Der öffentliche Personennahverkehr wird wissenschaftlich oft als eine Arena aufgefasst, in der Staat und Gesellschaft über dessen Ausgestaltung verhandeln, – ersterer als wohlmeinender oder desinteressierter Leistungsanbieter, Regulierungsinstanz und Finanzier, letztere vertreten durch den zahlenden, still duldenden oder protestierenden Passagier. »Informelle« Lösungen für den öffentlichen Verkehr hingegen, die sich sowohl im globalen Süden (z. B. dolmuş in der Türkei, matatu im swahili-sprachigen Ostafrika, tro tro in Westafrika) wie auch im Norden (etwa App-basierte Mobilitätsdienstleister wie Uber, Lyft, Didi Chuxing) herausgebildet haben, stellen diese Auffassung zunehmend in Frage. Solche neuen Angebote profitieren von Regulierungsfreiräumen oder füllen Lücken in den von staatlicher Seite bereit gestellten Dienstleistungen. Die Unterscheidung zwischen passiven Passagieren und aktiven Dienstleistern verschwimmt dabei zunehmend und nimmt hier wie dort neue, beachtenswerte Formen an. Vor diesem Hintergrund möchten wir das Massenphänomen der Marschrutki erörtern, der in Zentralasien allgegenwärtigen Minibusse, die auf ländlichen und städtischen Straßen der Region täglich Millionen von Menschen befördern – und Millionen anderen ein Einkommen ermöglichen.
Marschrutki als Erbe der Sowjetunion
Marschrutki bilden in fast allen postsowjetischen Städten und Regionen als einzig verlässliches Nahverkehrsangebot die Grundlage des sich ständig wandelnden Transportsektors. Sie stellen eine Mischform von Mobilitätsangeboten zwischen formeller und informeller Wirtschaft dar. Bei den Marschrutki-Systemen gibt es meist weder einen homogenen Fahrzeugpark noch eine einheitliche Preisregulierung. Es existieren jedoch zahlreiche historische, individuell festgelegte oder staatlich vorgegebene Routen, die unterschiedliche Eigentumsformen sowie Unternehmensstrukturen aufweisen. Der Regulierungsgrad variiert stark, je nach lokaler Gegebenheit. In einigen Städten gibt es feste Preise für alle Marschrutka-Strecken, in anderen dagegen flexible oder entfernungsabhängige Preissysteme. Städte oder sogar verschiedene Unternehmen in einer Stadt können sich stark in Bezug auf Fahrzeugmarken, äußeres Design, Innenausstattung oder Sicherheitsstandards der Marschrutki unterscheiden. Ständige Interaktionen – Gespräche, Haltewünsche, Geldtransfer und Ansagen – zwischen Nutzern, Fahrern und Schaffnern bestimmen ebenfalls den Charakter einer Marschrutka-Fahrt. Außerdem nutzt diese Mobilitätsform buchstäblich den »Unterbau« der öffentlichen Infrastruktur (Straßen, Bushaltestellen, Parkplätze) und formell wie informell etablierte Einrichtungen wie Betriebshöfe, Reparaturbetriebe und Dispatcherzentralen (d. h. die Fahrdienstleitung). Die Termini sind oft nicht klar umgrenzt, was die Definition des Marschrutka-Systems und der Marschrutka-Mobilität weiter erschwert. Zusammenfassend lässt sie sich als eine sehr heterogene, flexible Transportform und somit als ein facettenreiches Mobilitätsphänomen beschreiben.
Wenn wir nach den Ursprüngen der Marschrutka-Mobilität in Zentralasien suchen, müssen wir in die Sowjetzeit zurückblicken. Als Transportform tauchten Marschrutki in sowjetischen Städten zuerst in den 1930er Jahren auf. Normalen Taxis wurden bestimmte festgelegte »Marschrouten« zugewiesen – so entstand der Begriff (abgeleitet vom deutschen Lehnwort Marschrut, Anm. d. Übers.) – man konnte sie im Allgemeinen durch Handzeichen an jedem beliebigen Punkt entlang der Route anhalten. Es handelte sich einerseits um eine bequeme, aber (gegenüber Massenverkehrsmitteln wie Bussen oder Straßenbahnen, Anm. der Redaktion) teurere Transportform auf den Hauptverkehrsstraßen, andererseits um eine günstigere Alternative zum Taxi, wenn man »ungewöhnliche« Ziele (abseits der alltäglichen Wege zwischen Wohn- und Arbeitsplatz, Anm. der Redaktion) ansteuerte, wie Bahnhöfe, Flughäfen oder Strände. Die Bedeutung der Marschrutki nahm mit dem serienmäßigen Bau des ersten sowjetischen Minibusses, des lettischen RAF-10, zu. Doch waren diese relativ kleinen und in geringer Stückzahl produzierten Minibusse in der sowjetischen Städteplanung nie als Massentransportmittel vorgesehen. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und infolge der daraus resultierenden Wirtschaftskrise verfügten die meisten Kommunen über so geringe Haushaltsmittel, dass die Stadtverwaltungen den »formellen« öffentlichen Personennahverkehr weitgehend stilllegen mussten und sich der private Minibusverkehr als Hauptverkehrsmittel etablierte.
Seither haben die individualisierte Marktstruktur des Marschrutka-Transportsystems, niedrige Zugangsbarrieren zu diesem Beschäftigungssektor, die Möglichkeit zur Selbständigkeit und (jedenfalls anfänglich) das Fehlen gesetzlicher Vorschriften, die Entstehung einer »Regulierung von unten« begünstigt und die zahlreichen Versuche seitens städtischer Behörden, die Marschrutki in »offizielle« und unternehmensrechtliche Rahmenstrukturen einzubinden, konterkariert. Das gilt auch für den infrastrukturellen »Unterbau« dieser Form des öffentlichen Personennahverkehrs, die sich schon bestehender Straßen und Haltestellen bedient und der es weitgehend an Betriebshöfen und Verteilern fehlt. Provisorische und flexible, wenngleich mittlerweile eingespielte Handlungsabläufe bilden häufig die Grundlage für das alltägliche Geschäft. Es haben sich also nicht nur die Fahrzeuge verändert, sondern auch die Dienstleistungen, Serviceeinrichtungen und Vorschriften – dies steht in krassem Gegensatz zum staatlich finanzierten und regulierten öffentlichen Personennahverkehr der Sowjetzeit.
Man könnte sagen, dass die Marschrutki eines der augenfälligsten Symbole postsowjetischer Befindlichkeit auf den Fahrbahnen der Region verkörpern. Millionen von Passagieren, Fahrern, Dispatchern, Unternehmern und Fahrzeugen praktizieren und festigen täglich diese Beförderungsart, dies hat massive Auswirkungen auf das gegenwärtige städtische Leben in Wirtschaft, Politik oder Kultur. Charakteristisch für das Marschrutka-Phänomen ist, im Gegensatz zu vielen anderen Hinterlassenschaften der Sowjetzeit, seine hohe Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche und sich verändernde Sozialräume und Strukturen sowie seine bisherige Immunität gegenüber Reformversuchen.
Routen, Haltestellen und Fahrzeuge
Die Situation in Chudschand, dem ehemaligen Leninabad, soll das Phänomen Marschrutka beispielhaft beleuchten. Dies ist die zweitgrößte Stadt Tadschikistans und das Zentrum des Gebiets Sogd im Ferganatal. Der Ballungsraum mit ca. 500.000 Einwohnern verfügt über ein sehr ausgedehntes, dichtes Netz von Marschrutka-Routen mit ungefähr 1.500 Fahrzeugen und fast 100 Linien.
Da es keine verfügbaren Daten über die Verteilung des Fahrgastaufkommens gibt, lässt sich nicht mit Bestimmtheit feststellen, welches Verkehrsmittel in Chudschand auf welchen Strecken bevorzugt wird. Doch nach unserer Einschätzung stehen die Marschrutki, die sogar für Kurzstrecken von weniger als einem Kilometer beliebt sind, an erster Stelle. Schätzungen zeigen, dass etwa jeder zehnte Haushalt der Stadt sein Einkommen aus dem Mobilitätssektor bezieht – und hier sind zusätzliche Dienstleister wie Tankstellen oder Reparaturwerkstätten noch nicht einmal eingerechnet. Damit stellen die Marschrutki einen äußerst bedeutsamen Bereich der lokalen Wirtschaft dar – und gleichzeitig den am meisten ignorierten.
Seit den Anfängen der Sowjetunion wurden große Fabriken, Märkte und andere wichtige Anlagen außerhalb der Innenstadt von Chudschand, die damals noch weitgehend aus einer islamisch geprägten, »orientalischen« Altstadt bestand, angesiedelt. Das Industriekombinat »Vostokredmet« zur Anreicherung von Uran und Verarbeitung seltener Metalle wurde in den 1940er Jahren einige Kilometer südlich der Stadt gebaut, die Satellitenstadt Tschkalowsk bot Wohnmöglichkeiten für ihre Arbeiter. Zwischen dieser Anlage und der Altstadt wurde ein großes Werk zur Seidenherstellung mit bis zu 20.000 Beschäftigten errichtet. In den 1950er Jahren begann man auf der bis dahin unbewohnten rechten Uferseite des Syr-Darja mit dem Bau von Großwohnsiedlungen. Die Fabriken befanden sich jedoch überwiegend auf dem linken Ufer. Dies führte zu einer Konzentration des Passagieraufkommens entlang der Hauptstraße, die im Stadtzentrum von Chudschand den Syr-Darja überquert. Bus- und O-Buslinien bedienten diese wichtige Verkehrsachse. Auch die erste Marschrutka-Linie der Stadt, die seit den frühen 1980er Jahren betrieben wurde, verlief entlang der gesamten Hauptstraße der Stadt. Diese Hauptachse ist auch heute noch am lukrativsten und hat die meisten Passagiere; hier herrscht mit einer Frequenz von werktags ungefähr 450 Marschrutki pro Stunde auf dem zentralen Abschnitt, auch am meisten Konkurrenz. Längere Strecken werden als profitabler angesehen, denn sie werden nicht nur von Passagieren genutzt, die von einem Endpunkt zum anderen fahren, wie bei den kürzeren Linien oder auf Überlandstrecken, sondern ermöglichen viele Zwischenstopps und ein abgestuftes Preissystem, so dass Passagierflüsse ausgeglichen und Einnahmen gesteigert werden können.
Der vielleicht auffälligste Unterschied zwischen den Marschrutki und den »staatlichen« Formen des öffentlichen Personennahverkehrs, wie beispielsweise Bussen oder O-Bussen, ist das Fehlen festgelegter Haltestellen. Heutzutage gibt es in Chudschand keine Alternativen mehr zu den Minibussen, denn kommunal betriebene Buslinien verschwanden schon in den 1990er Jahren und O-Busse verkehrten nur sporadisch und unzuverlässig, bis ihr Betrieb, wie in vielen Städten Zentralasiens, im Jahr 2010 komplett eingestellt wurde. Die Haltestellen aus der Sowjetzeit bestehen jedoch auf fast allen Routen weiter. Im Stadtzentrum dürfen die Marschrutki ausschließlich dort halten – eine Regelung, deren Einhaltung von der Verkehrspolizei in den meisten Fällen auch kontrolliert wird. Doch wenn die Verkehrspolizei nicht vor Ort ist, halten die Minibusse auch anderswo, für die Abendstunden gibt es eine stillschweigende Übereinkunft, dass die erwähnte Regelung nicht durchgesetzt wird.
Auf anderen Abschnitten der Strecke sind keine obligatorischen Haltepunkte vorgeschrieben. Folglich wird der Halt zwischen Passagieren und Fahrern ausgehandelt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass an jedem beliebigen Ort gehalten wird. Neue Haltepunkte entstehen durch Gewohnheit und Alltagspraxis und werden in gewissem Grade institutionalisiert, sei es durch eine Bezeichnung oder durch die Präsenz von Straßenverkäufern. Manchmal handelt es sich sogar nur um eine kleine Bank, die von Anwohnern als Ausdruck ihrer privaten Aneignung eines »inoffiziellen« Halts mit roten Kissen dekoriert wurde. Nutzer reagieren sehr rasch mit Namensgebungen auf neue Gebäude oder Umleitungen. Die meisten Benennungen richten sich nach einem nahe gelegenen Unternehmen, einem Laden oder Café, nach Abkürzungen von Fabriken oder öffentlichen Einrichtungen – unter Verwendung russischer Begriffe, also im Widerspruch zur offiziell verordneten »Tadschikisierung« von Ortsnamen.
Flexibler Fahrzeugpark und unkonventionelle Betriebshöfe
Im Marschrutka-Bestand der Stadt dominieren heute Mercedes-Benz-»Sprinter«, während bis vor einigen Jahren die in Russland hergestellten Fahrzeuge vom Typ »Gazel« einen Großteil des Fuhrparks ausmachten. Es gibt auch noch einige wenige RAF-Minibusse, die seit der Sowjetzeit überdauert haben und auf weniger lukrativen Routen eingesetzt werden, da stehende Passagiere hier nur in äußerst unbequemer Körperhaltung befördert werden können. Vor dem Hintergrund der massiven Konkurrenz auf der Hauptstrecke ist die Frage des Komforts wichtiger geworden: die Passagiere können auf eine Marschrutka mit freien Sitzplätzen warten. Wenn es nur Stehplätze gibt, sind Mercedes-Sprinter die bevorzugte Option. Die Linie 3 hat in Bezug auf Komfort, Sauberkeit und Sicherheit den besten Ruf. Die Fahrer stellten rasch auf Mercedes-Sprinter um und gaben die Gazel-Minibusse auf. Es war die erwähnte die Linie 3, auf welcher Mitte der 1990er Jahre erstmals in Chudschand Gazel-Fahrzeuge anstelle von RAF-Minibussen eingesetzt wurden, was die Innovationsfähigkeit der Linie unterstreicht. Interviewpartner berichteten, dass Vostokredmet, das Werk zur Anreicherung seltener Metalle in Tschkalowsk, eine eigene Busfabrik hatte. Unter dem Markennamen »Tadschikistan« wurden dort mittelgroße Fahrzeuge für den Personaltransport zu bzw. in abgelegenen Minen und Fabriken gebaut. Der heutige »Brigadeleiter« der Linie 3 war 1996 die erste Person in Chudschand, die über einen Verwandten einen Gazel-Transporter aus Moskau importierte; ein erfahrener Mitarbeiter der damals still stehenden Busfabrik kümmerte sich um den Einbau von Fenstern, Sitzen und Teppichboden. Damit begann, dank der Existenz eines usto (Meister) – dem später viele solche Handwerker folgten, die Kleintransporter für den Personenverkehr umbauen konnten – der massenhafte Import von Gazel-Fahrzeugen nach Chudschand. Eine ähnliche Umrüstung erfolgt heutzutage bei den importierten gebrauchten Sprintern aus Westeuropa und dem Baltikum. Es handelt sich um einen wichtigen Geschäftszweig für Chudschand, das Umschlagplatz für Gebrauchtwagen und Kleinbusse für ganz Tadschikistan und darüber hinaus für Kirgistan und Afghanistan ist.
Die meisten Marschrutka-Linien der Stadt werden von Sorbon betrieben, dem größten Konzessionär in Chudschand, der 48 von 92 Routen in der Stadt betreibt (Stand 2014). Dieses Unternehmen ist Erbe des sowjetischen Taxibetriebs von Chudschand, dem es gelang, als Marschrutka-Holding zu überleben. Doch Sorbon besitzt und betreibt nur einen Bruchteil der in Betrieb befindlichen Fahrzeuge. Der größte Teil des Fuhrparks ist in Privatbesitz und wird von Einzelunternehmern gefahren und gewartet, die unter dem Schirm einer Sorbon-Lizenz Routen betreiben. Der große Betriebshof von Sorbon (eher unter dem alten Namen Taksopark bekannt) ist daher fast leer; er nimmt nur Verwaltungsfunktionen wahr und bietet Platz für Werkstätten, die jedoch nicht zum operativen Marschrutka-Geschäft gehören. Nachts werden die Fahrzeuge in der Nähe der Wohnungen der Fahrer geparkt, so dass die ganze Stadt zu einem weit verstreuten Betriebshof für Marschrutki geworden ist. Das gleiche gilt für Instandhaltung und Wartung, denn alle Fahrer wenden sich an über die ganze Stadt verteilte Werkstätten ihres Vertrauens.
Einige Aufgaben von Depots werden heutzutage an den Endhaltestellen von Linien realisiert. Dies geschieht z. T. über Gespräche und Abmachungen zwischen Busfahrern während ihrer Pausen. Jüngere Fahrer erhalten hier von Dispatchern wie auch älteren Fahrern informelle Lehrstunden in Straßenverkehrssicherheit, technischen Fragen und auch, ganz allgemein, in korrektem Benehmen gegenüber Kollegen, Passagieren und Behörden. Es kommt auch vor, dass hier kleinere Instandhaltungsarbeiten erledigt werden. Durch die Tätigkeit des Fahrdienstleiters entsteht zudem ein Gemeinschaftsgefühl unter den Fahrern, das verhindert, dass sie sich untereinander die Passagiere streitig machen. Da keine zentrale Kontrolleinrichtung existiert, telefonieren die Fahrer ständig, um nachfolgende Fahrzeuge über Hindernisse, Passagieraufkommen und Polizeikontrollen zu informieren.
Die Fahrer tragen in dem bestehenden System eine große Belastung, denn sie allein sind verantwortlich für Treibstoff, Instandhaltung, Fahrzeug- und Passagiersicherheit, Versicherungen etc. Gleichzeitig erinnert die Rolle der Betreibergesellschaften als finanzieller und organisatorischer Vermittler zwischen dem einzelnen Fahrer und der städtischen Verwaltung für das Transportwesen eher an eine hochprofitable Lobbying-Konstruktion als an einen Dienstleister. Selbstausbeutung ist unter den Marschrutka-Fahrern weit verbreitet. Doch wird dieser Job als eine verlässliche Einkommensquelle angesehen und es ist schwierig, einen Platz auf den lukrativsten Linien zu bekommen. Um Stress abzubauen, die Verkehrssicherheit zu erhöhen und Reparaturen der Türen zu minimieren, stellen einige Fahrer zusätzlich Schaffner ein – meistens Schüler – die Fahrgeld einsammeln, Türen schließen, Haltestellen ansagen und Anfragen an den Fahrer weiterleiten, aber auch potentielle Passagiere an den meistfrequentierten Haltepunkten zum Einsteigen animieren. Bei einigen Linien gibt es an den stark nachgefragten Haltestellen bei den Basaren auch »ortsgebundene« Schaffner, die potentielle Fahrgäste zum Einsteigen bewegen.
Das Ende des Marschrutki-Eldorados?
Der anhaltende Erfolg dieser stark frequentierten und flexibel genutzten Minibusse überrascht einigermaßen, wenn man an die lang andauernden Kontroversen um die Entwicklung des Personennahverkehrs in zahlreichen Städten und Staaten der ehemaligen Sowjetunion denkt. In ersten Projekten in Moskau, Astana und Kasan gelang es, zumeist unter dem Credo der Modernisierung, Marschrutka-Systeme abzuschaffen bzw. durch »große« Busse zu ersetzen. Andere Städte waren mit diesem Vorhaben weniger erfolgreich, in wieder anderen versuchten die lokalen Behörden nicht einmal, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen.
In Chudschand dauert die öffentliche Debatte über die Abschaffung von Minibuslinien ebenfalls seit Jahren an. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) hat die Bereitstellung eines Kredits in Höhe von 61,5 Mio. US-Dollar für die Anschaffung von 600 neuen Bussen und Trolleybussen zugesagt. Die ersten 100 chinesischen Busse, die Ende 2011 eintreffen sollten, sind jedoch nie Bestandteil des öffentlichen Transportsystems von Chudschand geworden. Ein Grund könnte sein, dass einige Mitglieder der Stadtverwaltung persönlich am Geschäft mit den Marschrutki beteiligt sind; sie besitzen Fahrzeuge und beschäftigen Fahrer und befürchten daher, ihr Einkommen zu verlieren. Ein weiterer Grund für die Verzögerung ist die Diskussion zwischen der EBRD und der Stadtverwaltung, ob der Kredit in bar überwiesen oder ob die Lieferung der Busse direkt von der EBRD ausgeschrieben und bestellt werden soll. 2014 hieß es, dass die Busse »in diesem Winter« eintreffen werden, Mitte 2016, dass sie »bis Ende des Jahres« ankommen sollten. Anfang 2017 gibt es noch immer keine Anzeichen dafür, dass die geplante Änderung umgesetzt wird. Diese würde das Verschwinden der Marschrutka-Linien zumindest entlang der Hauptstraße bedeuten. Weder Fahrern noch Unternehmern scheint das Sorgen zu bereiten. Viele Fahrer haben den Führerschein für große Busse beantragt und sich bei der städtischen Verkehrsverwaltung registrieren lassen; andere planen, auf Vorortrouten zu wechseln. Unternehmer wie Sorbon oder Gazel' passtrans beabsichtigen, mit dem geplanten »Kommunalen Einheitsunternehmen« zusammen zu arbeiten, das im neuen Bussystem Dienstleistungen wie Instandhaltung oder Fahrdienstleitung erbringen soll, während die Stadtverwaltung ganz sicher ihren »angemessenen« Anteil am neuen System erhalten wird.
Fazit
Die Beobachtung urbaner Mobilitätsformen in Chudschand ist über den spezifischen Kontext hinaus von allgemeiner Bedeutung für den postsowjetischen Raum. Wie in Chudschand ringen viele, oft finanziell schlecht ausgestattete Provinzstädte mit der Modernisierung, Umgestaltung oder auch nur dem stabilen Betrieb des Nahverkehrs. Der Artikel zeigt die mannigfaltigen Verflechtungen von wirtschaftlichen, lokalpolitischen und sozialen Handlungsmustern und institutionellen Regelungen, die urbane Marschrutka-Mobilität erst ermöglichen. Ebenso komplex gestalten sich daher auch spezifische bzw. lokale Lösungsansätze zur Reform schlecht funktionierender bzw. chronisch unterfinanzierter Nahverkehrssysteme. Diese sind unseres Erachtens unabdingbar mit der spezifischen Betrachtung lokaler Kontexte verbunden und nur so sinnvoll nachvollziehbar.
Aus dem Englischen von Brigitte Heuer