Mangel an Partizipation und Transparenz
Mit der Ausarbeitung des Parlamentsgesetzes von 2005 setzten in der Ukraine Bemühungen ein, die Erfahrungen der Wahlmanipulationen Ende 2004 und vorhergehende Erfahrungen systematisch in die Wahlgesetzgebung einfließen zu lassen und diese so evolutionär zu verbessern. Noch im Jahre 2009 wurde nicht zuletzt auf wiederholte Empfehlung der OSZE/ODIHR mit der Arbeit an einem umfassenden und einheitlichen Wahlgesetzbuch begonnen, das die Wahlen zu den Räten auf lokaler und regionaler Ebene sowie die Wahlen zum nationalen Parlament und zum Präsidenten regelt. Die bisherige permanente Neufassung von Einzelwahlgesetzen im Vorfeld von Wahlen ist besonders abhängig von sich ändernden Machtkonstellationen und den Versuchen der Vorteilsnahme der jeweils regierenden politischen Kraft und befördert das Misstrauen zwischen den politischen Akteuren. Eine einheitliche Kodifikation der Einzelwahlgesetze dient der Harmonisierung der Wahlgesetzgebung, kann die kontinuierliche Entwicklung des Wahlrechts erleichtern und damit die Legitimität von Wahlen stärken. Am 23. März 2010 – also bereits nach dem Amtsantritt Janukowytschs – brachten die Abgeordneten Jurij Kljutschkowskyj, Serhij Hrynewezkyj, Serhij Podhornyj und Wiktor Syntschenko das »Proekt wybortschoho kodeksu Ukrajiny« (Nr. 4243-1, kurz: Kljutschkowskyj-Projekt) im ukrainischen Parlament ein. Dieses von europäischer Seite unterstützte Vorhaben, an dessen Vorbereitung Abgeordnete von Opposition und Regierung, NGOs und Vertreter der exekutiven Organe beteiligt waren, wurde von der »Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht (kurz: Venedig-Kommission) als wichtiger Schritt nach vorn im Prozess der Wahlrechtsreform gewürdigt und berücksichtigte zahlreiche Empfehlungen unterschiedlicher internationaler Organisationen. Die Arbeit an diesem Projekt wurde jedoch nicht weitergeführt; vielmehr berief Präsident Wiktor Janukowytsch am 2. November 2010, d. h. unmittelbar nach den Kommunalwahlen, eine »Arbeitsgruppe zu Fragen der Vervollkommnung der Gesetzgebung über die Wahlen« ein. Zum Leiter der Arbeitsgruppe wurde der ukrainische Justizminister Oleksandr Lawrynowytsch ernannt.
Laut Präsidentenerlass wurde die Arbeitsgruppe gegründet, um »die Wahlgesetzgebung in Einklang mit den allgemein akzeptierten internationalen demokratischen Standards [zu bringen] und ihre Kodifikation zu [beschleunigen]«. In der Arbeitsgruppe waren Vertreter von Regierung, Opposition und OSZE/ODIHR vertreten; die auf Wahlbeobachtung spezialisierten einheimischen NGOs, wie das Komitee der Wähler der Ukraine (Komitet Wyborziw Ukrajiny/KWU), OPORA, das Laboratorium für gesetzgeberische Initiativen (Laboratorija sakonodawtschych iniziatyw/LSI) und das Ukrainische unabhängige Zentrum für politische Studien (Ukrajinskyj Nesaleshnyj Zentr Politytschnych Doslidshen) wurden jedoch erst nach dem Austritt des National Democratic Institute (NDI) und des International Republican Institute (IRI) im März 2011 als Protest gegen die intransparente Arbeitsweise der Gruppe systematisch und vollzählig zur Arbeitsgruppe hinzugeladen. Allerdings tagte die Arbeitsgruppe dann nur noch zweimal (April und Herbst 2011). Insgesamt zeichnete sich die Arbeitsgruppe durch ihren regierungsnahen Charakter aus: Justizminister Lawrynowytsch erklärte gleich zu Beginn, dass die das Wahlsystem betreffenden Schlüsselfragen wie Rückkehr zum gemischten Wahlsystem nicht verhandelbar seien, da dies der Präsident so entschieden habe. Ebenfalls nicht verhandelbar waren laut Lawrynowytsch der Ausschluss der Kandidatur von Parteiblöcken und die Erhöhung der Sperrklausel von drei auf fünf Prozent. Darüber hinaus war laut OPORA zunächst nicht klar, was das Ziel der Arbeitsgruppe sein sollte: die umfassende Kodifizierung der Wahlgesetzgebung oder die Vorlage eines Gesetzes für die Parlamentswahlen 2012. Auch hier entschied der Justizminister schon zu Beginn, dass nur an einem Einzelgesetz zu den Parlamentswahlen gearbeitet werden könne. Das Kljutschkowskyj-Projekt spielte damit keine Rolle mehr.
Das Arbeitsgruppen-Projekt wurde in einem gemeinsamen Gutachten von Venedig-Kommission und OSZE/ODIHR kritisert: Hauptkritikpunkt war die fundamentale Veränderung des Wahlsystems ohne breite öffentliche Debatte. Das Projekt wurde im Parlament nicht als Gesetzesprojekt registriert. Stattdessen registrierte die Regierungsmehrheit unter Leitung des Fraktionsvorsitzenden der Partei der Regionen, Oleksandr Jefremow, am 10. Oktober 2011 ein weiteres Gesetzesprojekt im Parlament (kurz: Jefremow-Projekt), das sich stark an dem demokratischen Standards kaum genügenden Kommunalwahlgesetz anlehnte und von der Venedig-Kommission kritisiert wurde. Schließlich wurde am 3. November die Interimsspezialkommission zu Fragen der Vorbereitung des Projekts des »Gesetzes der Ukraine über die Wahlen der Volksdeputierten der Ukraine« unter dem Vorsitz des Oppositionspolitikers Ruslan Knjasewytsch (Fraktion Unsere Ukraine – Nationale Selbstverteidigung/NUNS) eingerichtet, in der 13 Abgeordnete aus Regierung und Opposition bis zum 17. November eine Kompromissvariante ausarbeiten sollten. Am 17. November legte die Knjasewytsch-Kommission ein Gesetzesprojekt zur Abstimmung im Parlament vor, das mit einer unerwartet breiten Mehrheit von 366 Stimmen und damit auch der Mehrheit der Abgeordneten der Opposition angenommen wurde. Die Abstimmung war eine Angelegenheit von wenigen Minuten und verstieß nach Meinung von Abgeordneten der Opposition in einigen Punkten gegen das Reglement: Außer den Mitgliedern der Arbeitsgruppe konnte sich kaum einer der Abgeordneten mit dem Text eines für die Zukunft des Landes bedeutenden Gesetzes vertraut machen.
Die das Gesetz stützenden Vertreter der Opposition erklärten, dass man das Jefremow-Projekt verhindert habe, sich für ein transparentes Wahlsystem und ein Gesetz entschieden habe, das Wahlfälschungen fast unmöglich mache. Die Vertreter der Minderheit, die gegen das Gesetz gestimmt hatten, und regierungskritische Medien warfen der Mehrheit der Opposition vor, die Regeln der Regierung leichtfertig angenommen zu haben, die besonders nachteiligen Grundlagen des Gesetzes (Wahlsystem) legitimiert und Kritik europäischer Institutionen an möglichen Wahlverstößen und der Benachteiligung der Opposition erschwert zu haben. Darüber hinaus hätten die beiden Oppositionsfraktionen durch die Zustimmung zur höheren Sperrklausel und zum Wegfall der Blockbildung die Vertreter kleiner Oppositionsparteien massiv benachteiligt und einer Spaltung der Opposition in größere und kleinere Parteien Vorschub geleistet und damit letztlich den Zusammenschluss eines schlagkräftigen, breiten Oppositionsblocks fast unmöglich gemacht. In jedem Fall muss sich ein Großteil der Opposition den Vorwurf gefallen lassen, abermals Teil eines intransparenten Entscheidungsprozesses geworden zu sein und damit das Vertrauen in das Parlament nicht gestärkt zu haben. Ihrer Kontrollfunktion gegenüber der Regierung ist sie nur ungenügend gerecht geworden. Präsident und Regierung haben ihr Versprechen eines fairen und breiten Dialogs nicht eingelöst.
Ein Schritt zurück in die »vororange« Vergangenheit? Das gemischte Wahlsystem
Hauptkritikpunkt des neuen Wahlgesetzes ist die Rückkehr zum gemischten Wahlsystem, wie es bei den Parlamentswahlen 1998 und 2002 angewendet wurde. Demnach wird die eine Hälfte der Abgeordneten nach dem Mehrheitswahlrecht in 225 Einerwahlkreisen (225 Direktkandidaten), die anderen 225 Sitze werden auf der Basis des Verhältniswahlrechts nach landeseinheitlichen, geschlossenen Parteilisten vergeben. Die Kandidatur unabhängiger Kandidaten auf deren eigene Initiative ist im Unterschied zu den Kommunalwahlen möglich und nicht abhängig vom Vorschlag einer Partei. Allerdings können Unabhängige nur in Einerwahlkreisen kandidieren, was nicht in vollem Einklang mit den Kopenhagener Kriterien der OSZE steht. Die Möglichkeit »gegen alle« (»proty wsich«) zu stimmen, ist nun ausgeschlossen.
Vor dem Hintergrund der Kommunalwahlen 2010 und der Parlamentswahlen 2002 begünstigt das gemischte Wahlsystem in der ukrainischen Realität erfahrungsgemäß die Partei der Macht und erleichtert aufgrund der fehlenden Rechtsstaatlichkeit die Manipulation der Wähler durch Stimmenkauf (»Kauf des Wahlkreises« durch finanzstarke, zur Sicherung ökonomischer Interessen oft der »Partei der Macht« zuneigende Geschäftsleute) oder die Beeinflussung der vermeintlich unabhängigen Kandidaten durch politischen Druck, Korruption und administrative Ressourcen. Vermeintlich unabhängige Direktkandidaten können Wähler mit »Geschenken« leichter beeinflussen als Parteien. Da im Direktwahlkreis nur ein Direktkandidat einen Sitz gewinnt, alle anderen aber leer ausgehen, kann »Wählerkauf« in Mehrheitswahlkreisen weitaus effektiver angewendet werden als bei der Wahl von Parteilisten. Im Jahre 2002 erlitt der propräsidiale Wahlblock »Für eine einige Ukraine« eine vernichtende Niederlage (11,79 %), konnte sich aber mittels des massiven Einsatzes von administrativen Ressourcen durch vermeintliche oder übergelaufene unabhängige Kandidaten der Mehrheitswahlkreise im Parlament letztlich wieder eine Mehrheit sichern. Der Einsatz von administrativen Ressourcen zugunsten der Partei der Macht war auch ein zentrales Charakteristikum der Kommunalwahlen 2010, die der Partei der Regionen mit Blick auf die Parlamentswahlen 2012 auch als Erprobung des gemischten Wahlsystems dienten.
Korruption und Stimmenkauf im gemischten Wahlsystem werden noch durch die völlig unzureichende gesetzliche Regelung und die Intransparenz der Wahlkampf- und Parteienfinanzierung verstärkt. In der Ukraine gibt es keine staatliche Parteienfinanzierung und aufgrund der schwachen Verwurzelung der Parteien in der Gesellschaft sowie der Einkommensschwäche weiter Bevölkerungsteile finanzieren sich Parteien nicht durch Beiträge und Spenden ihrer »normalen« Mitglieder, sondern durch finanzstarke Geschäftsleute (die sich vor allem um die »Partei der Macht« gruppieren). Dabei verstärkt sich die Abhängigkeit der Parteien von finanzstarken Oligarchen und Industriellen dadurch, dass in der Wahlgesetzgebung keinerlei Mechanismen oder finanzielle Obergrenzen vorgesehen sind, die die ständig wachsenden Wahlausgaben begrenzen könnten. Außerdem sind die Wahlgesetzgebung einerseits und das »Gesetz über politische Parteien« andererseits in dieser Frage nicht aufeinander abgestimmt.
Anlässlich der Kommunalwahlen rechtfertigten Politiker der Regierungskoalition die Rückkehr zum Mehrheitswahlrecht mit den Präferenzen der ukrainischen Bevölkerung für dieses System. Wie in Umfragen früherer Jahre befürworten laut einer vom LSI im August 2011 in Auftrag gegebenen Umfrage die relativ meisten Befragten das Mehrheitswahlrecht (37,4 %), allerdings nicht in der gemischten, sondern in der reinen Form (450 Direktmandate). Für das vom Präsidenten bevorzugte gemischte System stimmten nur 24 %. Am schlechtesten von allen Systemen schnitt das reine Verhältniswahlrecht mit geschlossenen Listen ab. Offensichtlich ziehen es die Ukrainer mehrheitlich vor, für »konkrete«, aus der Region kommende Persönlichkeiten zu stimmen und nicht für solche Kandidaten, die im Falle des Verhältniswahlrechts mit geschlossenen Listen von einer zentralen Parteiführung ohne Rücksicht auf den lokalen Bezug bestimmt werden. Dagegen erhielt das Verhältniswahlrecht mit offenen Listen mit 31 % einen bemerkenswert hohen Zustimmungswert (vgl. Grafik 1). In diesem Wahlsystem können die Wähler konkrete Abgeordnete auf der Liste ankreuzen und damit ihre Präferenzen ausdrücken. Experten der NGOs halten dieses Wahlsystem für die im ukrainischen Fall am besten geeignete Variante, da es wegen der Einflussnahme des Wählers auf die Liste weniger anfällig für Korruption und Wahlmanipulationen ist.
Die von den internationalen Organisationen kritisierte Erhöhung der Sperrklausel für Parteien von drei auf fünf Prozent sowie der Ausschluss von Wahlblöcken von der Wahl geht vor allem zu Lasten der Opposition, aber auch der kleinen Regierungsparteien und vor allem zugunsten der Partei der Regionen. In Verbindung mit dem Fehlen einer gesetzlichen Regelung zur Vereinigung politischer Parteien ist dies zweifelsohne eine diskriminierende Regelung.
Insgesamt ist mit dem vom Präsidenten und der Partei der Regionen initiierten erneuten Wechsel des Wahlsystems eine evolutionäre Vervollkommnung der Wahlgesetzgebung, die auf den seit 2005 gemachten Fortschritten aufbaut, unmöglich gemacht worden und der im Kljutschkowskyj-Projekt bereits vorgesehene, im Jahr 2010 technisch und zeitlich machbare Übergang zu dem für Wahlmanipulationen weniger anfälligen Verhältniswahlrecht mit offenen Listen verpasst worden.
Wichtige Einzelbestimmungen zur Organisation der Wahlen
Entscheidend für den ordnungsgemäßen Ablauf von Wahlen sind die Bestimmungen zu der Zusammensetzung und den Kompetenzen der Wahlkommissionen. Das neue Wahlgesetz kehrt im Falle der Kommissionen weitgehend zu den Regeln des Parlamentswahlgesetzes von 2005 zurück. Insgesamt erhalten die Kommissionen auf allen Ebenen (Zentrale Wahlkommission: Zentralna Wybortscha Komisija/ZWK; Wahlkreiskommission: Okrushna Wybortscha Komisija/OWK; Lokale Wahlkommission: Dilnytschna Wybortscha Komisija/DWK) ausreichende Kompetenzen, um einen regulären Ablauf der Wahl durchzuführen und das Wahlrecht der Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Das Gesetz bedeutet eine spürbare Verbesserung gegenüber dem Jefremow-Projekt, das sich am Kommunalwahlgesetz orientierte. Die Dominanz der Regierungsparteien (und vor allem der Partei der Regionen) in der Kommunalwahl von 2010 in fast allen Kommissionen (bei den Kommunalwahlen: Territoriale Wahlkommission/TWK und Lokale Wahlkommission/DWK) wurde damals bereits durch das Kommunalwahlgesetz impliziert und durch einen umstrittenen Beschluss der ZWK zementiert. Laut Parlamentswahlgesetz ist in der OWK beispielsweise jeweils ein Kandidat der im ukrainischen Parlament repräsentierten Parteien vertreten. Die weiteren Plätze werden darüber hinaus durch Kandidaten derjenigen Parteien, die nicht im Parlament vertreten, aber Subjekte des Wahlprozesses sind, mittels des Losverfahrens besetzt. Die im Vergleich zum Kommunalwahlgesetz (und zum Jefremow-Projekt) deutlich niedrigere Anzahl der Vertreter der Parlamentsfraktionen gewährleistet in Verbindung mit dem Losverfahren eine erheblich verbesserte Voraussetzung für die Gewährleistung der politischen Balance in den Wahlkommissionen. Außerdem haben die Parteien im Unterschied zum Projekt der Arbeitsgruppe wieder die Möglichkeit, ihren Kandidaten ohne Grund zurückzuziehen und durch einen alternativen Kandidaten zu ersetzen. Die Beseitigung dieser Möglichkeit wurde von der Venedig-Kommission zwar mit Blick auf die völlige Unabhängigkeit der Kommissionsmitglieder begrüßt; ihre Wiedereinführung wurde von NGOs jedoch mit dem nachvollziehbaren Grund unterstützt, dass bei vorhergehenden Wahlen Mitglieder der Wahlkommission wegen politischen Drucks oder Korruption ihre politische Orientierung gewechselt hätten und somit das politische Gleichgewicht in den Kommissionen gefährdet worden sei. Der positive Gesamteindruck der gesetzlichen Regelung der Wahlkommissionen wird jedoch laut LSI durch eine weitere, unklar formulierte Klausel getrübt: Werden einem Mitglied einer niedrigeren Wahlkommission (DWK) durch die höhere Wahlkommission (z. B. OWK) die Vollmachten vorzeitig entzogen, kann die Bestimmung in Konfliktfällen so gelesen werden, dass dies zur Reduzierung der Mitgliedszahl der betroffenen Kommission (hier: DWK) auf die gesetzlich vorgeschriebene Mindestzahl führt. In diesem Fall besteht die Gefahr einer willkürlichen Veränderung der Zusammensetzung und Störung des politischen Gleichgewichts in der betroffenen Wahlkommission, was höchst problematisch ist. Ebenfalls unbefriedigend ist die Tatsache, dass die Bestimmungen zu den bei den Wahlkommissionen einzureichenden Klagen von Subjekten des Wahlprozesses gegen Entscheidungen, Handlungen und Untätigkeit in Bezug auf die Wahlen nur ansatzweise, aber nicht durchgreifend verbessert wurden, was hier jedoch nicht im einzelnen darstellbar ist.
Die Zentrale Wahlkommission spielt als Schiedsrichter im Wahlprozess eine Schlüsselrolle. Das Wahlgesetz weist der Kommission ausreichende Kompetenzen zu, um das Wahlrecht der Bürgerinnen und Bürger ausreichend zu schützen. Weiterhin ungelöst bleibt jedoch die Gewährleistung der paritätischen Besetzung der Wahlkommission, in der die regierungsnahen Vertreter de facto eine Mehrheit innehaben. Da die Neutralität der ZWK nicht ausreichend gesichert ist, kann es abermals zur Passivität der Kommission bei der Behandlung von Klagen kommen. Angesichts der zu erwartenden herausragenden Bedeutung der Wahlbeobachtung bei den kommenden Parlamentswahlen ist der Einbezug der meisten Verbesserungen in diesem Bereich zu begrüßen. So wird den offiziellen Wahlbeobachtern der NGOs der Status eines Subjekts des Wahlprozesses eingeräumt, allerdings die Möglichkeit der Einreichung von Klagen bei der Wahlkommission verweigert. In Zukunft sollte die Tätigkeit der Beobachter noch weiter erleichtert werden, indem dem jeweiligen Wahlbeobachter nicht nur die Beobachtung in einem bestimmten Wahlkreis (für den er registriert ist), sondern auf dem ganzen Territorium ermöglicht wird.
Im Bereich der Organisation der Infrastruktur der Wahlen sowie der Durchführung der Abstimmung konnten sich die Mitglieder der Interimskommission ebenfalls auf eine Reihe von Verbesserungen einigen, die hier nicht im Einzelnen darstellbar sind. So wurden bezüglich der Organisation von demokratischen Wahlen in den Auslandswahlkreisen Fortschritte erzielt. Im Vergleich zu den Kommunalwahlen wurde die öffentliche Versorgung der Wählerinnen und Wähler mit Informationen über Kandidaten, Parteien und ihre Wahlprogramme wiedereingeführt bzw. verbessert. Kandidaten in den Einerwahlkreisen haben nicht nur das Recht, sondern sind verpflichtet, ihre Wahlprogramme bei der ZWK einzureichen, die sie dann auf ihrer Homepage veröffentlicht.
Bezüglich der Organisation der Stimmabgabe im Wahllokal sowie der Vorbereitung der Ermittlung der Wahlergebnisse finden sich jedoch neben der positiven Präzisierung einzelner Normen (z. B. beim Home Voting) einige Einfallstore für Wahlmanipulationen. Besonders problematisch ist die Bestimmung, dass die Abstimmung nur in einem Wahllokal, nicht aber in einem Wahlkreis für ungültig erklärt werden kann. Die Abstimmung in einem Wahllokal kann für ungültig erklärt werden, wenn eine Anzahl von Stimmen ungültig ist, die 10 % der Wähler übersteigt, die einen Wahlzettel erhalten haben. Diese Grenze ist deutlich zu hoch und ermöglicht Manipulationen in Einerwahlkreisen, insbesondere im Fall sehr knapper Wahlergebnisse. Zugleich kann die bewusst herbeigeführte Ungültigkeit von Abstimmungen in Wahllokalen, wo der politische Gegner stark ist, in Verbindung mit dem Einsatz von administrativen Ressourcen in Wahllokalen öffentlicher Einrichtungen zur gezielten Manipulation von Wahlergebnissen eingesetzt werden. Diese Bestimmung benachteiligt vor allem Kandidaten der Opposition. Einen wesentlichen Schwachpunkt des Wahlgesetzes bildet das Fehlen von Bestimmungen zur Schaffung, Änderung, Beseitigung und zum Funktionieren der Wahllokale. Dies soll laut Wahlgesetz in einem besonderen Gesetz geregelt werden, dessen Verabschiedung aber noch völlig unklar ist. Darüber hinaus wurde zwar mit 2.500 eine Grenze der Anzahl der Wähler pro Wahllokal eingeführt; diese ist im Vergleich zu den von den internationalen Organisationen empfohlenen 1.000–1.500 Wählern aber immer noch zu hoch, so dass es in Wahllokalen schnell zur Überforderung der Wahlkommissionen sowie unübersichtlichen und für Manipulationen anfälligen Situationen kommen kann.
Fazit: Unvollkommenes Wahlgesetz
Das am 17. November 2011 angenommene Wahlgesetz enthält einige spürbare Verbesserungen, die Wahlfälschungen erschweren. In Schlüsselbereichen des Wahlgesetzes sind die Mängel jedoch keineswegs konsequent beseitigt worden und in einigen Bereichen bleiben im Gesetz – auch wegen unklarer neuer Formulierungen – Einfallstore für Manipulationen bestehen. Darüber hinaus sind die Erfahrungen mit Wahlmanipulationen während der letzten Kommunalwahlen sowie die Empfehlungen der Venedig-Kommission und der OSZE/ODIHR in Bezug auf das Wahlsystem nicht ausreichend oder gar nicht berücksichtigt worden, so dass in diesem für das Gesetz grundlegenden Bereich eklatante Schwächen im Hinblick auf die Gewährleistung demokratischer Wahlen nicht ausgeräumt werden konnten und dieses Defizit auch durch (nicht immer vollständig!) verbesserte Einzelbestimmungen nicht aufgewogen werden. Insofern ist mit der Gesetzesvorlage der Übergangskommission die in demokratischer Optik beste Variante zwar beschlossen worden; das Gesetz bietet aber –nicht zuletzt wegen der vom Präsidenten und der führenden Regierungspartei bereits zu Anfang der Debatte vorgenommenen Tabuisierung von Schlüsselfragen – kaum Voraussetzungen für eine nachhaltige, allen demokratischen Standards entsprechende Vervollkommnung des ukrainischen Wahlgesetzgebungsprozesses.
Für Hinweise dankt der Autor Denys Kowryshenko (LSI/Kiew), Oleksandr Neberekut (OPORA/Kiew) und Juri Durkot (Lwiw).