In Bezug auf die Funktionsweise seines Herrschaftssystems zählt Turkmenistan wohl zu den spannendsten Forschungsobjekten weltweit. Dies liegt am Höchstmaß des Autoritarismus, grotesk anmutenden Merkmalen personalisierter Herrschaft und der staatlichen Verfügungsgewalt über den hohen Reichtum an Erdgasressourcen. Die Tatsache, dass Turkmenistan dennoch nach wie vor eher ein Schattendasein in der Forschung fristet, ist maßgeblich auf den anhaltend hohen Isolationsgrad des Landes und das ungastliche Umfeld für Feldforschung zurückzuführen. Allerdings ist die Zahl der Publikationen über das Land in den vergangenen Jahren ein wenig gestiegen.
Klassifizierung
Auffällig ist, dass unter Landesexperten teils widersprüchliche Ansichten hinsichtlich der Klassifikation des Herrschaftssystems kursieren. Geleitet durch einen transformationstheoretischen Zugang erkannten einige Forscher insbesondere unter Präsident Saparmurat Nijasow, dem ersten Präsidenten Turkmenistans nach dem Zerfall der Sowjetunion, pfadabhängige Merkmale eines totalitären Regimes. Grund hierfür war der exzessive Personenkult und die Rolle der Ruhnama, der von Nijasow verfassten spirituellen »Anleitung« für alle Turkmenen, die Merkmale einer geschlossenen Weltanschauung aufweist.
Dem steht die Sichtweise gegenüber, dass Staat und Politik in Turkmenistan vor allem durch die Dominanz der individuellen, persönlichen Herrschaft des Präsidenten gekennzeichnet sind, welche groteske Auswüchse zeigt. Politikwissenschaftlich lässt sich aus dieser Perspektive die Zuordnung des Regimes zum Herrschaftstyp des Neopatrimonialismus bzw. Neosultanismus rechtfertigen. [1] Während der Totalitarismus eine Mobilisierung der Bevölkerung voraussetzt, gab es unter Nijasow zwar ausgeprägte Massenbewegungsphänomene, aber diese waren in Wirklichkeit repressiv erzwungen, während die Bevölkerung eigentlich traditionell passiv ist. Auch konnte Nijasows Despotismus erst aufgrund seiner absoluten Machtposition in Form einer von formalem Recht und informellen Netzwerken weitestgehend losgelösten Einpersonenherrschaft zum Tragen kommen.
Wandel?
Ein besonderes Augenmerk der Forschungsliteratur gilt ferner den Veränderungen der Funktionsweise des Herrschaftssystems unter Präsident Gurbanguly Berdymuchammedow, der nach dem Tod Nijasows im Jahr 2007 an die Macht kam. Anfängliche Einschätzungen, welche zumindest eine schrittweise Rücknahme der gröbsten Auswüchse repressiver Herrschaft für möglich hielten, sind weitgehend der Erkenntnis gewichen, dass bis heute ein hohes Maß an Kontinuität überwiegt. Anfängliche Öffnungs- und Liberalisierungshoffnungen keimten dabei entlang kosmetischer Veränderungen, welche vor allem darauf gerichtet waren, Vertrauen und Reputation innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft zu erhöhen. Auf diese Weise sollte die Diversifikation der Absatzmärkte für turkmenisches Erdgas politisch flankiert werden. Doch welche Veränderungen haben sich vor diesem Hintergrund bezüglich der Funktionsweise des Herrschaftssystems seit der Machtübernahme Berdymuchammedows tatsächlich vollzogen?
Nach dem Tod Nijasows wurde die vormals alldominante Rolle der Ruhnama im öffentlichen Leben zurückgenommen. Gleichzeitig verschob sich der Fokus von der Person Nijasows auf die Inhalte des Buches. Informell offenbarte sich in diesem Gesamtkontext ein hohes Maß an Kontinuität. Urheber von Nijasows Personenkult war Viktor Chramow, dessen Zuständigkeit für Propaganda und Ideologie bis in die 1980er Jahre zurückzuverfolgen ist. Nachdem Chramow auch unter Nijasow für Ideologie und Ruhnama-Angelegenheiten verantwortlich war, wurde er nach der Machtübernahme Berdymuchammedows mit der Ausarbeitung eines neuen Propagandakultes beauftragt. Gleichzeitig ist die Ruhnama bis heute ein Herrschaftsinstrument, mittels dessen ein unbegrenzter Führungsanspruch gegenüber der Gesellschaft eingefordert und legitimiert wird.
Dieser dient der maximalen Verfolgung privater Herrschaftsinteressen. Die parallel hierzu betriebene Abschottung der Bevölkerung von globalen Informationsströmen und die niedrige Qualität des nationalen Bildungssystems wirken sich bis heute herrschaftsstabilisierend aus. Gleichzeitig bleibt der Herrschaftszugang auch unter Berdymuchammedow geschlossen und die Herrschaftsstruktur ausschließlich auf den Präsidenten ausgerichtet. Systematische Repression und Willkürmaßnahmen wirken bis weit in den privaten Bereich hinein und unterbinden bis heute jegliche Opposition.
Mithin besteht das Höchstmaß an Repression fort. Bereits der Herrschaftsübergang von Nijasow auf Berdymuchammedow war ein Lehrbuchbeispiel für Machtsicherung mittels Intrigen, Willkür und Repression. Größere Unterschiede bestehen dagegen hinsichtlich der Persönlichkeitsmerkmale des Präsidenten. Zwar verfügt Berdymuchammedow nach allgemeiner Einschätzung nicht über die Eigenschaften Nijasows, welche die Grundlage für das System einer »paranoischen Diktatur« bildeten. Allerdings nimmt der Personenkult seit Jahren wieder zu. Auch wenn dieser bis heute nicht jene fast schon metaphysischen Merkmale von Nijasows Personenkult erfüllt, ist der Endpunkt der Entwicklung offen. So wird zu Recht darauf verwiesen, dass sich Nijasow einst als Freund Gorbatschows bezeichnet hatte. In diesem Sinn füllte er in der Politik des Landes in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit Turkmenistans eine andere Rolle aus, als in den 2000er Jahren, als ihm das Verhalten eines »späten Stalin« zugeschrieben wurde.
Fazit
Die größten Unterschiede zwischen den Herrschaftssystemen Nijasows und Berdymuchammedows betreffen die Ausprägung informeller Herrschaftsmerkmale. Nijasow, der als Waise ohne Familien- bzw. »Clan«-Bindungen aufgewachsen war, verfügte über kein eigenes klientelistisches Netzwerk mit entsprechenden Verwandtschafts- und Freundschaftsverpflichtungen. Dies ermöglichte ihm die Etablierung einer von informellen Bindungen losgelösten Einpersonenherrschaft, im Kontext derer sich Stabilität fast ausschließlich auf den engsten Kreis dreier Vertrauter beschränkte. An die Stelle des vormaligen Einpersonensystems ist unter Berdymuchammedow die Herrschaft eines breiten klientelistischen Netzwerkes getreten. Zwar ist der gegenwärtige Präsident die unangefochtene Führungsfigur mit nahezu absoluter Macht. Gleichzeitig ist er aber seiner Gefolgschaft persönlich verpflichtet. Berdymuchammedows Netzwerk stammt aus dem Gebiet um Gökdepe in der Region Ahal. Im Ergebnis ist an Stelle von Nijasows Willkürherrschaft eine stabilere und berechenbarere Herrschaft getreten. Gleichwohl schließt dies ein Festhalten am Prinzip der Ämterrotation nicht aus, zumal Berdymuchammedows Handeln ganz auf die Sicherung seiner Machtposition innerhalb des Netzwerkes zielt. In der Regel jedoch findet systematische Ämterrotation heute auf unteren Ebenen statt.
Vor allem aus diesem Grund bescheinigen internationale Unternehmen Turkmenistan unter Berdymuchammedow mehr Offenheit, mehr Berechenbarkeit und neue Geschäftschancen. In Wahrheit jedoch sind die politischen Risiken, allen voran Rechtsunsicherheit bzw. fehlender Investitionsschutz, nach wie vor als gravierend einzustufen. Eine nachhaltige Förderung der Privatwirtschaft ist nicht zu erwarten, denn auch die neue Verfassung hält an der Kontrolle des Staates über die Wirtschaft fest. Durch die unternehmerischen Tätigkeiten der Personen aus Berdymuchammedows Netzwerk bestehen jedoch heute breitere Anknüpfungspunkte für internationale Geschäftspartnerschaften. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten gewachsen, die eigenen Geschäftsinteressen und Investitionen informell über persönliche Netzwerke abzusichern.
Letztendlich lassen sich so die vermeintlichen Widersprüche zwischen verschiedenen Kategorisierungen auflösen, denn Turkmenistan zeichnet sich bis heute durch die Verschmelzung unterschiedlicher Herrschaftsmerkmale aus. Weitere Aufschlüsse über die fortdauernde Stabilität des Herrschaftssystems bietet darüber hinaus das Rentierstaatskonzept. Denn der Ressourcenreichtum des Landes ist von größter Bedeutung. Letztendlich liefern die Gaseinkünfte die unabdingbare Grundlage für die Finanzierung eines höchst ineffizienten Wirtschafts- und Herrschaftssystems.
[1] Eine neopatrimoniale Ordnung zeichnet sich durch zwei einander widersprechende, aber gleichzeitig miteinander verwobene Systemlogiken aus: Die formale, geschriebene Ordnung (Verfassung, Gesetze, Verordnungen) konkurriert mit einer informellen, in der Praxis gelebten Ordnung. Die herrschende Elite umgeht zur Verfolgung ihrer Interessen Institutionen und Gesetze entgegen den Prinzipien der Gemeinwohlorientierung (teilweise), wendet sie nur partiell an oder maßschneidert sie im eigenen Sinne. Neosultanismus bezeichnet eine von formalem Recht weitgehend losgelöste, auf Willkür aufgebaute Einpersonenherrschaft.