützig einstuft. Die Unterstützer der Mobilisierung empfinden diesen inneren Konflikt noch stärker, da ihre Handlungen ihren eigenen Überzeugungen widersprechen. Um diese Dissonanzen zu bewältigen, greifen sie auf die zuvor beschriebenen Rechtfertigungsstrategien zurück.

Männer im wehrdienstpflichtigen Alter aus der Ukraine, die sich in Deutschland aufhalten, werden jedoch selten mit offenen Konfrontationen und direkten Anschuldigungen konfrontiert. Dies liegt vor allem daran, dass in Gesprächen normalerweise direkte Nachfragen vermieden werden, wie man bei aktuellen Reisebeschränkungen aus der Ukraine ausreisen konnte.

Eine verurteilende Einstellung gegenüber ausgereisten Männern ließ sich nur bei männlichen Respondenten erkennen, die nach der Vollinvasion in der Ukraine geblieben sind und die Mobilisierungsmaßnahmen insgesamt unterstützen. Ihre verurteilende Haltung basiert auf einer Mischung aus moralischen Überzeugungen und dem Gefühl der Ungerechtigkeit. Die Ausreise wird als unwürdig und egoistisch betrachtet, vergleichbar mit einer Flucht vom sinkenden Schiff. Doch auch bei festen moralischen Überzeugungen, dass die Verteidigung des Vaterlandes eine selbstverständliche Bürgerpflicht sei und daher von allen ukrainischen Männern gemeinsam getragen werden müsse, entsteht eine innere Dissonanz, wenn man nicht entsprechend den eigenen Erwartungen handelt.

Resümee

Die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass die Mobilisierungsmaßnahmen und Ausreisebeschränkungen für Männer in der Ukraine nicht nur rechtlich und organisatorisch äußerst komplex sind, sondern auch tief in die gesellschaftlichen Selbstbilder, Rollenverständnisse und Gerechtigkeitsvorstellungen eingreifen. Die rekonstruierten Haltungsmuster reichen von loyaler Akzeptanz der Mobilisierung als notwendiger, wenn auch unvollkommener Maßnahme zur Landesverteidigung bis hin zu scharfer Kritik. Kritische Einstellungen entstehen aus einem Zusammenspiel von persönlicher Betroffenheit, institutionellem Misstrauen und erlebter Ungerechtigkeit. Besonders deutlich wird, dass persönliche Nähe zum Krieg – etwa durch eigene Fronterfahrung oder durch im Einsatz befindliche Familienangehörige – häufiger mit kritischeren Einstellungen einhergeht und die Wahrnehmung des Staates als fürsorglich oder missbräuchlich prägt.

Zugleich zeigen die Interviews ausgeprägte innere Dissonanzen. Betroffen sind insbesondere Männer, die die Mobilisierung zwar grundsätzlich unterstützen, aber nicht freiwillig an die Front gehen wollen, sowie im Ausland lebende Männer, die zwischen Selbstschutz und gesellschaftlichen Erwartungsnormen hin- und hergerissen sind.

Die Untersuchung der Einstellungen zu ausgereisten Männern zeigt außerdem deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede: Frauen mit loyaler Haltung und ohne mobilisierbare Angehörige argumentieren vor allem moralisch und gehen von einer Pflicht der Männer zur Verteidigung des Vaterlandes aus. Frauen mit mobilisierten oder frontnahen Familienmitgliedern betonen dagegen eher Fragen von Ungleichheit und ungleicher Lastenverteilung. Kritisch eingestellte Frauen und Männer interpretieren Ausreiseentscheidungen hingegen eher als Ausdruck legitimer Überlebensstrategien.

Aus der Analyse geht zudem hervor, dass sich die meisten Kritikpunkte an der Mobilisierung – zumindest jene, die offen angesprochen werden – nicht auf das Mobilisierungsgesetz selbst, sondern auf dessen Umsetzung beziehen. Unabhängig von ihrer generellen Haltung zur Mobilisierung kritisieren die Befragten vor allem gewaltsame Zwangsmobilisierungen, die der Staat zur Verstärkung der Armee in Kauf nimmt, ohne die Missstände bei den TZK zu ahnden. Solche »Bussifizierungen« schaden demnach sowohl dem innen- als auch dem außenpolitischen Image der Ukraine und demotivieren die Betroffenen, zur Landesverteidigung beizutragen.

Insgesamt zeigt die Analyse, dass sich hinter scheinbar eindeutigen Kategorien wie »loyal« versus »kritisch« hoch ambivalente, kontextabhängige und oft widersprüchliche Deutungsmuster verbergen. Deutlich wird außerdem, dass loyale Haltungen nicht automatisch zu einer realen Bereitschaft zum Kriegsdienst führen. Die Diskrepanz zwischen Vorstellung und tatsächlichem Handeln führt häufig zu innerer Zerrissenheit und Schuldgefühlen. Solche Dissonanzen münden in moralische Aushandlungsprozesse, in denen je nach Ausgangslage unterschiedliche Rechtfertigungsstrategien zum Tragen kommen. Dies zeigt, dass Mobilisierung und Ausreisebeschränkungen weit über sicherheitspolitische Aspekte hinausgehen und Grundfragen von Verantwortung, Gerechtigkeit, persönlicher Autonomie und Rollenverständnissen berühren. Sie bedürfen daher weiterer Untersuchung.

Lesetipps / Bibliographie

  • Rose, Sofie (2024): Nation of heroes: state stigmatisation of Ukrainian men who flee the war, Critical Studies on Security, DOI: 10.1080/21624887.2024.2398848
  • Reshetnikov, Anatoly (2025): Regaining cohesion: a study of discursive preconditions for mobilization in the Russia‑Ukraine war, Journal of International Relations and Development, https://doi.org/10.1057/s41268-025-00350-z

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Analyse

Spannungsverhältnis zwischen Rechten und Pflichten: Mobilmachung in der Ukraine

Von Yuliia Tsurkalenko
Dieser Artikel analysiert die Rekrutierung wehrfähiger Männer in der Ukraine im Zuge der Mobilmachung seit der Ausrufung des Kriegsrechts im Februar 2022 und konzentriert sich dabei auf die Rechtmäßigkeit der Mobilisierungsmaßnahmen. Dabei werden die Grenzen zwischen möglichen Menschenrechtsverletzungen und der Nichterfüllung der staatsbürgerlichen Pflicht zur Landesverteidigung erörtert. Dieses Spannungsverhältnis ist für die gesamte europäische Rechtsgemeinschaft relevant, insbesondere im Hinblick auf die Europäische Menschenrechtskonvention. Als Staat im europäischen Rechtsraum steht die Ukraine vor der Aufgabe, verfassungs- und völkerrechtliche Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte mit den Erfordernissen der Landesverteidigung zu vereinbaren.
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