Weibliche Sittsamkeit in Zentralasien: Wie Frauen das Schicksal der Nation verkörpern sollen

Von Hélène Thibault (Nur-Sultan)

Zusammenfassung
Wie viele postkoloniale Gesellschaften vor ihnen sind die zentralasiatischen Länder fast 30 Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion noch auf der Suche nach ihrer eigenen nationalen Identität. Sie wenden sich von russischen kulturellen Einflüssen ab und versuchen, ihre nationalen Traditionen der Moderne anzupassen. Doch haben einige dieser Traditionen das Potential, konservative patriarchalische Werte und Verhaltensweisen zu stärken und bedrohen damit die Gendergerechtigkeit. Frauen stehen unter erheblichem Druck, sich an Ideale von Weiblichkeit und Sittsamkeit anzupassen, um so der Forderung nach Bewahrung der nationalen Identität nachzukommen.

Zentralasien stellt in Bezug auf Gendergerechtigkeit ein Paradoxon dar. Die übliche Verknüpfung von positiver wirtschaftlicher Entwicklung und fortschreitender Gendergerechtigkeit trifft hier nicht zu. Die postsowjetischen Staaten Zentralasiens werden hinsichtlich der Gendergerechtigkeit besser bewertet als andere muslimische Länder wie Algerien oder mittelamerikanische Länder wie zum Beispiel Mexiko. Gewöhnlich besteht eine starke Korrelation zwischen der Stellung eines Landes im »Human Development Index« (HDI) und dem »Gender Inequality Index« (GII) eines Landes. Die Länder Zentralasiens stellen hier Sonderfälle dar. Sie sind im HDI insgesamt eher im unteren Bereich angesiedelt (je niedriger die Platzierung, desto schwächer die sozioökonomische Entwicklung) – mit Ausnahme Kasachstans, dem wohlhabendsten Land der Region. Gleichzeitig hält sich der Grad der Genderungerechtigkeit in Grenzen (je niedriger die Platzierung, desto größer die Genderungerechtigkeit). Ein markantes Beispiel ist Tadschikistan mit einem 127. Rang im HDI und einem 69. im GII. Zum Vergleich: Mexiko liegt im HDI auf Platz 74 und nimmt im GII Platz 76 ein, während Algerien im HDI auf Platz 85 und im GII auf Platz 100 liegt.

Das sowjetische Erbe

In Zentralasien nahm die Gleichstellung von Frauen und Männern während der Sowjetzeit durch spezielle politische Maßnahmen wie etwa die Alphabetisierungskampagnen und die Förderung von Vollbeschäftigung für Frauen nach dem Prinzip »gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit« zu. Die Anfänge reichen bis in die frühen Jahre der bolschewistischen Revolution zurück, als die Befreiung der Frau von jahrhundertalter patriarchaler Unterdrückung für die sowjetische Regierung Priorität hatte. In dieser Zeit hatte die Stärkung von Frauenrechten in Zentralasien zwei Ziele: Frauen und Männer sollten die gleichen Rechte haben und – was vielleicht noch wichtiger war – die Stellung der islamischen Geistlichen und religiösen Traditionen sollte geschwächt werden. Der Hudschum, wie die zwangsweise Entschleierung von Frauen genannt wurde (der Begriff bedeutet buchstäblich übersetzt Angriff), provozierte ernsten Widerstand der Bevölkerung vor Ort. Letztendlich führten anhaltender Zwang und Propaganda dazu, dass in den letzten Tagen der Sowjetunion kaum eine zentralasiatische Frau – ausgenommen vielleicht Angehörige der älteren Generation – ihren Kopf verhüllte. Auch wenn sowjetische Frauen viel gewonnen hatten, waren sie doch einer Doppelbelastung ausgesetzt. Sie waren sehr aktiv an ihrem Arbeitsplatz, gleichzeitig aber auch diejenigen, die sich vor allem um den Haushalt zu kümmern hatten. Emanzipation war zwar im öffentlichen Raum erkennbar, nicht aber notwendigerweise im privaten familiären Bereich.

Seit der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Staaten hat eine Vielzahl anhaltender sozioökonomischer Prozesse die Gendergerechtigkeit beeinflusst und überdies die oben erwähnten Errungenschaften der Frauen gefährdet. Der wirtschaftliche Zusammenbruch nach der Auflösung der Sowjetunion, eine gewisse Renaissance des Religiösen und die von westlichen Einflüssen begleitete Globalisierung hatten erhebliche Folgen für die Rolle von Frauen in der Gesellschaft. Vor allem haben die Entkolonisierungs- und Entsowjetisierungsbestrebungen nach dem Zerfall der Union zu einem erneuerten Interesse an einer Förderung von nationalen Traditionen geführt, die auf einer Idealisierung der Vergangenheit beruhen.

Nationales Gewand gegen muslimische und westliche Lebensweise

Dieses Interesse an und die Förderung von nationalen Traditionen wurde durch die Regierungen verstärkt, die damit der Popularität ausländischer islamischer Praktiken zu begegnen versuchten. Letztere hatten auch zu Bekleidungsgewohnheiten geführt, die als den nationalen Traditionen fremd betrachtet wurden. Praktische Schritte zur Bekämpfung fremder islamischer Einflüsse bei gleichzeitiger Stärkung nationaler Bekleidungsgewohnheiten und Kultur sind sowohl in Kasachstan als auch Tadschikistan zu beobachten, wo ein teilweises Verbot des Hidschab eingeführt wurde. 2007 erließ Abdudschabbor Rachmonow, von 2005 bis 2012 tadschikischer Bildungsminister, ein Dekret, das Frauen untersagte, in Bildungseinrichtungen den (Haare, Ohren, Hals und Ausschnitt bedeckenden, die Red.) Hidschab zu tragen. Ende 2010 erreichte das Vorgehen gegen den Hidschab ein neues Niveau, als Rachmonow öffentlich jene Eltern scharf verurteilte, die ihre Kinder zu Mullahs in den Unterricht schickten. Erneut kritisierte er dabei Frauen, die den Hidschab trugen, und ging sogar so weit, sie als »Affen« zu bezeichnen. Auch Männer werden eingeschränkt: Ihnen wird das Tragen langer Bärte und halblanger Hosen verboten, die mit dem Salafismus assoziiert werden, einer konservativen Strömung des Islam, die als feindlich eingeschätzt wird. Während Frauen einerseits beschuldigt werden, extremistische Ideen zu propagieren, wenn sie den Hidschab tragen, werden sie andererseits auch kritisiert, wenn sie sich europäisch kleiden, weil dies »sexy« sei und einen Verrat an den nationalen Werten darstelle. Das Dekret zwang junge Frauen dazu, sich »gemäß ihrer Stellung und den nationalen Traditionen« zu kleiden und »provokante« Kleidung, beispielsweise enge Jeans oder Miniröcke, zu vermeiden. 2018 veröffentlichte das tadschikische Kulturministerium offizielle Bekleidungsvorschriften für Frauen, um Mädchen und Frauen eine Richtlinie an die Hand zu geben, wie sie sich gemäß den nationalen Traditionen zu kleiden haben. Diese Richtlinien sind nicht verbindlich, setzen Frauen jedoch unter Druck, sich gemäß der nationalen Werte zu kleiden. Das wird auch in den Bemerkungen des tadschikischen Präsidenten zum Muttertag 2015 bekräftigt: »[…] es gibt keine größere Sünde als den Verrat an den Eltern und dem Vaterland«.

In Kasachstan hat das Bildungsministerium 2016 mit einer umstrittenen Entscheidung Hidschabs in den Schulen verboten. Der Trend von Minderjährigen mit Hidschab wurde als die nationalen Traditionen bedrohender ausländischer islamischer Einfluss betrachtet. Die Entscheidung, Mädchen in der Schule das Tragen des Hidschab zu verbieten, hat viel Widerstand hervorgerufen. Einige Eltern und Kinder widersetzten sich dem Beschluss des Bildungsministeriums sogar, wurden aber letztlich mit Geldstrafen sanktioniert.

In Turkmenistan und Kirgistan riefen die Frage der Kleidung von Frauen und das neue Interesse an nationalen Traditionen ähnliche Spannungen hervor. Turkmenistan, das für seine extravagante Politik bekannt ist, hat ein (allerdings inoffizielles) Verbot erlassen, dem zufolge Frauen nicht Auto fahren dürfen. Darüber hinaus wurde der Import von Haarfärbemitteln und Nagellacken verboten. Der Präsident, der in der Öffentlichkeit immer mit dunklem Haar zu sehen war, bevorzugt jetzt einen grauen Ton. Das Verbot dürfte aber eher Frauen als Männer betreffen.

In Kirgistan kam es 2016 in der Hauptstadt Bischkek zu einem kurzen Krieg der Plakate. Das erste zeigte zwei Gruppen von Frauen, die eine in traditioneller Tracht mit runden Hüten, die andere Gruppe mit Niqabs, die bis auf die Augen das gesamte Gesicht verdecken. Die Aufschrift des Plakates lautete: »Mein armes Volk. Wohin gehen wir?!«. Wenig später erschien ein ähnliches Plakat, auf dem nun allerdings Frauen zu sehen waren, die T-Shirts und kurze Hosen tragen. Das Plakat warnte vor den Gefahren durch westliche Kleidung. Es enthielt die gleiche Frage: »Mein armes Volk. Wohin gehen wir?!«

Verteidigung der nationalen Identität durch Kontrolle über Frauen

Die Länder Zentralasiens haben auch ungewöhnliche Gesetze in Bezug auf Eheschließungen verabschiedet oder in Planung, mit deren Hilfe die nationale Identität gewahrt werden soll. So wurden in Tadschikistan 2011 Änderungen im Familienrecht vorgenommen, mit denen Eheschließungen mit Ausländern beschränkt wurden. Die bemerkenswerteste Änderung besteht darin, dass der ausländische Ehepartner für den einheimischen Wohnraum in Tadschikistan erwerben muss. Da Ausländer erst nach fünfjährigem Aufenthalt in Tadschikistan zum Erwerb von Immobilien berechtigt sind, erschwert diese Beschränkung die Eheschließung mit einem Ausländer erheblich. In Kasachstan sind die Gesetze noch nicht geändert worden, aber es wird – besonders in den sozialen Netzen – diskutiert, ob Ausländer, die eine Kasachin heiraten, mit einer Steuer belegt werden sollten oder nicht. Die meisten, die sich für ein derartiges Gesetz aussprechen, geben an, dass so die Bewahrung der nationalen Identität Kasachstans unterstützt würde.

Eine noch stärker beunruhigende Entwicklung ist das Phänomen der »Schande-Patrouillen« in Kasachstan. Diese Patrouillen bestehen aus konservativen nationalistischen Männern, die auf Kasachisch als Uyatmen bezeichnet werden. Sie brüsten sich damit, dass sie für den Sieg der Moral sorgen würden. Ihr Hauptziel sind Frauen, die in ihren Augen die Prinzipien anständigen nationalen Benehmens verletzt haben. 2016 erlangte einer dieser Uyatmen Berühmtheit auch in den Medien, weil er eine Frauenstatue in Astana mit einem Schal bedeckte, weil er sie für unsittlich befunden hatte. Das Selfie mit der nun sittlichen Statue, das er in den sozialen Medien postete, verbreitete sich viral, zog heftige Kritik auf sich, fand aber auch einige Unterstützung. In Almaty erhob die Ärztin Asel Bajandarowa ihre Stimme für die Rechte von Frauen und posierte spärlich bekleidet für Hochglanzmagazine. Sie steht plakativ für alles, was die Uyatmen verachten und ist wegen eines Facebook-Kommentars berühmt, in dem sie erklärte, kasachische Frauen sollten sich nicht den »dummen« Bedingungen der traditionellen Gesellschaft unterwerfen müssen. Andere Facebook-Nutzerinnen ahmten Bajandarowas Post nach und protestierten gegen die Empörung der Moralisten. Die meisten Schmähungen und Ächtungen finden zwar online statt, doch hat es auch Fälle gegeben, bei denen Frauen, die als unmoralisch und Schande für die Nation betrachtet werden, im realen Leben eingeschüchtert wurden.

Sere Asylbek, eine neunzehnjährige Sängerin aus Kirgistan, veröffentlichte vor kurzem, im Jahr 2018, einen Videoclip, der sich wegen seines provokanten Inhalts sofort rasend schnell verbreitete. Bis April 2019 wurde das Video 258.000 Mal auf Youtube angeschaut. Dort ist Asylbek mit einem Rock, einem violetten BH und einem schwarzen Blazer darüber zu sehen. Hinter ihr sind junge Frauen in langen Gewändern zu erkennen. Nachdem sie in einen See gesprungen sind, tauchen alle in unterschiedlichen Outfits wieder auf, angefangen von Jeans und Blusen bis hin zu traditionellen Kleidern. Die Botschaft ist emanzipierend, sie ermutigt Frauen zu tragen, was immer sie wollen. Das Video löste in Kirgistan heftige Gegenreaktionen aus. Asylbek erhielt sogar Morddrohungen, weil sie nach Ansicht konservativer Aktivisten die kirgisische Kultur beleidigt hatte. Ihr Vater zeigte sich zwar nicht allzu begeistert von ihrem Ansatz, unterstützte sie aber, indem er selbst eine starke Botschaft in den sozialen Medien postete: »Sere ist meine Tochter. Eine freie Tochter des freien Kirgistan«. Asylbek behauptet, sie sei zu einem Song über Freiheit für Frauen inspiriert worden, nachdem eine junge Kirgisin, die im Mai 2018 entführt worden war, in einer Polizeiwache von ihrem Entführer erstochen wurde, während sie beide unter Beobachtung der Polizei standen. Brautraub ist in Kirgistan zwar illegal, doch real weit verbreitet. In einer Erklärung der Vereinten Nationen vom 31. Mai 2018 heißt es, dass »13,8 % der Frauen unter 24 unter irgendeiner Form von Zwang heiraten«.

Die oben beschriebenen Entwicklungen illustrieren die zunehmende Entwicklung patriarchaler Diskurse und Praktiken in Zentralasien. Das Patriarchat bestimmt das Verhalten, indem es ein binäres Verständnis menschlicher Beziehungen vorgibt, das auf der Annahme beruht, dass Männer und Frauen grundsätzlich verschieden sind. Dabei wird Frauen eine eher private Rolle zugewiesen, und Männern eine eher öffentliche. Das Patriarchat bestimmt, was für Männer und Frauen als angemessenes Verhalten zu gelten hat, wobei Männer stark und aktiv sein sollen, und Frauen schön und demütig. Beide Themen, Schönheit und Demut, sind in Zentralasien in den letzten Jahren besonders prägnant in Erscheinung getreten.

Das Wiederaufleben der Vorstellung, dass das Schicksal der Nation von der Moralität der Frauen abhängt, ist ein erheblicher Rückschritt gegenüber der Befreiung der Frauen zu Zeiten der Sowjetunion. Entsowjetisierung und Nationbuilding erforderten eine Neudefinition und eine Förderung nationaler Traditionen. Diese Prozesse finden im Kontext der Globalisierung statt, was beim Aufbau einer Identität der zentralasiatischen Nationen zu Verzerrungen führt. Einerseits werden islamische Traditionen verschmäht und blockiert, andererseits werden westliche Einflüsse als die Gesellschaft korrumpierend wahrgenommen. Soziale und politische Kräfte in den zentralasiatischen Ländern versuchen zu kontrollieren, wie sich Frauen verhalten und kleiden und verringern damit die Fortschritte, die Frauen in früheren Zeiten erreicht hatten. Der Druck von Seiten des Staates mittels der Durchsetzung seiner Gesetze und von Seiten der Gesellschaft (was in manchen Fällen auch Gewalt umfasst), droht die hohen GII-Werte der zentralasiatischen Länder sinken zu lassen. Wir sehen aber auch, dass es in Zentralasien Frauen gibt, die aufstehen und kämpfen, um Autonomie und Verfügungsgewalt über ihren Körper (wieder) zu erlangen.

Fazit

Die hier beschriebenen Fälle lassen nationalistische Tendenzen erkennen, die sich sowohl gegen westliche, als auch gegen islamische Einflüsse richten. Diese Rückwendung zum Konservativen ist nicht unbedingt religiös begründet, sie wurzelt in einer konservativen nationalen und traditionalistischen Bewegung, die die Reinheit der jeweils lokalen Kultur wiederherzustellen sucht. Ein Arzt aus Almaty formulierte es gegenüber »Eurasianet« folgendermaßen: »Wenn ein Mann verderbt ist, zerstört das die Familie. Ist eine Frau verderbt, zerstört es die Nation«. Die Kleidung von Frauen symbolisiert die authentische Natur der Nation und sie dient als Instrument, um streng religiöse Verhaltensweisen und liberale westliche Werte zu delegitimieren. Die relativ repressiven politischen Verhältnisse in der Region, die durch einen paternalistischen Stil der Regierungsführung gekennzeichnet sind, stellen in Bezug auf Empowerment für alle eine Barriere dar, insbesondere allerdings für Frauen. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass die Kleidung von Frauen auch in westlichen Gesellschaften reglementiert wird. In Frankreich hat die Regierung 2016 Frauen verboten, in islamischer Badekleidung, die den gesamten Körper verdeckt (sogenannten Burkinis), öffentliche Strände zu nutzen. Die Regierung der kanadischen Provinz Québec hat gerade ein Gesetz verabschiedet, das Beschäftigten im öffentlichen Dienst (Polizisten, Richtern, aber auch Lehrern) untersagt, religiöse Symbole jedweder Art zu tragen. Das Gesetz soll zwar in Bezug auf sämtliche Religionen gelten und diverse religiöse Attribute betreffen (beispielsweise Kruzifixe, Kippas, Turbane oder Schleier), es wird aber meist als ein Anti-Hidschab-Gesetz verstanden. In vielen Ländern ist der weibliche Körper weiterhin Schauplatz politischer Auseinandersetzungen, die die Handlungsfreiheit von Frauen und ihre Fähigkeit, Lebensentscheidungen zu treffen, untergraben.

Aus dem Englischen von Hartmut Schröder

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