Unvollendete Transformation. Der Wandlungsprozess in der Ukraine seit 1991 aus Perspektive des Ost-Ausschusses

Von Rainer Lindner (Berlin)

Mit dem Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 manifestierte sich vor zwanzig Jahren das Ende der politischen Zweiteilung Europas. Damals entstanden fünfzehn neue, unabhängige Staaten, die ihren Platz in der Region und in einer sich globalisierenden Welt finden mussten. Mit der Transformation vor zwanzig Jahren begannen Lernprozesse, die heute noch längst nicht abgeschlossen sind. Die neuen unabhängigen Staaten mussten – ausgehend von einer tiefen Krise – neue, lebensfähige Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle entwickeln, sie hatten für sich erstmals außenpolitische Ziele zu definieren. Die westlichen Demokratien ihrerseits mussten und müssen alte Denkschemata überwinden und neue Kooperationsformen entwickeln. Zu den wichtigsten Erkenntnissen zählt dabei, dass Osteuropa nicht mehr nur als monolithischer Block zu sehen ist, sondern dass alle entstehenden bzw. nunmehr politisch unabhängigen Länder individuell geprägt sind und abweichende Voraussetzungen für den Transformationsprozess mitbringen.

Fünf Transformationslinien in der Ukraine

Bezüglich der Ukraine lassen sich heute fünf große Transformationslinien erkennen, die unterschiedlich weit fortgeschritten sind:

Aus einer historischen Peripherielage heraus einen nach innen und außen selbstbewussten Nationalstaat aufzubauen, bleibt auch angesichts der historischen Prägungen von West- und Ost-Ukrainern eine zentrale Aufgabe. Seit 1991 gilt es darüber hinaus, einen sowjetisch-autokratisch geprägten Staat in ein demokratisches System zu verwandeln, das sich auf eine bürgerliche Teilhabe an Entscheidungsprozessen und eine unabhängige Justiz stützt. Parallel dazu musste eine staatlich kontrollierte Kommandowirtschaft in eine moderne, diversifizierte Ökonomie umgewandelt werden, die dem privaten Unternehmertum Entfaltungsmöglichkeiten garantiert.Die Ukraine stand und steht vor der Aufgabe, sich von einem »kleinen Bruder« Russlands in einen Partner Russlands zu verwandeln, der sich auf Augenhöhe bewegt und eine selbstbewusste Außen- und Sicherheitspolitik verfolgt. Damit einher geht die – auch von der aktuellen Regierung Janukowytsch angestrebte – Weiterentwicklung von einem Nachbarn der Europäischen Union zu einem EU-Mitgliedsland.

Keine der fünf genannten Transformationslinien konnte in den vergangenen zwanzig Jahren ohne Brüche und Rückschläge verfolgt werden. Keine Transformationslinie ist bislang zu einem erfolgreichen Ende gelangt – im Gegensatz etwa zu den Nachbarstaaten Polen und Slowakei, die inzwischen vollwertige Mitglieder der EU und der Nato sind und eine stabile Marktwirtschaft etablieren konnten. Allerdings bestanden bei diesen Ländern im Vergleich zur Ukraine und anderen post-sowjetischen Staaten historisch betrachtet auch gänzlich andere Grundvoraussetzungen.

Insgesamt gesehen sollte man anerkennen, dass die Ukraine seit 1991 ein wichtiges Stück eines schwierigen Weges zurückgelegt hat, der eines Tages in die Europäische Union führen kann. Dass zumindest die wirtschaftliche Integration mit der EU letztlich zum Erfolg geführt wird, liegt nicht zuletzt auch im Interesse der deutschen Wirtschaft.

Rolle der deutschen Wirtschaft

Die Bundesrepublik gehörte zu den ersten Ländern, die die neuen unabhängigen Nachfolgestaaten der UdSSR diplomatisch anerkannten. Die deutsche Wirtschaft knüpfte schnell Kontakte und konnte dabei sowohl auf Verbindungen zurückgreifen, die der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft bereits seit 1952 aufgebaut hatte, als auch auf Verbindungen, die ostdeutsche Betriebe traditionell mit ukrainischen Partnern unterhielten. Gleichwohl bedurfte es eines Neuanfangs, da direkte Beziehungen zwischen Unternehmen bisher im Wesentlichen über Moskau liefen.

Deutsche Unternehmen gründeten jetzt Niederlassungen und Repräsentanzen zunächst in Kiew, später auch in anderen Städten der Ukraine. Der Austausch von Waren und Dienstleistungen wuchs sprunghaft an. 1994 übertraf er die Grenze von 2 Mrd. Deutschen Mark. 1998 wurden bereits Waren und Dienstleistungen im Wert von 4 Mrd. DM ausgetauscht. Heute liegt das Handelsvolumen bei über 6 Mrd. Euro, was umgerechnet 12 Mrd. DM entspricht – also dem Sechsfachen des Standes von 1994. Damit ist Deutschland zweitgrößter Außenhandelspartner der Ukraine nach Russland.

Umgekehrt ist die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit der zweitwichtigste Handelspartner Deutschlands unter den GUS-Staaten. Das Potential der Zusammenarbeit ist aber bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Dies zeigt das Beispiel des EU-Nachbarn Tschechien, der mit einer im Vergleich zur Ukraine viermal kleineren Bevölkerung ein zehnmal höheres Handelsvolumen mit der Bundesrepublik erreicht. Viele »Schätze« der deutsch-ukrainischen Wirtschaftskooperation warten also noch darauf, gehoben zu werden. Dies gilt über den Handel hinaus auch für die Modernisierung der ukrainischen Wirtschaft.

Angefangen von der Montanindustrie über die gesamte verarbeitende Industrie bis hin zu Informationstechnologien und anderen wissenschaftsintensiven Bereichen stehen deutsche Unternehmen bereit, bei der Modernisierung der ukrainischen Wirtschaft zu helfen, die Produktivität im Land zu steigern und gleichzeitig den Verbrauch teurer Energie zu senken. Wichtige Felder der Zusammenarbeit sind auch das Bauwesen, die allgemeine Infrastruktur und die Agrarwirtschaft. Deutsche Landtechnik kann einen Beitrag dazu leisten, die Ernteerträge in der Ukraine zu verdoppeln. Auf den fruchtbaren ukrainischen Böden liegt die Hoffnung der ganzen Weltbevölkerung, die bis zum Jahr 2050 auf 9 Mrd. Menschen anwachsen wird.

Mit über 1200 Joint Ventures, Tochterunternehmen, Repräsentanzen und anderen Beteiligungsformen ist die deutsche Wirtschaft bereits heute stark in der Ukraine engagiert. Mit der deutsch-ukrainischen High-Level-Group, durch Wirtschaftsforen und Kooperationsbörsen, Delegationsreisen und andere Aktivitäten hat sich ein intensives Netz von Gesprächen, Kontakten und Austausch zur Weiterentwicklung der Wirtschaftsbeziehungen entwickelt. Direkter Ansprechpartner vor Ort ist die Delegation der deutschen Wirtschaft in der Ukraine.

Auch der Ost-Ausschuss gehört zum Kreis der Institutionen, die an der weiteren Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern intensiv arbeiten. Dazu werden Delegationsreisen, Konferenzen, Beratungsprojekte für mittelständische Betriebe in den ukrainischen Regionen und vielfältige Begegnungen deutscher Unternehmen mit Regierungsvertretern organisiert. Ost-Ausschuss-Delegationen trafen sowohl Präsident Leonid Kutschma (2000, 2001, 2004) als auch seine Nachfolger Wiktor Juschtschenko (2005) und Wiktor Janukowytsch (2010). Zuletzt führte der Ost-Ausschuss im Juni 2011 in Kiew Gespräche mit der ukrainischen Regierung. Dabei wurde beispielsweise vereinbart, gemeinsam das Pilotprojekt einer »Energieeffizienten Stadt« für die Ukraine zu entwickeln.

Im Mittelpunkt der Arbeit des Ost-Ausschusses stehen heute drei Ziele: die bessere Nutzung des Potentials der bilateralen Wirtschaftsbeziehungen sowohl in den Ballungszentren als auch in den Regionen, die Unterstützung der Modernisierung der ukrainischen Wirtschaft und gleichzeitig ihre Annäherung an und ihre Integration in den europäischen Wirtschaftsraum.

Arbeitsschwerpunkt des Ost-Ausschusses im Jahr 2011 ist das Thema Visa-Liberalisierung. Bereits 2005 hatte die Ukraine in einem einseitigen Schritt im Reiseverkehr Visa für EU-Bürger abgeschafft, ohne dass die EU bis heute diesem Beispiel gefolgt wäre. In einer Ost-Ausschuss-Umfrage sprachen sich im Sommer 2011 von 200 deutschen Unternehmen 41 % dafür aus, Ukrainern möglichst schnell die visafreie Einreise in die EU zu ermöglichen. Weitere 19 % plädieren für die testweise Einführung der Visa-Freiheit anlässlich der Fußball-Europameisterschaft 2012.

Europäische Perspektive der Ukraine

Bereits in der Regierungszeit des zweiten ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma (1994–2005) wurde die EU-Integration zum strategischen Ziel der Ukraine erklärt. Dieses Ziel wurde in den vergangenen Jahren mit unterschiedlicher Intensität verfolgt. Dabei hatte die Ukraine nicht nur unter unbestreitbaren innenpolitischen Fehlentwicklungen, sondern auch unter einem zunehmend schwieriger werdenden Integrationsprozesses innerhalb der EU zu leiden.

Seit 2008 ist die Ukraine zusammen mit fünf weiteren Staaten Mitglied der Östlichen Partnerschaft der EU. Dabei handelt es sich im Grunde um eine Auffanglösung für Staaten, denen die EU aus verschiedenen Gründen keine sichere EU-Perspektive eröffnen kann oder will. So skeptisch diese Konstruktion in der Ukraine (und nicht nur dort) gesehen wird – es sind dennoch konkrete Chancen mit ihr verbunden, die genutzt werden müssen, um das Ziel der EU-Mitgliedschaft nicht aus den Augen zu verlieren.

Ein wichtiger Baustein ist dabei die Freihandelszone zwischen der Ukraine und der EU. Die Verhandlungen dazu sind auf einem sehr guten Weg, wurden aber zuletzt durch den Prozess gegen die frühere Ministerpräsidentin Julija Tymoschenko und die juristische Verfolgung vieler ihrer Parteikollegen überschattet. Es gibt ernstzunehmende Stimmen innerhalb der EU, darunter den schwedischen Außenminister Carl Bildt und den Staatsminister im Auswärtigen Amt Werner Hoyer, die ein klares Junktim zwischen der Umsetzung des Assoziierungs- und Freihandelsabkommens und der Freilassung von Julija Tymoschenko herstellen. Gleichzeitig erhöht Russland den Druck auf die Ukraine, der neu gegründeten Zollunion von Russland, Belarus und Kasachstan beizutreten und zumindest auf absehbare Zeit auf eine Freihandelszone mit der EU zu verzichten.

Ausblick

Zwanzig Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung steht die Ukraine damit an einem neuen Wendepunkt ihrer jungen Geschichte. Geht man den Weg der oben beschriebenen fünf Transformationslinien weiter, oder gibt man diese Ziele zugunsten eines von Russland angeführten Integrationsprozesses innerhalb einer neuen Eurasischen Union auf?

Die EU könnte ihren Beitrag dazu leisten, dass sich die Ukraine letztlich für eine europäische Perspektive entscheidet. Neben berechtigter Kritik in der Sache, gehören dazu aber auch Angebote, die den mühevollen Transformationsprozess in der Ukraine honorieren. Dazu zählen die rasche Einführung des visafreien Reiseverkehrs und der Abschluss des Freihandelsabkommens.

Die Ukraine darf aber ihrerseits die in der Orangen Revolution erreichten Fortschritte nicht kurzfristigen politischen Zielen opfern. Letztlich wird eine nachhaltige wirtschaftliche Modernisierung nicht ohne gleichzeitige politische Liberalisierung zu haben sein.

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