Lösungsansätze für das Welternährungsproblem
Die internationalen Nahrungsmittelpreise erreichten im Februar 2011 zum zweiten Mal nach Juni 2008 Rekordniveau (vgl. Grafik 1). Trotz eines leichten Rückgangs in den letzten Monaten sind die Preise heute immer noch fast doppelt so hoch wie der Durchschnitt der Jahre 1990 bis 2005. Die Agrarpreiskrisen 2007/08 und 2010/11 haben die ohnehin prekäre Welternährungssituation weiter verschärft. Aufgrund der hohen Preise für viele Grundnahrungsmittel ist die Zahl der weltweit hungernden und von Hunger akut bedrohten Menschen in den letzten Jahren rapide angestiegen. In vielen Ländern, z. B. in Nordafrika, haben steigende Lebensmittelpreise soziale Unruhen gestiftet oder zumindest verstärkt.
Eine signifikante Entspannung der Lage ist derzeit nicht in Sicht. Nach Schätzungen der Welternährungsorganisation FAO muss die globale Agrarproduktion bis zum Jahr 2050 um 70 % gesteigert werden, damit eine Weltbevölkerung von schätzungsweise 9,3 Milliarden Menschen ernährt werden kann. Natürlich hängt eine nachhaltige Lösung des Welternährungsproblems nicht ausschließlich von Produktionssteigerungen ab. Erschreckend viele Lebensmittel werden verschwendet; viele Industrieländer subventionieren die Erzeugung von sog. Bioenergien aus Agrarerzeugnissen; und nicht zuletzt ist der Hunger eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit sowohl global als auch innerhalb der einzelnen Länder der Welt.
Dennoch werden weitere Produktionssteigerungen im Agrarsektor in den nächsten Jahrzehnten notwendig sein. Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Lösung oder zumindest die Verbesserung der Welternährungslage ist ein zuverlässiges Welthandelssystem, denn viele Länder – z. B. in Nordafrika und dem Nahen Osten – können ihre wachsenden Bevölkerungen ohne Importe nicht ausreichend mit Lebensmitteln versorgen, während andere – darunter auch die Ukraine – in der Lage sind, Jahr für Jahr Exportüberschüsse zu erzeugen. Der internationale Handel bietet die einzige Möglichkeit, kurzfristige Produktionsschwankungen und strukturelle Unterschiede zwischen Angebot und Nachfrage weltweit auszugleichen.
In diesem Zusammenhang kommt den Getreidenationen Russland, Kasachstan und der Ukraine eine besondere Verantwortung zu. Diese Länder konnten ihre Getreide- und Ölsaatenexporte seit der Jahrtausendwende stark ausweiten und somit in den letzten Jahren etwa 20 % aller Getreideexporte weltweit auf sich vereinigen. Davon fiel knapp die Hälfte – also ca. 10 % – auf die Ukraine (vgl. Grafik 2). Das Produktionspotential dieser Länder ist aber bei Weitem nicht ausgeschöpft. So lagen die ukrainischen Getreideerträge in den letzten zehn Jahren trotz der sehr günstigen Bedingungen für den Ackerbau deutlich unter dem Weltdurchschnitt (vgl. Grafik 3). Experten halten eine weitere Steigerung der Getreideproduktion in der Ukraine um über 25 Mio. Tonnen in den nächsten zehn Jahren für realisierbar. Diese Produktionssteigerungen ließen sich ohne die gravierenden negativen Umwelteffekte realisieren (Stichwort Rodung von Regenwald), die mit einer Ausdehnung der Agrarproduktion in vielen anderen Regionen der Erde einhergehen. Da die ukrainische Bevölkerung rückgängig ist, könnten diese Produktionszuwächse größtenteils für den Export zur Verfügung stehen. Es stimmt zwar, dass dieses Getreide auch in die wachsende inländische Veredelungsproduktion fließen könnte, statt exportiert zu werden, aber zum einen sind noch erhebliche Effizienzsteigerungen in der ukrainischen Veredelung zu realisieren, die einer Ausweitung der inländischen Futternachfrage entgegenwirken werden, zum anderen würden steigende Exporte von ukrainischen Veredelungserzeugnissen – sollten diese tatsächlich realisiert werden können – die Nachfrage nach Futtermitteln anderswo in der Welt entsprechend reduzieren.
Auswirkung von Exportquoten
In Anbetracht der Bedeutung für die Welternährung beunruhigten 2007/08 die Äußerungen führender Agrarpolitiker Russlands und der Ukraine über die Bildung einer sog. Getreide-OPEC. Besorgniserregend ist auch die Tatsache, dass die Ukraine im Jahr 2010 zum dritten Mal in fünf Jahren Exportquoten für Getreide eingeführt hat, obwohl das Land gleichzeitig die fünftgrößte Getreideernte seit ihrer Unabhängigkeit erzielen konnte. Exportquoten drücken den Inlandspreis für Getreide und erhöhen so die Marge zwischen dem Weltmarktpreis und dem Inlandspreis (vgl. Grafik 4). Sie wurden mit der Notwendigkeit gerechtfertigt, inländische Konsumenten in der Ukraine vor zu hohen Lebensmittelpreisen zu schützen. Allerdings haben mehrere Studien gezeigt, dass es sowohl wirksamer als auch effizienter ist, die Bevölkerungsgruppen, die durch Lebensmittelpreissteigerungen ernsthaft belastet werden, mit Hilfe von gezielten sozialpolitischen Transfers zu unterstützen, statt der gesamten Bevölkerung – Arm, aber auch Reich – mit günstigeren Lebensmitteln zu versorgen. Ferner haben Exportquoten für Getreide eine begrenztere Wirkung als häufig angenommen. In der Ukraine wurde z. B. argumentiert, dass die Exportquoten auch die Preissteigerungen für Veredelungsprodukte wie Schweinefleisch dämpfen würden, da sie eine Versorgung der Schweinemastbetriebe mit günstigeren Futtermitteln sichern. Dabei wird aber verkannt, dass die Ukraine Nettoimporteur von Schweinefleisch ist und die Inlandspreise für Schweinefleisch somit durch den Weltmarktpreis bestimmt werden. Durch Exportquoten gedrückte Futtermittelkosten erhöhen daher lediglich die Margen der Schweinemäster in der Ukraine, und es ist kaum zu erwarten, dass diese den daraus resultierenden Vorteil freiwillig an den Konsumenten weiterreichen werden.
Eine Auswirkung der Exportquoten ist sicher: Das Exportgeschäft mit Getreide wird lukrativer. Allerdings nur für solche Unternehmen, die eine Exportquote zugeteilt bekommen. Somit entsteht ein fruchtbarer Boden für Korruption, denn die Verteilung der Exportquoten bestimmt darüber, wer von der erhöhten Exportmarge zwischen Weltmarkt- und Inlandspreis profitiert und wer nicht. Die Verteilung der jüngsten Exportquoten für Getreide in der Ukraine im Jahr 2010 verlief sehr intransparent. Insbesondere wurde dem erst im August 2010 gegründeten Unternehmen Khlibinvestbud, das sich zu 49 % in Staatshand und zu 51 % in Besitz von Offshore-Unternehmen befindet, und dem eine Nähe zu führenden ukrainischen Agrarpolitikern nachgesagt wird, der größte Teil der Quote zugesprochen. Hauptleidtragende waren die ukrainischen Getreideproduzenten, deren Erlöse 2010 aufgrund der Exportquote um 1,9 Mrd. US-Dollar geringer ausfielen, weshalb Geld für Vorleistungsgüter wie Saatgut und Düngemittel, aber auch für Investitionen in Landmaschinen, Lagerkapazitäten usw. fehlte. Zum Vergleich: Die gesamte staatliche Agrarförderung in der Ukraine betrug 2009 ca. 910 Mio. US-Dollar.
Zusätzlich zu den Exportquoten wurden Preiskontrollen in Form von regulierten Preisaufschlägen für Getreideprodukte wie Brot in der Ukraine eingeführt. Zudem haben einige regionale Administrationen den Handel mit Getreide über Regionen-Grenzen hinweg beschränkt oder blockiert. Diese Maßnahmen wurden häufig geändert und haben die Politikunsicherheit für Landwirte und Händler weiter erhöht.
Hemmnisse bei der Produktionssteigerung
Die ukrainischen Getreideexportquoten wurden im Mai 2011 nicht zuletzt aufgrund internationalen Drucks durch Exportsteuern, die transparenter und weniger korruptionsanfällig sind, ersetzt. Diese wiederum wurden im Oktober 2011 für Weizen und Mais abgeschafft, bestehen aber weiterhin für Gerste. Aber auch ohne ad hoc-Eingriffe wie Exportquoten und Preiskontrollen ist die ukrainische Getreidemarktpolitik nicht dazu geeignet, das Produktionspotential des Landes zu aktivieren. Als Beispiel kann das Zertifizierungssystem für ukrainische Getreideexporte genannt werden. Händler, die Getreide von einem Elevator im Inland zu einem Exporthafen verfrachten wollen, müssen zuerst drei unterschiedliche Zertifikate von drei unterschiedlichen ukrainischen Behörden beschaffen. Jede Behörde führt ihre eigenen zeitaufwendigen Probeentnahme- und Laborverfahren durch, wenngleich verschiedene Behörden dann teilweise die gleichen Tests durchführen. Um Verzögerungen zu vermeiden, müssen Händler die zuständigen Inspektoren häufig »stimulieren«. Am Ende dieses Prozesses kann eine weitere Behörde, der ukrainische Zoll, die Ergebnisse der Zertifizierung hinterfragen und auf die Durchführung von zusätzlichen Tests bestehen. Hinzu kommt, dass die zugrunde gelegten Qualitätsstandards, größtenteils ukrainische oder gar alte sowjetische sind, die im internationalen Handel überwiegend irrelevant sind. Letzten Endes müssen die Händler, wie im internationalen Getreidehandel üblich, spezialisierte private Unternehmen damit beauftragen, eine weitere, international anerkannte Zertifizierung durchzuführen. Die Kosten der somit weitgehend überflüssigen ukrainischen Zertifizierung werden von den Getreidehändlern auf die Getreideproduzenten abgewälzt, was ihre Liquidität und Investitionsmöglichkeiten weiter einschränkt.
Ein weiteres Beispiel ist die Regelung, die vorsieht, dass Getreide und Ölsaaten in der Ukraine getrennt nach Klassen gelagert werden müssen. Das heißt, jede Weizenklasse (im ukrainischen Klassifizierungssystem gibt es davon sechs) muss getrennt von den anderen gelagert werden; das gleiche gilt für Raps (drei Klassen) usw. Die Vermischung von Getreide verschiedener Klassen, um Partien herzustellen, die den im internationalen Handel üblichen und nachgefragten Kriterien entsprechen, darf erst am Exporthafen stattfinden. Die zusätzlichen Transport- und Lagerkosten, die durch diese Regelung entstehen, werden ebenfalls auf die Getreide bzw. Ölsaatenproduzenten abgewälzt, mit den bereits genannten Folgen.
Fazit
Insgesamt ist festzustellen, dass die ukrainische Agrarpolitik der internationalen Verantwortung des Landes nicht gerecht wird. Durch Exportrestriktionen wurden den Landwirten in den letzten Jahren wiederholt die hohen Preise am Weltmarkt vorenthalten und damit Anreize und Möglichkeiten genommen, die Produktion zu erhöhen. Gleichzeitig wurden Handelsunternehmen, die umfangreiche Investitionen in die Getreidevermarktungsinfrastruktur des Landes getätigt haben, und die für den weiteren Ausbau dieser Infrastruktur gebraucht werden, durch die willkürliche Vergabe der Exportquoten vom Markt verdrängt. Unabhängig von den Exportquoten schränken andere Maßnahmen, wie z. B. die oben beschriebenen Zertifizierungsprozesse und Vorschriften für die Lagerhaltung, die Anreize für Produzenten weiter ein. Die Ukraine kann das Problem der Welternährung selbstverständlich nicht allein lösen, aber sie könnte einen wesentlich größeren Beitrag dazu leisten, und davon selbst erheblich profitieren. Es ist zu hoffen, dass die zuständigen Entscheidungsträger des Landes diese Win-Win-Situation bald erkennen und die agrarpolitischen Weichen entsprechend umstellen. Wichtig in diesem Zusammenhang wäre auch eine Wiederbelebung der effektiv zum Stillstand gekommenen WTO-Verhandlungen im Rahmen der sog. Doha-Runde, um wirksame Disziplinen für die derzeit fast vollständig ungeregelte Anwendung von Exportrestriktionen durch Mitgliedsstaaten wie die Ukraine zu entwickeln.