Postsowjetische Migration aus Zentralasien nach Russland. Neue Akteure in globalen Migrationsprozessen

Von Sergej Abaschin (Sankt Petersburg)

Zusammenfassung
Die Arbeitsmigration von Zentralasien nach Russland ist derzeit ein viel beachtetes gesellschaftliches und mediales Phänomen. Der Autor weist darauf hin, dass Migrationsprozesse im eurasischen Raum jedoch nichts Neues sind und dass sie zwar besondere Merkmale haben, aber doch Teil weltweiter Wanderungsbewegungen sind. Bis in die 1970er Jahre war Zentralasien Einwanderungsregion, seitdem haben unter anderem sinkende Geburtenraten in Russland bei steigenden Zahlen in Zentralasien für eine Umkehr gesorgt, in den 1990er Jahren aber auch die Abwanderung von Angehörigen nichtzentralasiatischer Nationalitäten in ihre nominelle »Heimat«. Die Migration von arbeitsuchenden Kirgisen, Tadschiken und Usbeken nach Russland setzte dann Ende der 1990er Jahre ein und erreichte 2014 ihren bisherigen Höhepunkt. In der Masse planen die Migranten nicht ihre dauerhafte Umsiedlung, sondern eine Rückkehr in ihre Herkunftsländer, langfristig ist aber mit immer mehr Menschen zu rechnen, die die russische Staatsbürgerschaft annehmen und sich endgültig in Russland niederlassen.

Die Migrationsprozesse aus Zentralasien nach Russland haben eine lange Geschichte, die schon in der Sowjetzeit begann. Nach dem Zerfall der UdSSR haben sie ungeahnte Dimensionen angenommen und wurden zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren des wirtschaftlichen und politischen Lebens sowohl in Zentralasien als auch in Russland; sie haben die kulturelle und sprachliche Landschaft des eurasischen Raums verändert. Dieses neue Migrationsphänomen wurde Gegenstand heftiger Diskussionen unter Politikern und Experten, aber auch ein wichtiges Thema in den Beziehungen zwischen Russland und seinen südlichen Nachbarn. Im früheren sowjetischen Raum zeigten sich rasch globale Tendenzen: eine Unterteilung in Sender- und Empfängerländer massenhafter Migrationsströme mit den damit verbundenen Problemen und eine Zunahme fremdenfeindlicher Einstellungen. Gleichzeitig breitet sich das Phänomen allmählich über die Grenzen Eurasiens nach Europa, Asien und Nordamerika aus.

Im Folgenden werden Etappen und Besonderheiten der Migration aus Zentralasien nach Russland charakterisiert, einige Haupttendenzen bei der Herausbildung dieser Migrationsprozesse herausgearbeitet und ihre Vielfalt und ausgeprägte Dynamik sowie die Merkmale, die diese Migrationen als Teil globaler Prozesse ausweisen und die in allen Ländern der Erde ähnlich sind, aufgezeigt. Gleichzeitig werden die spezifischen Eigenarten der Migrationsbewegungen in den ehemaligen Sowjetrepubliken beschrieben, die aktuelle Phase der Migration analysiert und versucht, die weitere Entwicklung zu prognostizieren. Ziel des Beitrags ist es, die Untersuchung der Migrationsprozesse im postsowjetischen Raum aus der früheren sowjetologischen Beschränktheit zu lösen und sie als Teil der gegenwärtigen Weltordnung zu begreifen und zu analysieren.

Im Zentrum steht die Migration aus Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan. Die statistischen Angaben, die weiter unten angeführt werden, entsprechen nicht immer den methodischen Anforderungen an Vollständigkeit und Transparenz von Erhebungen. Sie können aber dennoch eine gewisse Vorstellung von den Haupttendenzen der aktuellen Migrationsprozesse in der Region geben.

Die Dynamik der Migrationsprozesse in der Sowjetunion

Vom Ende des 19. Jh. bis ungefähr in die 1970er Jahre war Zentralasien eine Empfängerregion für Migranten, die sehr unterschiedlichen Kategorien angehörten: Übersiedler auf Arbeitssuche, Angehörige deportierter Völker sowie Flüchtlinge und Kriegsgefangene während des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Ein ganzes Jahrhundert lang wuchs der Anteil an Migranten und Personen mit Migrationshintergrund in der Region und betrug insbesondere in einigen Städten mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Doch schon in den 1970er Jahren versiegte dieser Migrationsstrom und die Abwanderung aus Zentralasien übertraf die Zuwanderung. Dafür gab es eine ganze Reihe von Gründen, vor allem demographische Ungleichgewichte: Während in Russland die Wachstumsraten der bereits überwiegend urbanisierten Bevölkerung abnahmen, stiegen sie in Zentralasien mit seiner vorwiegend ländlichen Bevölkerung weiter. Die Abwanderung hatte auch mit dem Einsetzen einer aktiven »Nationalisierung« der zentralasiatischen Eliten zu tun, die sich zunehmend um ihren Status sorgten und ihre Präsenz auf allen Ebenen der Verwaltung und der Wirtschaft verstärkten. Dies rief beim russischsprachigen Teil der Bevölkerung das Gefühl hervor, eine verdrängte Minderheit zu sein.

In den 1980er Jahren, also noch während der Sowjetzeit, begann man die Übersiedlung in die entgegengesetzte Richtung zu stimulieren: aus dem überbevölkerten Zentralasien nach Russland, wo bereits Entvölkerung und Arbeitskräftemangel virulent wurden. Die Umsiedlung vollzog sich auf organisiertem Wege, beispielsweise durch turnusmäßige Anwerbung von Arbeitskräften – die sogenannten Arbeitsbataillone der Armee –, die in Wirklichkeit mit dem Bau ziviler Objekte in Russland beschäftigt waren. Schließlich begann man ein Projekt zu planen und sogar bereits umzusetzen, das die massenhafte und dauerhafte Umsiedlung ganzer Familien aus Zentralasien in ländliche Gegenden der RSFSR zum Ziel hatte. Diese Pläne wurden jedoch durch den Zusammenbruch der UdSSR gestoppt.

Die Migrationsprozesse der 1990er Jahre

Den postsowjetischen Migrationsaustausch zwischen Russland und den zentralasiatischen Staaten nach 1991 kann man grob in zwei Phasen einteilen: die 1990er und die 2000er Jahre.

In den Migrationsbewegungen der 1990er Jahre aus Zentralasien nach Russland spiegelt sich klar der Zusammenbruch des Imperiums wider. Die neuen unabhängigen Republiken erklärten sich zu nationalen und von der Kontrolle durch die frühere Metropole befreiten Staaten; sie begannen mehr oder minder aktiv eine Politik der Ethnisierung aller Lebensbereiche zugunsten der »Titularnation«. Folge war die massenhafte Abwanderung derjenigen, die zur Minderheit geworden waren, in Länder, die sie als die »ihren« betrachteten: Russen, Tataren, Nordkaukasier u. a. reisten in die RF aus, Ukrainer und Krimtataren in die Ukraine, Deutsche nach Deutschland, Juden nach Israel etc.

Einen zusätzlichen »Push«-Faktor bildeten die schwere Wirtschaftskrise, die alle postsowjetischen Länder erfasste, und die politische Instabilität, insbesondere in Tadschikistan, wo 1992–1997 Bürgerkrieg herrschte.

Diese Migrationswelle begann 1990, am Vorabend des Zerfalls der UdSSR, als Rinnsal und erreichte ihren Höhepunkt 1994. Danach sanken die Abwanderungsraten allmählich, wenn auch mit Schwankungen, doch der Trend zur Ausreise setzte sich in den 1990er und 2000er Jahren kontinuierlich fort. Nach offiziellen Angaben erhielten zwischen 1992 und 2009 ca. 2,5 Mio. Zuwanderer aus Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan die russische Staatsbürgerschaft (siehe Tabelle 1).

Zu den Merkmalen dieser Migrationsphase gehörte ihre ethnische Ausrichtung: Sie erfasste vor allem Angehörige der nicht zur Titularnation gehörigen Nationalitäten, die zu Beginn der 1990er Jahre panikartig die Region verließen. Der Wunsch nach Anschluss an den Staat der »eigenen« Nation oder die Flucht vor Verdrängung aus dem Staat der »fremden« Nation bildeten das Hauptmotiv der Ausreise. Die Repatrianten suchten meistens nach einer permanenten Bleibe in Russland und strebten die russische Staatsbürgerschaft an. Sie wanderten im Familienverband aus und benötigten am neuen Wohnort nicht nur einen Arbeitsplatz, sondern auch eine dauerhafte Unterkunft sowie alle notwendigen sozialen Einrichtungen. Meistens handelte es sich um Stadtbewohner mit guter Ausbildung und hohen Anforderungen an ihre Lebensbedingungen, – dies führte nicht selten zu Traumatisierung infolge ihres niedrigeren Status und Lebensstandards in irgendeinem russischen Provinzstädtchen.

Umfang und Struktur der Migration in den 2000er Jahren

Ende der 1990er Jahre/Anfang des 21. Jahrhunderts vollzog sich ein entscheidender Wandel in den Haupttendenzen der Migration aus Zentralasien nach Russland. Zwar setzte sich die Abwanderung jener Bevölkerungsgruppen fort, die in ihre historische Heimat zurückkehren wollten, doch entwickelte sich daneben eine neue, rasch anwachsende Migration, bei der es in der Hauptsache um Arbeitseinkommen ging. Die ersten Migranten dieses Typs trafen zusammen mit der Hauptwelle der Repatrianten in Russland ein. Doch mit der Zeit entwickelte die Arbeitsmigration ihre eigene Dynamik.

Durch die rasche wirtschaftliche Erholung in Russland nach der Krise von 1998 und in Verbindung mit dem andauernden Bevölkerungsrückgang entstand ab etwa 2005 ein Defizit an Arbeitskräften auf dem russischen Arbeitsmarkt, das, befördert durch Visafreiheit und kulturelle Gemeinsamkeiten, Migranten aus den früheren Sowjetrepubliken anzog, die ihrerseits bei anhaltendem Bevölkerungswachstum, aber rückläufiger Wirtschaftsleistung einen Arbeitskräfteüberschuss hatten (Tabelle 2).

Zuerst reisten Bürger der ärmsten zentralasiatischen Staaten – Tadschikistan und Kirgistan – als Arbeitsmigranten nach Russland; nur wenig später folgten Arbeitssuchende aus Usbekistan. Es migrierten nicht nur Menschen aus ärmeren Schichten, sondern auch Angehörige der einheimischen Mittelklasse. Der Umfang der Migration aus Kasachstan nach Russland ist zwar auch bedeutend, doch handelt es sich meist um Migration aus den Grenzregionen oder zu Ausbildungszwecken. Kasachstan befand sich eher in der Situation Russlands: der durch Rohstoffreichtum bedingte wirtschaftliche Aufschwung zog eine Nachfrage nach Arbeitskräften nach sich. In Turkmenistan konnte das rohstoffbasierte Wirtschaftswachstum durch eigene überschüssige Arbeitskräfte in Gang kommen.

Die Arbeitsmigration aus Zentralasien nach Russland erreichte rasch gewaltige Ausmaße. Nach offiziellen Angaben des Föderalen Migrationsdienstes Russlands befanden sich im Jahr 2014 4,3 Mio. Staatsbürger Kirgistans, Tadschikistans und Usbekistans auf dem Territorium Russlands (Tabelle 3). Weitere Zehntausende oder sogar Hundertausende ehemalige Bürger dieser Staaten mit russischer Staatsangehörigkeit lebten dort faktisch wie Arbeitsmigranten. 2014 erreichte die Präsenz von Zentralasiaten in Russland ihren bisherigen Höchststand. Die Arbeitsmigration wurde für viele Bewohner der Region zu einer wichtigen wirtschaftlichen Überlebensstrategie im Sinne des Einkommens- und Statuszuwachses. Insgesamt wurden nach offiziellen Berechnungen der russischen Zentralbank im Jahre 2013 fast 13 Mrd. US-Dollar aus Russland in diese drei Länder überwiesen (Tabelle 4). Usbeken stellen das größte Kontingent der Migranten in Russland und dorthin wird am meisten Geld überwiesen, doch gemessen an der Wirtschaftskraft und Bevölkerung ihrer Länder fallen die Zuwanderer aus Tadschikistan und Kirgistan und deren Überweisungen dort mehr ins Gewicht. Für die Regierungen aller drei Länder sind diese Geldsendungen zu einem wichtigen Instrument der Linderung sozialer Not und der Entschärfung damit verbundener potentieller Konflikte geworden, daher haben sie die Ausreise der Arbeitssuchenden nicht behindert.

Der primär wirtschaftliche Charakter der Migration bedingt ihre strukturellen Merkmale. Es migrieren hauptsächlich Dorfbewohner und Kleinstädter sowie Geringqualifizierte, d. h. Personen, die zu Hause Probleme haben, eine gut bezahlte Arbeit zu bekommen. In Russland arbeiten sie auf dem Bau, im Dienstleistungssektor, im Handel etc. Hauptsächlich handelt es sich um Männer im arbeitsfähigen Alter, der Anteil junger Leute ist mit fast 50 % hoch. Frauen sind an den Migrationsströmen aus Usbekistan und Tadschikistan in viel geringerem Maße beteiligt (bis zu 20 %), und ihr Anteil hat sich im Lauf der Zeit nicht verändert. Der Anteil weiblicher Arbeitsmigranten aus Kirgistan ist mit etwa 40 % höher, das hat offensichtlich mit weniger rigiden kulturellen Normen bezüglich der Mobilität von Frauen in Kirgistan zu tun. Der Prozentsatz von Kindern und Rentnern ist sehr niedrig – das bedeutet, dass die Migranten (mit Ausnahme der Kirgisen) relativ selten als ganze Familien nach Russland ausreisen.

Zirkuläre Migration

In der Regel haben die zentralasiatischen Arbeitsmigranten nicht das Ziel, auf Dauer ihr Geburtsland zu verlassen. Meist behalten sie die Staatsbürgerschaft ihres Herkunftlandes und kehren mehr oder minder regelmäßig dorthin zurück, um sich dann erneut nach Russland zu begeben. Oft haben sie in ihrer Heimat Familien und Häuser und überweisen das erarbeitete Geld für deren Unterhalt: für den Erwerb von hochwertigen Konsumgütern und die Abhaltung von Festen mit hohem Prestige, zur Bezahlung von Arzneimitteln und Schul- oder Studiengebühren etc. Sogar diejenigen, die nur selten heimkehren, sehen ihre Lebenssituation als zeitlich begrenzt an; sie halten enge virtuelle Verbindungen mit ihren Familien aufrecht und setzen sich die Rückkehr in die Heimat als Zukunftsziel. Dieser Typus wird weltweit als transnationale oder zirkuläre Migration bezeichnet.

Bis Ende 2014 gab es in Russland verschiedene Möglichkeiten des legalen Aufenthalts von Arbeitsmigranten ohne Visa: eine (nach Quotensystem vergebene) Arbeitserlaubnis und der Kauf eines Arbeitspatents. Seit 2015 haben sich die Rechtsvorschriften für einen legalen Aufenthalt von Migranten ohne russische Staatsbürgerschaft geändert (die Legalisierung schließt das Recht auf Erwerbstätigkeit ein). Am verbreitetsten sind ein visafreier Aufenthalt für einen beschränkten Zeitraum, Erwerb eines Arbeitspatents sowie Erlangung einer befristeten Aufenthaltsgenehmigung und eines Aufenthaltsrechts (Tabelle 5). Für usbekische und tadschikische Staatsangehörige ist der Kauf eines Arbeitspatents Vorbedingung für einen länger als drei Monate dauernden legalen Aufenthalt. Bürger Kirgistans, das seit 2015 Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion (EEU) ist, sind nur zur Registrierung am Wohnort und zum Abschluss eines Arbeitsvertrags verpflichtet. Doch in der Praxis funktionieren die meisten Rechtsvorschriften nicht. Wegen der hohen Kosten für Migranten und Arbeitgeber leben und arbeiten die Betroffenen ohne Papiere oder mit unvollständigen oder sogar falschen Dokumenten in Russland. Nicht selten basiert der Status der Migranten auf informellen Beziehungen und Korruption.

Die Dynamik der Migration

Der Anteil von Arbeitsmigranten aus Zentralasien, der in Russland heimisch wird, eine Aufenthaltserlaubnis oder sogar die russische Staatsbürgerschaft besitzt, wächst allmählich, dominiert bis jetzt im Strom der Migranten aber noch nicht. Ihre Zahl lässt sich ansatzweise anhand der russischen Volkszählungen schätzen, da dort die ethnische Zugehörigkeit von Personen mit ständigem Wohnsitz in der RF erfragt wird. Der letzte Zensus 2010 listete ca. 0,6 Mio. aus Zentralasien stammende Einwohner auf (Tabelle 6). Zieht man die Angaben über den Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft [in den Folgejahren] in Betracht, so könnte ihre Zahl Ende 2016 auf 0,8 Mio. angestiegen sein. Viele dieser Zuwanderer, die russische Staatsangehörige sind und deren Kinder in Russland aufwachsen, sehen dennoch weiterhin ihren Aufenthalt in Russland als zeitlich befristet an und halten sich die Möglichkeit offen, in ihre »historische Heimat« zurückzukehren.

Die Migration ist keine lineare Bewegung in nur eine Richtung – aus Zentralasien nach Russland –, sondern durch kompliziertere Dynamiken geprägt. Parallel zum Migrationsstrom nach Russland existiert eine beträchtliche, zeitlich begrenzte oder dauerhafte Rückkehrmigration. Die Mehrzahl der Migranten pendelt regelmäßig zwischen Herkunfts- und Aufnahmeländern. Eine größere Gruppe plant, mit der Zeit ihre transnationalen Migrationsmuster aufzugeben und dauerhaft in der Heimat zu bleiben. Viele Arbeitsmigranten kehren tatsächlich nach einer Reihe von Auslandsjobs für immer nach Hause zurück, für viele andere bleibt dies ein »Mythos von der Heimkehr«.

Langfristig betrachtet gab es zwei massenhafte Rückkehrbewegungen zentralasiatischer Migranten aus Russland: 2009 und zwischen 2014–2016. Dies hatte mit den beiden Wirtschaftskrisen in Russland zu tun. Bei der ersten Krise im Jahr 2009 verringerte sich die Zahl usbekischer und tadschikischer Migranten nach Einschätzung von Experten um ca. 20 bis 25 %, aber bereits 2010 kehrte sich der Trend wieder um. 2014 begann die zweite Wirtschaftskrise in Russland, die zum Verlust von Arbeitsplätzen führte und zum Verfall des Rubelkurses gegenüber dem US-Dollar, der Hauptwährung für die Überweisungen von Migranten, um fast 200 % (Tabelle 7). Parallel zu den wegen der Krise rückläufigen Einkommen verteuerten sich die Gebühren für die Legalisierung des Aufenthalts und die Arbeitsvermittlung in Russland. Außerdem wurde 2013 die Praxis, Ausländer wegen kleiner Vergehen zu deportieren, verschärft und ein Wiedereinreiseverbot eingeführt. Insgesamt wurden in den Jahren 2013–2016 mehr als 1,8 Mio. ausländische Bürger mit einem Einreiseverbot belegt, fast 400.000 von ihnen waren vorher ausgewiesen oder deportiert worden. Diese Entwicklungen führten dazu, dass 2016 die Zahl der Arbeitsmigranten aus Zentralasien erneut auf 3,4 Mio. sank, also um 21 % (Tabelle 8).

2017 war die Zahl der Arbeitsmigranten wieder im Steigen begriffen. Zunächst betraf dies Kirgistan, wo die Zahl der Migranten in den Jahren 2014–15 ebenfalls gesunken war, aber nicht so stark wie bei seinen Nachbarn. Nach dem Eintritt des Landes in die EEU und der damit verbundenen leichteren Legalisierung wuchs die Zahl kirgisischer Bürger in Russland rasch an und ist bereits höher als vor der Krise. Auch die Zuwanderung aus Tadschikistan und Usbekistan hat wieder an Tempo gewonnen, u. a. wegen einer partiellen Amnestie für Ausländer, die wegen kleiner Vergehen mit einem Einreiseverbot nach Russland belegt worden waren: 2015 wurden kirgisische Staatsbürger amnestiert, 2017 tadschikische. Hauptfaktor für das neuerliche Anwachsen der Migrationsströme ist jedoch die wirtschaftliche Stabilisierung Russlands und das zunehmende Arbeitskräftedefizit auf dem russischen Arbeitsmarkt aufgrund der ungünstigen demographischen Entwicklung. Die Migranten, die den Schock der Krise und die Änderungen der Migrationsvorschriften durchgestanden haben, passen sich nun den neuen Gegebenheiten an.

Fazit

Die gegenwärtige Migration aus Zentralasien nach Russland hat also vor allem einen zirkulären Charakter. Die Bewohner der Region werden aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Probleme in ihrem Herkunftsland zu Arbeitsmigranten; Ziel der überwältigenden Mehrheit ist letztendlich die Rückkehr in die Heimat, mit der sie intensive Beziehungen pflegen. Viele dieser Migranten leben (und arbeiten) oft über Jahre oder gar Jahrzehnte in solch einem transnationalen Geflecht. Sie planen keine endgültige Übersiedlung, sondern passen sich flexibel der wirtschaftlichen Situation sowie den Veränderungen der politischen Regime und der Rahmenbedingungen für Migration sowohl in Russland als auch in ihren Heimatländern an.

Dennoch wird die Tendenz zu einer längerfristigen Ansiedlung in Russland stärker. Immer mehr Migranten sind russische Staatsbürger; sie übersiedeln zunehmend gemeinsam mit ihren Familien nach Russland und ihre Kinder werden hier sozialisiert. Gleichzeitig wächst auch die Zahl der Migranten aus Zentralasien in andere Länder als Russland. All dies wird voraussichtlich in absehbarer Zeit zu einer endgültigen Übersiedlung eines beträchtlichen Teils von Zentralasiaten in neue Aufenthaltsländer und zur Entstehung großer Diaspora-Gemeinden führen. Russland und dann auch die übrigen Länder werden die zentralasiatische Region immer stärker als Herkunfts- und Rekrutierungsländer künftiger Staatsbürger wahrnehmen und immer mehr an ihre Interessen in Zentralasien denken.

Aus dem Russischen von Brigitte Heuer

Lesetipps / Bibliographie

Zum Weiterlesen

Analyse

Harte Zeiten für Arbeitsmigranten. Auswirkungen der globalen Rezession auf die Arbeitsmigration aus Zentralasien und die Rücküberweisungen

Von Brigitte Heuer
Im Herbst 2008 wurden düstere Prognosen hinsichtlich der Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Arbeitsmigration im GUS-Raum gestellt: Der Ausfall der für ihre Herkunftsländer lebenswichtigen Rücküberweisungen zusammen mit dem massenhaften Rückstrom »zorniger junger Männer« nach Zentralasien enthalte großen sozialen Sprengstoff. Der folgende Beitrag zeigt, dass die Vorhersagen sich nicht in diesem Ausmaß bestätigt haben. Dennoch gehören die ArbeitsmigrantInnen und ihre Familien in den Herkunftsländern zu den Hauptleidtragenden des wirtschaftlichen Einbruchs.
Zum Artikel
Analyse

Ethnonationalismus in Kirgistan. Die Ereignisse im Juni 2010

Von Judith Beyer
In Kirgistan ist seit der Unabhängigkeit unter wechselnden Regierungen ein Staat errichtet worden, der sich an der Sprache, an imaginierten Ursprüngen, an der neu geschriebenen Geschichte und an als »typisch kirgisisch« verstandenen Werten und Traditionen orientiert. Andere ethnische Gruppen werden geduldet, aber nicht aktiv in den Prozess der Nationswerdung einbezogen. Der Konflikt zwischen ethnischen Kirgisen und ethnischen Usbeken im Juni 2010 geht daher nach Ansicht der Autorin nicht auf weit in der Vergangenheit liegende historische Unterschiede zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen oder die Problematik der Grenzziehung in der Sowjetzeit zurück. Das Problem liegt vielmehr darin, dass in den letzten zwanzig Jahren kirgisische Ethnizität zum Hauptmarker kirgisischer Staatlichkeit gemacht wurde.
Zum Artikel

Logo FSO
Logo DGO
Logo ZOIS
Logo DPI
Logo IAMO
Logo IOS