Kasachstan im Übergangsmodus – Ein Gespräch

Von Beate Eschment (Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Berlin), Sebastian Schiek (Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Berlin)

Zusammenfassung
Jahrelang hat die Bevölkerung Kasachstans wie auch viele ausländische Beobachter die Frage beunruhigt, was geschehen wird, wenn Nursultan Nasarbajew einmal nicht mehr Präsident ist – wobei niemand von einem verfassungsmäßigen, demokratischen Wechsel des Staatsoberhauptes ausging. Seit dem 19. März 2019 haben Ungewissheit und Spekulationen ein Ende, Nasarbajew hat seinen Rücktritt erklärt und den Vorsitzenden des Senats, Kasym-Dschormat Tokajew, als seinen Nachfolger benannt. Dieser trat sein Amt auch an, kündigte aber schon nach drei Wochen Neuwahlen für den 9. Juni 2019 an.
Zwei Kasachstanexperten, Beate Eschment (BE) und Sebastian Schiek (SES), unterhalten sich über Hintergründe und Perspektiven der Veränderungen im größten Land Zentralasiens.

Gestern (23. April 2019) hat die Regierungspartei Nur Otan auf Vorschlag Nasarbajews seinen Nachfolger Tokajew zu ihrem Kandidaten für die bevorstehende Präsidentenwahl erklärt. Warum gerade ihn?

SES: Tokajew ist aus Sicht Nasarbajews der optimale Kandidat, vor allem aus machtpolitischen Gründen. Die politische Elite Kasachstans wird von verschiedenen Machtgruppen dominiert, die um Einfluss in Politik und Wirtschaft ringen, zwischen denen Nasarbajew stets einen Ausgleich schaffen muss. Würde einer der Vertreter dieser Gruppen der nächste Präsident werden, entstünde eine Schieflage in der Machtarchitektur. Tokajew gilt als professioneller Politiker mit viel Regierungserfahrung, er hat aber keine eigene Machtbasis im Land. Nach seiner Zeit als Premierminister war Tokajew vor allem in der Außenpolitik tätig und hat viele Jahre im Ausland verbracht.

BE: Nicht zu vergessen ist, dass er sich bislang absolut loyal gegenüber Nasarbajew verhalten hat. Sein Lebenslauf ist frei von Skandalen. Er ist kein Charismatiker, sondern ein sehr erfahrener Diplomat, der seine Aufgaben bislang geräuschlos bis zur Farblosigkeit erfüllt hat.

Warum hat Nasarbajew sich überhaupt und in dieser Form zum Rückzug entschieden?

SES: Nasarbajew macht sich kurz vor seinem 79. Geburtstag an einen geordneten Rückzug, bevor ihm die Zügel aus der Hand gleiten. Oberstes Ziel ist seine eigene Sicherheit. Als Autokrat in einem stark personalisierten und informellen System musste er schon immer Angst haben, alles zu verlieren. Die erzwungenen Machtwechsel in Kirgistan und Armenien und der plötzliche Tod seines usbekischen Amtskollegen haben ihm diese Gefahr vor Augen geführt. Deshalb hat Nasarbajew zwar formal sein Amt aufgegeben, versucht aber, maximale Macht in den Händen zu behalten. Entscheidend ist sein Zugriff auf den Geheimdienst, dessen Chef ein loyaler Weggefährte ist und dem er als Leiter des nationalen Sicherheitsrates vorsteht, in Verbindung mit der Kontrolle über sein Wirtschaftsimperium.

BE: Es geht Nasarbajew aber nicht nur um sich und seine Familie, sondern auch um einen geordneten, die Stabilität wahrenden Übergang der Macht. Er hat als erster Präsident das unabhängige Kasachstan bis heute entscheidend geprägt und will sein Erbe natürlich gewahrt sehen. Ein freiwilliger Rücktritt rundet das positive Bild, das er von sich überliefert sehen will, ab. Ganz offensichtlich hängt er auch emotional an seinem Amt, seine innere Bewegung war sowohl während seiner Rücktrittsrede als auch auf dem Parteitag nicht zu übersehen.

Folgen die Ereignisse um den Wechsel des Präsidenten einem festen Plan? Wenn ja, wie ist er zu bewerten?

BE: Nasarbajew hat auf dem Parteitag selbst gesagt, dass sein Rückzug einem jahrelang vorbereiteten Plan folgt und meines Erachtens spricht vieles dafür, dass dies den Tatsachen entspricht. Schon seit 2010 hat er sich gesetzlich entscheidende Vollmachten für die Zeit nach seinem Rücktritt gesichert, entscheidend erscheint mir hier vor allem das lebenslange Recht auf den Vorsitz des Sicherheitsrates (2018). Dann wurde die Bevölkerung an den Gedanken gewöhnt, zuletzt durch die im Februar 2019 öffentlich verbreitete Entscheidung des Verfassungsrates, dass Nasarbajew das Recht auf Rücktritt habe. Der Zeitpunkt des Rücktritts überraschte alle, aber der Schritt als solches war erwartet worden. Der Nachfolger ist sorgfältig ausgesucht und soll nun per Wahl durch die Bevölkerung legitimiert werden. Auch das ist in Kasachstan beschlossen worden und nicht, wie manche Beobachter meinen, vom Kreml befohlen. Natürlich entspricht diese Art des Übergangs nicht den uns vertrauten demokratischen Spielregeln, das Vorgehen scheint mir aber in Hinblick auf Wahrung der Stabilität gut durchdacht.

Kann der Plan aufgehen oder warten große Unwägbarkeiten?

SES: Mit seinem Rücktritt hat Nasarbajew die heiße Phase des Machtübergangs eingeläutet. Diese Phase endet nicht mit der Wahl im Juni. Vielmehr kommt jetzt die gesamte Machtarchitektur des Systems in Bewegung. Es ist noch ganz offen, wohin das längerfristig führt. Nasarbajew und seine Familie haben eine unglaubliche Fülle an Befugnissen und Machtressourcen monopolisiert, politischer wie wirtschaftlicher Natur. Bei allem was wir nun sehen werden, geht es auch um die Frage, wie Macht und Herrschaftsbefugnisse zukünftig innerhalb der Elite verteilt werden. Momentan ist die Präsidentenfamilie noch strategisch gut positioniert: Nasarbajew kontrolliert den Sicherheitsrat, Tochter Dariga steht dem Senat vor, Schwiegersohn Timur Kulibajew sitzt an wirtschaftlich wichtigen Hebeln. Früher oder später wird die Familie aber mit Machterosionen zu kämpfen haben.

Was ist von der Wahl zu erwarten?

BE: Ich sehe vor allem ein »Hindernis« für die Realisierung einer geplanten Wahl. Die Bevölkerung Kasachstans ist schon in den vergangenen Jahren, ausgelöst durch die wachsenden sozioökonomischen Probleme des Landes, allmählich aktiver geworden. Der Staat hat aber nicht gelernt, diese Meinungsäußerungen von staatsgefährdenden Aktivitäten zu unterscheiden. Das zeigt sich auch jetzt. Gegen die unvorbereitete und m. E. misslungene Umbenennung der Hauptstadt in Nur-Sultan haben innerhalb von Stunden 35.000 Menschen eine Online-Petition unterzeichnet. Das ist für Kasachstan eine Riesenzahl. Gleichzeitig gab es Aktivisten, die in Astana und Almaty auf der Straße gegen die Umbenennung protestierten – und sofort festgenommen wurden. Ein Plakat beim Almaty-Marathon am 21. April mit der Aufschrift: »Du kannst nicht vor der Wahrheit weglaufen #forafreeelection #Ihaveachoice« brachte zwei Aktivsten 15 Tage Gefängnis ein. Für mich ist nicht die Frage, dass man versuchen wird, Wahlkampf und Wahlergebnis zu »orchestrieren«, sondern mit welchen Mitteln. Der Plan eines stabilitätswahrenden Übergangs geht nur auf, wenn die Situation nicht eskaliert.

SES: Die Orchestrierung fängt ja schon beim »Wahlkampf« an. Bislang gibt es ohnehin nur pro-forma antretende Gegenkandidaten. Keiner wird mit der PR-Maschine der Präsidialadministration mithalten können. Ein Selbstläufer wird aber auch die Wahlwerbung Tokajews nicht werden. Ihm fehlt die Legitimität des Übervaters Nasarbajew. Insbesondere in den urbanen Zentren, wo soziale Medien breit genutzt werden, dürfte Tokajew es schwer haben, gegen Misstrauen, Häme und den Wunsch nach Mitbestimmung anzukommen. Die Durchführung der Wahlen selbst wird gut geplant sein, aber auch hier können noch Stolperfallen auftauchen, z. B. eine äußerst geringe Wahlbeteiligung oder viele Stimmen für einen eventuell noch auftretenden, echten Gegenkandidaten. Wirklich gefährden wird das die Wahl Tokajews zum Präsidenten aber nicht.

Was kann man von Tokajew erwarten, welchen Spielraum hat er überhaupt?

BE: Tokajew ist zwar 15 Jahre jünger als Nasarbajew, aber er gehört damit immer noch der Generation an, die in der Sowjetunion sozialisiert wurde. Deshalb würde ich von ihm keine völlig neuen, bahnbrechenden Modernisierungsideen erwarten. Vor allem hat er unter den augenblicklichen Bedingungen, die ich formal als Doppelherrschaft bezeichnen würde, real aber nach wie vor als Herrschaft Nasarbajews, gar nicht die Möglichkeit für große eigene Initiativen. Allerdings konnte man bereits einige kleinere Äußerungen von ihm hören, die eine gewisse Autonomie erkennen lassen. Zum Beispiel setzte er sich von dem von Nasarbajew verfochtenen Ziel der Dreisprachigkeit der Bevölkerung ab und erklärte, dass es zunächst wichtig sei, dass alle Bürger Kasachisch und Russisch wirklich beherrschen.

Vom heutigen Standpunkt aus halte ich Tokajew für einen Übergangspräsidenten. Der richtige Einschnitt wird erst kommen, wenn ein Vertreter der postsowjetischen Generation Staatsoberhaupt wird. Es ist zu befürchten, dass Kasachstan dann nationalistischer wird, sowohl bei der Vertretung seiner äußeren Interessen als auch gegenüber seinen Staatsbürgern nichtkasachischer Nationalität.

SES: Die Wahl Tokajews verdeutlicht einmal mehr das »System Nasarbajew«. Sicherlich möchte er ein »gutes« Erbe hinterlassen. Dafür Kontrolle abzugeben ist in dem informellen System allerdings keine Option. Tokajew steht insofern zwischen Nasarbajew und den Machtgruppen, das schränkt seinen Handlungsspielraum enorm ein, er kann nicht mit einer charismatischen Idee hervortreten, so wie es Schawkat Mirsijojew in Usbekistan zur Überraschung aller getan hat. Ich denke auch, dass Tokajew ein Übergangspräsident ist. Seine Macht währt nur so lange, wie er unter dem Schutz des Alterspräsidenten steht.

Welche Bilanz kann man bislang von der Herrschaft Nasarbajews ziehen?

SES: Nasarbajew hat Kasachstan in die Unabhängigkeit und durch die schwierigen 1990er Jahre geführt und eine arbeitsfähige Regierung auf die Beine gestellt. Er war von Anfang an ein ambitionierter Präsident, hatte viel vor, orientierte sich dabei an einem modernen Autoritarismus im Stile Singapurs. Bei der Umsetzung seine Ziele und zur Sicherung seiner Macht griff er dann aber doch auf alte Methoden zurück. Stabilität basiert in Kasachstan bis heute auf der Kontrolle »per Hand«, der Aufbau stabiler politischer Institutionen (Justiz, Parlamentarismus, eine verlässliche Nachfolgeregelung) und die wirkliche Bekämpfung der Korruption bleiben Aufgaben für kommende Generationen. Das gleiche gilt für die Wirtschaft. Kasachstan ist bis heute abhängig vom Ölexport. Nasarbajews wichtigstes Projekt, die Diversifizierung der Wirtschaft, ist ihm nicht gelungen.

BE: Ich stimme zu und möchte noch drei Aspekte ergänzen: Erstens ist Kasachstan ein stabiler Staat, dessen Bürger im Vergleich zu den anderen zentralasiatischen Staaten sicher, friedlich und auch immer noch in einem gewissen Wohlstand leben. Zweitens hat Nasarbajew es geschafft, dass die extrem multiethnische Bevölkerung weitgehend friedlich zusammenlebt. Wobei es in beiden Fällen natürlich viele Möglichkeiten gegeben hätte, es noch besser zu machen. Das allergrößte Verdienst Nasarbajews sehe ich in seiner auf Ausgleich und Mäßigung ausgerichteten Außenpolitik, er hat es geschafft, dass Kasachstan zu beiden benachbarten Großmächten, Russland und China, gute Beziehungen hat, aber auch zu praktisch allen anderen Global Playern.

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