Die »Verborgene Pandemie«: Häusliche Gewalt gegen Frauen in Kirgistan

Von Asylai Akisheva (Koç Universität, Istanbul)

Zusammenfassung
Mit dem Beginn des Lockdowns im Frühjahr 2020 stiegen die Fälle von häuslicher Gewalt in Kirgistan auf ein Rekordhoch. 2020 wurden im Vergleich zum Vorjahr 47 % mehr Fälle registriert, die Dunkelziffer dürfte höher liegen. Der Balanceakt zwischen Infektionsschutz und Gewaltprävention scheint zu misslingen: Ausgangssperren sahen keine Ausnahmeregelungen für Oper häuslicher Gewalt vor und die Quarantänemaßnahmen untersagten Krisenzentren die weitere Aufnahme von Schutzsuchenden. Beides führte zu einer Verschärfung der Notlage vieler betroffener Frauen. Dennoch scheint das Thema häusliche Gewalt in Kirgistan aktuell verstärkt ins öffentliche Bewusstsein zu rücken, nicht zuletzt durch neue Initiativen. Landesweite Aufmerksamkeit erregte die Misshandlung einer Frau in Suzak durch ihren Ehemann. Der Fall verdeutlicht auch die sozioökonomische Abhängigkeit der Opfer in Gewaltfällen.

Staatliche Maßnahmen gegen häusliche Gewalt: Ein Kampf gegen Windmühlen?

Die Politik des kirgisischen Staates zur Prävention von häuslicher Gewalt lässt sich in internationale Verpflichtungen und nationale Bemühungen aufteilen. So ist Kirgistan einer Reihe von internationalen Menschenrechtsvereinbarungen beigetreten, welche u. a. den Schutz von Frauen und Mädchen vor Diskriminierung und Gewalt zum Ziel haben. Darunter fallen:

  • die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women, CEDAW, 1979) und deren freiwilliges Zusatzprotokoll (1999),
  • der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt, 1966),
  • der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt, 1966),
  • das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention, 1989),
  • das Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (Palermo-Konvention, 2000),das Protokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels (2000).

Allerdings ist Kirgistan bis heute nicht der sogenannten Istanbul-Konvention beigetreten, die in ihrer Form als internationaler Vertrag mit umfassendem Rechtsrahmen eines der wichtigsten Mittel im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt ist.

Unter die nationalen Bemühungen fällt ein im Jahr 2017 verabschiedetes Gesetz zum Schutz von Frauen gegen häusliche Gewalt. Durch das Gesetz wurde ein rechtlicher Mechanismus geschaffen, um von staatlicher Seite gegen häusliche Gewalt vorgehen zu können. Das Gesetz umfasst drei wesentliche Bestimmungen:

  • den staatlich garantierten Schutz von Frauen vor physischer Gewalt sowie psychischem oder wirtschaftlichem Missbrauch,
  • die Verpflichtung der Polizei, Kontaktverbote zu erlassen und Anzeigen über häusliche Gewalt auch dann aufzunehmen, wenn sie nicht von den Opfern selbst eingereicht wurden, sowie
  • die Regelung von Hilfsangeboten für Betroffene. Hierzu zählen Möglichkeiten für rechtliche, medizinische, psychologische und soziale Beratung und Unterstützung.

Bereits vor der Pandemie wurden praktische Maßnahmen ergriffen, um die Bestimmungen des Gesetzes umzusetzen. Allerdings sind nichtstaatliche Krisenzentren nach wie vor die einzigen existierenden Strukturen, die Opfern häuslicher Gewalt wirkliche Unterstützung bieten. Häufig sind die Hilfsmöglichkeiten der Zentren aufgrund mangelnder finanzieller Ressourcen und fehlendem Personal jedoch begrenzt. Grundsätzlich gehört der Schutz von Opfern häuslicher Gewalt in den Kompetenzbereich öffentlicher Institutionen, in kirgisischen Dörfern etwa in den der Aksakale, der »Dorfältesten«. Statistiken (http://stat.kg/ru/news/okolo-85-procentov-obrativshihsya-v-2019-godu-po-faktam-semejnogo-nasiliya-zhenshiny/) zeigen jedoch, dass sich Betroffene deutlich seltener an sie wenden als an die Krisenzentren.

Die Regierungsmaßnahmen sowie das Engagement verschiedener NGOs legen nahe, dass der Kampf gegen häusliche Gewalt in Kirgistan zunehmend ernst genommen wird. Dennoch kann kein Rückgang der häuslichen Gewalt im Land festgestellt werden: Laut dem letzten vor der Pandemie veröffentlichten nationalen Zwischenbericht im Rahmen der CEDAW blieben die Fallzahlen im Schnitt in etwa konstant. Nach Einführung des neuen Gesetzes stiegen die Fallzahlen laut Nationalem Statistikkomitee von 7.005 Fällen im Jahr 2016 auf mehr als 7.300 Vorfälle im Jahr 2017. Im Folgejahr 2018 wandten sich 8.730 Menschen an die Krisenzentren oder andere spezialisierte Institutionen, der Großteil von ihnen Frauen (78 %). Zudem wurden 62 Frauen durch häusliche Gewalt getötet und weitere 288 verletzt.

Ein Blick in die Statistik von 2020 zeigt, dass die gemeldeten Fälle seit Beginn der Pandemie stark ansteigen. Zwischen Januar und März 2020 stieg die Zahl der gemeldeten Fälle um 65 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. 95 % der Opfer waren Frauen. Der Statistik zufolge war die Hauptstadt Bischkek besonders stark von der Gewaltwelle betroffen. Das Büro des Stadtkommandanten von Bischkek meldete für den Zeitraum zwischen dem 24. März und dem 24. April 2020 162 Fälle, was einem Anstieg um 62 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum entspricht.

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Das Innenministerium sprach für das Jahr 2020 von einem Rekordhoch von insgesamt 9.025 Fällen (https://rus.azattyk.org/a/31060795.html), von denen lediglich 947 vor Gericht landeten. Die Zahlen zeigen einen alarmierenden Anstieg innerfamiliärer Gewalt, wobei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist, besonders was Frauen in ländlichen bzw. entlegenen Gebieten des Landes angeht. Aufgrund der dortigen Dominanz traditioneller und religiöser Strukturen sind sie einer ohnehin erhöhten Vulnerabilität ausgesetzt, die durch die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie noch größer wurde. Anderseits gibt es weniger Möglichkeiten und große Hindernisse für sie, sich nach Gewalterfahrungen innerhalb der Familie an entsprechende Stellen zu wenden, wo die Fälle registriert werden. Weitere besonders gefährdete Gruppen sind Frauen mit Behinderung, deren ökonomische Abhängigkeit von ihren Familienangehörigen besonders stark ist. Dies gilt auch für Jugendliche, insbesondere Kinder von Arbeitsmigrant:innen, die verstärkt physischem Missbrauch ausgesetzt waren.

Gründe für die zunehmende häusliche Gewalt in Pandemiezeiten

Seit Beginn der Pandemie ist die Gewalt in den Familien stark gestiegen, u. a. da mögliche Ausweichmöglichkeiten für Gewaltopfer entfielen. Die Einstellung öffentlicher Verkehrsmittel bedeutete für schätzungsweise ein Drittel der Frauen eine massive Einschränkung ihrer Mobilität. Insbesondere Frauen in abgelegenen Gegenden konnten Krisenzentren in Notfällen dadurch nicht mehr erreichen.

Der Zusammenbruch des internationalen Flugverkehrs sowie geschlossene Grenzen brachten die saisonale Arbeitsmigration zum Erliegen. Ein Großteil der Arbeitsmigrant:innen rutschte in die Arbeitslosigkeit, was auch für die häusliche Sicherheit zahlreicher Frauen Konsequenzen hatte: Der psychische Druck, dem die gestrandeten Arbeitsmigrant:innen ausgesetzt waren, entlud sich nicht selten in Gewaltausbrüchen gegenüber den eigenen Familienangehörigen.

Während der Pandemie war wiederholt zu beobachten, dass Frauen aus Angst vor einer Infektion medizinische Untersuchungen verweigerten, bei denen ein physischer Missbrauch beweiskräftig festgestellt werden sollte. Viele Frauen schreckten, auch aus mangelndem Vertrauen in die Behörden, vor einer Anzeige bei der Polizei zurück. Betroffene kennen ihre gesetzlich verankerten Rechte häufig nicht oder sind wirtschaftlich von ihren Peinigern abhängig, weshalb sie oftmals dazu neigen, ihnen zu vergeben. Der konkrete Einfluss dieser Faktoren auf die einzelne Situation hängt auch vom Bildungsgrad der Betroffenen ab. Als trauriges Exempel für die beschriebenen Aspekte von häuslicher Gewalt dient ein Fall in der Region Suzak: Dort hängte ein Mann Autoreifen um den Hals seiner Ehefrau, schlug sie mehrfach, übergoss sie mehrfach mit Wasser und stellte ein Video seiner Tat ins Internet. Nachdem die betroffene Frau die Polizei verständigt hatte, vergab sie ihrem Mann später. Dieser wurde anschließend zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Nachdem mehrere Fälle dieser Art bekannt geworden sind, diskutierte das kirgisische Parlament über verschiedene Möglichkeiten, härter gegen häusliche Gewalt vorzugehen. Im Januar 2021 wurde das Gesetz von 2017 erweitert, sodass die Täter in jedem Fall auch dann bestraft werden, wenn ein Vergebungsschreiben des Opfers vorliegt.

Krisenzentren und Hotlines

Während des ersten Lockdowns im März und April 2020 mussten die Krisenzentren schließen. Die Maßnahme sollte die Bewohnerinnen vor einer möglichen Infektion durch neu aufgenommene Frauen schützen. Hierauf versuchten Krisenzentren, schutzsuchende Frauen bei ihren Verwandten unterzubringen. In ländlichen Regionen zählen Krisenzentren zu den wenigen Orten, wo Frauen in Notsituationen geholfen wird. Während der ersten Pandemiewelle mussten diese Zentren auf Online-Beratungen ausweichen. Psychologische und rechtliche Beratungen wurden per E-Mail oder über soziale Netzwerke wie Facebook oder Instagram durchgeführt.

Von den fünfzehn nichtstaatlichen Krisenzentren im Land können nur zwei (jeweils eines in Bischkek und Osch) eine Notunterbringung in den eigenen Räumlichkeiten anbieten. Die übrigen Krisenzentren haben keine eigenen Kapazitäten zur Unterbringung und müssen, soweit es ihre finanziellen Mittel zulassen, externe Räumlichkeiten anmieten. Während des Ausnahmezustands der ersten Corona-Welle im Frühjahr 2020 wurden lediglich fünf Einrichtungen, die der Vereinigung der Krisenzentren angehören, staatlich unterstützt. Sie bekamen durchschnittlich 600.000 kirgisische Som (KGS), umgerechnet etwa 8.000 US-Dollar. Bis Mai 2020 wurde keines der Krisenzentren durch internationale Organisationen unterstützt. Sie verfügten also kaum über finanzielle Ressourcen und konnten deshalb weder genug Personal einstellen noch Räumlichkeiten mit einer ausreichenden Anzahl an Betten mieten.

Immerhin konnten die Hotlines weiterbetrieben werden, die in allen Regionen des Landes Opfern häuslicher Gewalt eine erste Anlaufstelle bieten. Nach Angaben der Vereinigung der Krisenzentren riefen während des Lockdowns innerhalb eines Monats etwa 700 Opfer häuslicher Gewalt an, von denen viele zusätzlich an Lebensmittelmangel litten. Als im Herbst 2020 die zweite Welle begann, konnten die Hotlines bereits auf Erfahrungen mit den Problemen der Anruferinnen während der ersten Welle zurückgreifen und einen darauf basierenden Leitfaden für den Umgang mit Notsituationen erstellen.

Kontaktverbote und Ausgangsbeschränkungen

Während des Lockdowns erließen die kirgisischen Polizeibehörden zahlreiche Kontaktverbote. Allein in den ersten drei Monaten von 2020 wurden mindesten 2.319 Kontaktverbote wegen häuslicher Gewalt ausgesprochen, 72 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Bis Oktober 2020 hatte sich ihre Gesamtzahl laut dem Ministerium für Arbeit und soziale Entwicklung auf mehr als 7.000 erhöht.

Offiziell gab es für Opfer häuslicher Gewalt während des Lockdowns keine Ausnahmen von den scharfen Ausgangsbeschränkungen. Allerdings wurden keine Verhaftungen von Frauen in Notsituationen wegen Verstößen gegen Infektionsschutzmaßnahmen gemeldet. Menschenrechtsaktivist:innen und einzelne Parlamentsabgeordnete verlangten im April 2020 sofortige Maßnahmen, um die Betroffenen besser zu schützen. Infolgedessen wurde die Strafprozessordnung des Landes um einen Zusatz erweitert, der es der Polizei seitdem ermöglicht, mutmaßliche häusliche Gewalttäter 48 Stunden lang festzuhalten.

Zugang zu gerechten Verfahren und Gesundheitsversorgung

Mehrere Gerichte in der Hauptstadt Bischkek und in den Regionen Osch, Dschalalabad und Tschui stellten zwischen dem 30. März und dem 30. April 2020 ihre Arbeit ein, als in ihren Amtsgebieten strikte Ausgangssperren verhängt wurden. Zudem wurden Ermittlungsarbeiten unterbrochen, u. a. da Tatorte nicht mehr besucht werden konnten. Hierdurch spitzte sich die schwierige Situation vieler Opfer häuslicher Gewalt weiter zu, da sie nun kaum mehr Möglichkeiten besaßen, rechtliche Unterstützung zu erhalten und ihre Rechte vor Gericht geltend zu machen. Letzteres ist für kirgisische Frauen, die Opfer von Gewalt geworden sind, nicht erst seit Beginn der Pandemie schwierig. Ihr Zugang zu gerechten Verfahren wird durch Geschlechterstereotype erschwert und sie sind während der juristischen Aufarbeitung oftmals sekundärer Viktimisierung ausgesetzt. In diesem Zusammenhang hat sich die juristische Situation von Opfern häuslicher Gewalt auch während der zweiten Pandemiewelle im Herbst 2020, als die Gerichte uneingeschränkt weiterarbeiten konnten, nicht verbessert.

Viele von häuslicher Gewalt betroffene Frauen – vor allem, wenn sie besonders vulnerablen Gruppen angehörten – hatten während des Lockdowns im Frühjahr 2020 kaum Zugang zu grundlegenden Ressourcen und Dienstleistungen wie medizinischer Schutzausrüstung, Hygieneprodukten, sanitären Einrichtungen, ärztlicher Versorgung oder sozialen Diensten. Selbst Wasser und Nahrungsmittel waren häufig knapp.

Maßnahmen gegen die »Pandemie häuslicher Gewalt«

Im Hinblick auf Maßnahmen zur Bekämpfung der häuslichen Gewalt in Kirgistan seit Beginn der Pandemie ist die neu ins Leben gerufene »Spotlight« – Initiative nennenswert. Die im Mai 2020 gestartete Initiative ist eine Kollaboration zwischen dem kirgisischen Ministerium für Arbeit und soziale Entwicklung und den Vereinten Nationen.

Mit der Initiative wurden weitere Schritte zugunsten einer besseren Prävention von häuslicher Gewalt und einer effizienteren strafrechtlichen Verfolgung von Tätern unternommen. Künftig sollen neben psychologischen, medizinischen und rechtlichem Beratungsstellen auch die finanziellen Hilfen für bereits existierende Krisenzentren und Präventionskampagnen aufgestockt werden. Zudem brachte die Initiative auch einen Leitfaden über die Schaffung von »Safe Spaces« heraus. Diese »Safe Spaces« sollen als Alternativen zu den Krisenzentren, welche momentan keine Schutzsuchenden mehr aufnehmen können, dienen. Von Gewalt betroffene Frauen werden dabei, u. a. auch mithilfe von Spenden aus der Wirtschaft, in Mietwohnungen untergebracht, bis eine dauerhafte Unterkunft für sie gefunden wird. Außerdem wurden zur Koordinierung dieser Form der Unterbringung in sämtlichen Regionen des Landes temporäre Krisenzentren eröffnet.

Ab Juni 2020 erhielten die Krisenzentren zusätzliche internationale Unterstützung. Die United States Agency for International Development (USAID) förderte im Rahmen des Projektes »Jigerduu Jarandar« (»Aktive Gemeinschaften«) elf Krisenzentren im Land, um Opfer häuslicher Gewalt mit Unterkünften, Hygienematerialien und Nahrungsmittelpaketen, sowie finanziellen, psychologischen und rechtlichen Hilfsangeboten zu versorgen. Mittlerweile wurden die ersten Projekte dreier Krisenzentren in den Regionen Issyk Kul, Osch und Tschui abgeschlossen, im Rahmen derer 776 Einzelpersonen und 136 gefährdeten Haushalten geholfen werden konnte. Bis Dezember 2020 konnten alle elf Krisenzentren zusammen 1.580 Betroffenen helfen.

Unter den international geförderten Projekten stach besonders »Tatyktuu Zhashoo« hervor. Das von der unabhängigen Organisation »International Alert« unterstützte Projekt versucht innerhalb religiöser Gemeinden, über Möglichkeiten der Prävention von Gewalt gegenüber Frauen und Kindern aufzuklären. Dazu wurde im Dezember 2020 eine Schulung mit Vertreter:innen aller religiösen Gruppen des Landes veranstaltet. Religiöse Autoritäten sollen in ihren Gemeinden über das Verbot geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung aufklären und einen Leitfaden erstellen, wie in den Gemeinden Beratungsangebote für die Opfer von innerfamiliärer Gewalt etabliert werden können. Gegenwärtig arbeitet das Projekt daran, den Interessen von Frauen und Kindern aus religiösen Gruppen durch Ausarbeitung eines Nationalen Aktionsplans 2021–2023 mehr Gehör zu verschaffen.

Vom 25. November bis 10. Dezember führte Kirgistan anlässlich des Internationalen Tags für die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen eine sechszehntägige Kampagne gegen die »Pandemie häuslicher Gewalt« durch, die sich aus unterschiedlichen Informationsveranstaltungen und symbolischen Aktionen zusammensetzte. Zum Beispiel wurde mit Unterstützung von USAID und der International Development Law Organization (IDLO) für Richter ein Online-Seminar zu geschlechtsspezifischen Verbrechen angeboten. Im Rahmen der Kampagne wurden für das Jahr 2021 zudem 40.000 US-Dollar des kirgisischen Staatshaushalts für den Aufbau staatlicher Krisenzentren bereitgestellt. Sie sollen innerhalb der nächsten zwei Jahre in Bischkek entstehen. Auf Initiative des Bürgermeisterbüros werden momentan »mobile Eingreifgruppen« etabliert, die bei Vorfällen von geschlechtsspezifischer Gewalt in der Hauptstadt und ihren Vororten besonders schnell vor Ort sein sollen. Diese Gruppen setzen sich u. a. aus Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen und Vertreter:innen der jeweiligen Bezirksabteilungen für innere Angelegenheiten zusammen.

Ausblick

Die Problematik der häuslichen Gewalt in Kirgistan hat sich im Zuge der Pandemie bzw. der mit ihr einhergehenden Ausgangsbeschränkungen rasant verschärft und im Laufe des Jahres 2020 einen Höchststand erreicht. Die Initiativen von Regierung, NGOs, Medien, Krisenzentren und das 2017 verabschiedete Gesetz verdeutlichen, dass der Kampf gegen häusliche Gewalt in Kirgistan an Fahrt aufgenommen hat. Trotz dieser Bemühungen sollte das ungebrochen hohe Ausmaß der häuslichen Gewalt in Kirgistan jedoch nicht verkannt werden.

Die Krisenzentren sind weiterhin die einzigen wirklich verlässlichen Hilfsangebote im Land, doch noch immer auf die Finanzierung durch verschiedene Organisationen angewiesen. Die Problematik familiärer Missbrauchsfälle hat für die Regierung noch immer keine hohe politische Priorität. Dies zeigt sich anhand der begrenzten Staatshaushaltsmittel, die für die Durchsetzung der entsprechenden Gesetze zur Verfügung gestellt werden und auch anhand der geringen Anzahl staatlicher Institutionen, die sich mit Geschlechterfragen befassen. Am 24. Februar 2021 wurde das landesweit erste staatliche Krisenzentrum in Bischkek eröffnet, weitere staatliche Zentren existieren noch nicht.

Offizielle Statistiken erscheinen lückenhaft, da sie größtenteils nur die polizeilich gemeldeten Fälle erfassen. Aus den vorliegenden Daten ergibt sich eine auffällige Verteilung, da die meisten Fälle häuslicher Gewalt in Bischkek gemeldet wurden, nicht jedoch in den ländlichen Regionen Kirgistans. Das scheint zunächst der Annahme zu widersprechen, dass Frauen auf dem Land stärker gefährdet sind. Hier könnte allerdings der Einfluss von Traditionen und religiösen Überzeugungen sowie die geringere Bildung eine Rolle spielen: Frauen auf dem Land sind zwar stärker von häuslicher Gewalt bedroht, wenden sich jedoch seltener an die Polizei. Aufgrund fehlender Aufklärung und einer weit verbreiteten Ignoranz innerhalb lokaler Polizeibehörden geht der Staat oftmals nur sehr ineffektiv gegen Fälle von häuslicher Gewalt im ländlichen Kontext vor.

Eine engere Zusammenarbeit von NGOs und staatlichen Institutionen könnte sich positiv auf den Kampf gegen häusliche Gewalt auswirken. Neben der Notwendigkeit, Geschlechterfragen politisch stärker zu berücksichtigen, braucht es mehr Maßnahmen, um Gewalttaten zu verhindern und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Eine umfassende Strategie muss jedoch auch Maßnahmen beinhalten, welche die wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen fördern, das Wissen über die eigenen Rechte erhöhen, zu einem Wandel problematischer Verhaltensnormen beitragen und ein allgemein stärkeres Bewusstsein für die Rechte von Frauen schaffen.

Aus dem Englischen von Armin Wolking

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