Stimmen internationaler Expert:innen zum tadschikisch-kirgisischen Grenzkonflikt im April 2021

Zusammenfassung
Am 28. April brach im bevölkerungsreichen Ferghanatal der bislang schwerste Grenzkonflikt zwischen Kirgistan und Tadschikistan aus. Übereinstimmenden Medienberichten zufolge kam es zu den Auseinandersetzungen, nachdem tadschikische Beamt:innen eine Überwachungskamera an der Wasserverteilstation »Golownoy« installierten. Diese wird von kirgisischen und tadschikischen Zivilist:innen gemeinsam genutzt und liegt in der Nähe des kirgisischen Dorf Kok-Tasch (Gebiet Batken) sowie des tadschikischen Dorfes Chodschai A'lo (Gebiet Sughd). Kirgisische Anwohner:innen versuchten, den Mast, an dem die Videokamera befestigt war, abzusägen. Hierauf eskalierte der Konflikt weiter und entwickelte sich zu einer militärischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Staaten. Die deutsch-französische Nachrichtenseite NOVASTAN (https://novastan.org/de/kirgistan/ueber-40-tote-bei-zusammenstoessen-an-der-kirgisisch-tadschikischen-grenze/) berichtet hierzu: »Am frühen Morgen des 29. April eskalierte der Konflikt weiter. Die kirgisische Nachrichtenagentur AKIPress berichtet mit Verweis auf die kirgisische Polizei, dass tadschikische Bürger mit Schusswaffen eine kirgisische Militäreinheit im Dorf angegriffen hätten. Laut kirgisischem Grenzschutz kam es am selben Morgen im Gebiet um Kotscho-Boju ebenfalls zu einem Zwischenfall mit Waffeneinsatz. Diese ersten Schusswechsel verschärften die Lage: Streitkräfte beider Länder stießen laut AKIPress entlang eines umstrittenen Grenzabschnitts zusammen. Ein am Ort des Geschehens aufgenommenes Video zeigt einen Einsatz kirgisischer Soldaten, die von der lokalen Bevölkerung unterstützt werden. »Die Soldaten der Kirgisischen Republik eröffneten heute um 13:05 Uhr das Feuer auf die Soldaten der Grenztruppen der Republik Tadschikistan auf dem Gelände der Wasserverteilungsstelle Golownaja«, beschrieben die tadschikischen Behörden die Situation nach Angaben von Asia-Plus. AKIPress schrieb hingegen von einem Angriff der tadschikischen Armee auf mehrere kirgisische Grenzeinrichtungen am Nachmittag des 29. April: »›Gegen 17.00 Uhr eröffnete die tadschikische Seite das Feuer an den Grenzaußenposten Kaptschygaj, Ming-Bulak, Dostuk sowie an den Grenzposten Kodschogar und Bulak-Baschy. Durch Mörserbeschuss wurde das Gebäude des Grenzaußenpostens Dostuk des Grenzkommandos Batken in Brand gesetzt‹, so die kirgisischen Behörden.« Hierauf folgte eine schnelle politische Entspannung, nachdem die Außenminister beider Staaten noch am Abend des 29. Aprils telefonisch eine Waffenruhe vereinbarten. Laut kirgisischer Seite wurde diese jedoch im Verlauf der Nacht mehrmals von tadschikischer Seite aus gebrochen. Nach einer Übereinkunft zwischen dem GNKB-Vorsitzenden Tadschikistans und dem Gouverneur des Gebiets Batken verlassen die Truppen das Gebiet bis zum 3. Mai. Kirgistans Präsident Sadyr Dschaparow und sein tadschikischer Amtskollege Emomali Rachmon bekräftigten am 30. April ihre Absicht, den Konflikt ausschließlich durch friedliche Mittel lösen zu wollen. Dschaparow und Rahmon wollen bereits in der zweiten Mai-Hälfte persönlich über eine langfristige Lösung der Situation konsultieren [Anm. der Redatkion: Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Ausgabe (Mitte Juni 2021) ist noch kein Treffen zustande gekommen]. Die kurzen aber heftigen Kämpfe haben nach vorläufigen Angaben auf kirgisischer Seite 36 und auf tadschikischer Seite 18 Menschenleben gefordert. Zudem beklagen mehrere kirgisische Ortschaften massive Schäden. Auf der kirgisischen Seite wurden mindestens 190 weitere Personen verletzt, einige von ihnen schwer. Aus Tadschikistan werden 88 Verwundete gemeldet. Mehr als 44.000 Personen wurden durch das kirgisische Notfallsituationsministerium aus dem Konfliktgebiet evakuiert. Angesichts wiederkehrender Konflikte in den Grenzgebieten des Ferghanatals war es diesmal vor allem die hohe Opferzahl, das Ausmaß der Gewalt und Zerstörung sowie der massive Einsatz von Kriegswaffen, der diesen von vorherigen Vorfällen ähnlicher Art unterscheidet. Weitere Details zu den Ereignissen können Sie auch den Chroniken Tadschikistans sowie Kirgistans entnehmen (ab Seiten 22 und 25). Die folgende Auswahl an Zitaten soll einen Überblick darüber geben, wie internationale Regionalexpert:innen den Grenzkonflikt bewerten und welche Schlüsse sie aus der militärischen Auseinandersetzung für die zukünftige Stabilität und Sicherheit Zentralasiens ziehen. Auf der Suche nach den Konfliktmotiven sind die Expert:innenstimmen im Tenor recht einheitlich: Nicht-markierte Grenzabschnitte, die Qualität der lokalen Regierungsführung, (klimawandelbedingter) Wassermangel, Bevölkerungswachstum und nicht zuletzt die populistische Politik der Staatsoberhäupter.

Wir übernehmen die folgenden Einschätzungen mit freundlicher Genehmigung ihrer Urheber:innen beziehungsweise der zuständigen Redaktion oder Organisation.

Rostam Onsori

Auseinandersetzungen an der kirgisisch-tadschikische Grenze drohen außer Kontrolle zu geraten

United States Institute of Peace, 04.05.2021

https://www.usip.org/publications/2021/05/border-clash-between-kyrgyzstan-and-tajikistan-risks-spinning-out-control

Von Gavin Helf, Ph.D.

Der jüngste Konflikt begann mit einem Streit über eine Wasserentnahmestelle an der kirgisisch-tadschikischen Grenze nahe Kok-Tasch in der Provinz Batken. Es ist fast ein Jahrzehnt her, dass mir ein lokaler Beamter in einem Dorf nahe Kok-Tasch erzählte, sie seien sich absolut sicher, dass die Tadschiken nachts die Grenzmarkierungen um ein paar Fuß verschieben würden – ein Ausdruck des tiefen Misstrauens, das in der Region herrscht. Dieses Misstrauen führt dazu, dass selbst die banalsten Reparaturarbeiten an Straßen oder anderer Infrastruktur als Versuche erscheinen können, sich einen Vorteil zu erschleichen. Anfang April wurden von kirgisischer Seite Arbeiten an der Wasserentnahmestelle durchgeführt. Am 28. April versuchte jemand von der tadschikischen Seite eine Überwachungskamera zu installieren, vermutlich um die Nutzung der gemeinsamen Ressource durch die Kirgisen zu überwachen. Der Fall ist ein Beispiel dafür, wie Open-Source-Technologie und lokale Initiative nach hinten losgehen können.

[…]

Wahrscheinlich werden die Gefechte dem politischen Kalkül der Regierenden in die Hände spielen, die damit in der öffentlichen Meinung punkten wollen. Kirgistan und Tadschikistan gehören zu den am stärksten von Remissen abhängigen Volkswirtschaften der Welt. Infolge der Covid-19-Pandemie haben beide Länder einen dramatischen Rückgang der Remissen, die Arbeitsmigranten aus Russland zurücksenden, erlebt. Zudem stehen beide politischen Führungen zuhause wegen ihres Fehlmanagements der Gesundheitskrise unter Druck. Sie haben sich deshalb nationalistische und populistische Stimmungen zunutze gemacht und äußere Feinde gesucht.

[…]

Die Originalversion dieses Textes wurde von der Redaktion der Zentralasien-Analysen übernommen und übersetzt.

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking

Frieden in Zentralasien am Abgrund

Crossroads Central Asia, 04.05.2021

https://www.crossroads-ca.org/peace-on-the-brink-in-central-asia/

Von Shairbek Dzhuraev

[…]

Wie sehr die Konfliktparteien an einer Deeskalation interessiert sind, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. Die Gefechte haben zwar aufgehört, allerdings ist es unwahrscheinlich, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden und für Gerechtigkeit gesorgt wird. Die zwei Länder vertreten unterschiedliche Narrative des Konflikts. Um festzustellen, was tatsächlich geschehen ist, bräuchte es eine umfassende Untersuchung der Vorfälle, der sich wahrscheinlich jedoch mindestens eine der beiden Seiten widersetzen würde. Tadschikistan möchte keine Verantwortung für die Angriffe auf Zivilisten und die Zerstörung von Dörfern in Leilek übernehmen. Das militärisch überrumpelte Kirgistan wird es vorziehen, weitere Auseinandersetzungen zu vermeiden, statt für Gerechtigkeit zu sorgen. Erstmal sind sie nun mit der Aufgabe konfrontiert, den Bewohnern eine Rückkehr in ihre Ortschaften zu ermöglichen und die zerstören Häuser wiederaufzubauen.

[…]

Erneut wurde der Frieden gebrochen. Nun stellt sich die Frage, was getan werden sollte – und was getan werden kann. […] Für die kirgisischen und tadschikischen Gemeinden führt kein Weg daran vorbei, weiter nebeneinander zu leben und dasselbe Wasser, dieselben Straßen und Märkte zu nutzen. Die Menschen in der Region haben Jahrhunderte lang friedlich zusammengelebt, aber die politischen Verhältnisse und der Nationalismus lassen die Erinnerung daran zunehmend verblassen. Ganze Generationen sind damit aufgewachsen, entgegen aller Freundschaftsrhetorik bloß regelmäßig wiederkehrende Kämpfe ums Überleben erfahren zu haben.

Mit dem Konflikt der letzten Woche hat sich die Unsicherheit in der Region weiter verstärkt. In der näheren Zukunft werden wohl beide Länder versuchen, ihre Grenzen weiter zu festigen und wechselseitige Abhängigkeiten so weit wie möglich zu beseitigen. Auf lange Sicht brauchen sowohl Kirgistan als auch Tadschikistan kompetente Regierungen, die fähig sind, die Probleme anzugehen, die für die Menschen in der Region besonders akut sind. Sie müssten zudem verantwortungsvolle Mitglieder der regionalen und internationalen »Gemeinschaft« von Staaten werden, die sich den gemeinsamen Regeln und Normen bewusst sind und auch danach handeln.

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking

Gewaltsame Zusammenstöße an der problembeladenen Grenze zwischen Kirgistan und Tadschikistan

The Diplomat, 04.05.2021

https://thediplomat.com/2021/05/violent-clashes-at-the-troublesome-kyrgyzstan-tajikistan-border/

Von Catherine Putz

[…]

Die jüngsten Gefechte passen in ein Muster, das sich zunehmend verschlimmert. Dabei treffen ungeklärte Grenzfragen auf beiden Seiten auf Nationalismus und schlechte Regierungsführung, was zu Gewaltausbrüchen führt. Eine weitere Facette, auf die regionale Beobachter in den sozialen Medien hingewiesen haben, besteht darin, dass die kirgisische Seite im Kampf um die Deutungshoheit dank ihrer aktiveren und freieren Presse mehr Gewicht hat.

[…]

Angesichts der bisherigen Geschichte ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es in der Zukunft zu weiteren Auseinandersetzungen kommen wird, und es besteht erhebliches Potenzial einer unbeabsichtigten Eskalation des Konflikts. Die dafür bestehenden Voraussetzungen – ein schon lange bestehender Unmut der lokalen Bevölkerungen gegenüber ihren Nachbarn, mit denen sie um den Zugang zu begrenzten Ressourcen, vor allem Wasser, konkurrieren – werden nicht verschwinden.

[…]

Eine Lösung, die die Menschen auf beiden Seiten der Grenze zufriedenstellen würde, ist kaum vorstellbar. Auch dass Rahmon oder Dschaparow ihre als Brandbeschleuniger wirkenden nationalistischen Tendenzen mäßigen werden, ist schwer vorzustellen.

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking

Was sind die Gründe für die tödlichen Zusammenstöße an der kirgisisch-tadschikischen Grenze?

Novastan, im Gespräch mit Parwiz Mullodschonow, 05.05.2021

https://novastan.org/de/kirgistan/was-sind-die-gruende-fuer-die-toedlichen-zusammenstoesse-an-der-kirgisisch-tadschikischen-grenze/

Von Clara Marchaud

[…]

Das Problem ist, dass sich die demografische Situation ändert, aber die Karten diesen Änderungen seit den 1920er Jahren nicht mehr folgen. Die Tadschiken folgen der Karte von 1924–1929, als es keine Enklave Woruch gab. Die zwischen der Enklave und Tadschikistan lebende nomadische kirgisische Bevölkerung wurde angesiedelt. Daher wurde Woruch de facto eine Enklave mit tadschikischer Bevölkerung. Der Besitz von Wasser- und Landressourcen wurde von den sowjetischen Behörden geregelt und es gab keinen signifikanten Unterschied. Das System der Wasserversorgung berücksichtigte nicht die territoriale Aufteilung der ethnischen Gruppen. Während der Sowjetunion war dies zunächst kein Problem, aber aufgrund der wachsenden Bevölkerung auf beiden Seiten, insbesondere auf der tadschikischen Seite, wurden die Land- und Wasserressourcen zu einer Spannungsquelle.

[…]

Der Klimawandel spielt hier wahrscheinlich eine Rolle, da dieses Jahr weniger Wasser im Tortkul-Stausee vorhanden ist. Das Problem mit dem Wasser besteht aber seit Jahren, da der Wasserbedarf mit dem Bevölkerungswachstum wächst. Außerdem begann die Bevölkerung Reis anzubauen. Der ist rentabler, braucht aber mehr Wasser. Zu guter Letzt ist das sowjetische Bewässerungssystem nicht sehr effizient und erfordert dauerhafte Investitionen. Es wäre möglich, dieses Bewässerungsproblem durch den Bau einer neuen und effizienten Infrastruktur zu lösen, aber das wäre sehr teuer. Einige internationale Organisationen versuchen, die Probleme mit umstrittenem Land durch die Finanzierung neuer Infrastrukturen zu lösen. Sie verfügten jedoch nicht über genügend Mittel, um dies entlang der ganzen Grenze zu tun. Es wäre das Beste, aber es gibt weder Mittel dafür noch politischen Willen auf beiden Seiten.

[…]

Ich denke nicht, dass es einen großen Krieg geben wird, da keine Seite über die wirtschaftlichen Ressourcen dafür verfügt, insbesondere angesichts der Pandemie. Meiner Meinung nach werden sowohl Bischkek als auch Duschanbe versuchen, den Konflikt erneut einzufrieren, möglicherweise mithilfe eines internationalen Vermittlers wie Russland oder Usbekistan. Usbekistan war bereits in Verhandlungen verwickelt. Es hat Angst vor einem großen Konflikt in der Region, da in Kirgistan eine usbekische Minderheit lebt.

[…]

Die aktuellen Anfeindungen zwischen Kirgistan und Tadschikistan: Kommentare von Dzhuraev, McGlinchey, Markowitz und Schatz

PONARS Eurasia, 06.05.2021

https://www.ponarseurasia.org/the-current-hostilities-between-kyrgyzstan-and-tajikistan-commentary-by-dzhuraev-mcglinchey-markowitz-and-schatz/

Eric McGlinchey

[…]

Die Zunahme der Gewalt lässt sich möglicherweise damit erklären, dass der tadschikische Staat sich neuerdings gestärkt fühlt. Das selbstbewusste Auftreten des tadschikischen Staates gegenüber Kirgistan speist sich aus zwei Quellen. Erstens resultiert es aus der Schwäche des kirgisischen Staates, der momentan wahrscheinlich schwächer ist als je zuvor. Kirgistans neuer Präsident Sadyr Dschaparow saß noch vor neun Monaten im Gefängnis. Sein kometenhafter Aufstieg vom Gefängnisinsassen zum Präsidenten sorgt bei vielen Kirgis:innen für Misstrauen. Wenig überraschend hat Dschaparow zudem eine Einschüchterungskampagne gegen Kritiker:innen seines Regimes gestartet. In den letzten Monaten stieg die Zahl der Einschüchterungsversuche, denen unabhängige Journalisten, zivilgesellschaftliche Aktivisten und Akademiker seitens staatlicher und nicht-staatlicher Akteure ausgesetzt waren, spürbar an. Tadschikistans Präsident Emomali Rahmon besitzt einige Erfahrung in Sachen Opposition gegenüber seinem eigenen Regime. Er weiß sehr genau, dass Dschaparows Verhalten ein Zeichen der Schwäche, nicht der Stärke des kirgisischen Regimes ist.

Zweitens mag Rahmons selbstbewusstes Auftreten auch daran liegen, dass das tadschikische Militär erst im April groß angelegte Truppenübungen gemeinsam mit Russland durchgeführt hat. Auch Kirgistan kooperiert militärisch mit Moskau – so befindet sich in Kirgistan zum Beispiel der russische Luftwaffenstützpunkt Kant –, allerdings haben die beiden Länder nie gemeinsam solche groß angelegten militärischen Manöver abgehalten, wie die von Moskau und Duschanbe zwischen dem 19. und 23. April in Tadschikistan durchgeführten Übungen, an denen mehr als 50.000 Soldaten teilnahmen. Die Kombination aus beidem – die jüngste, gemeinsam mit Russland geprobte Machtdemonstration Tadschikistans und die Legitimationsprobleme des kirgisischen Regimes im eigenen Land – stellt womöglich einen tieferliegenden, wenn auch weniger sichtbaren Grund für die ungewöhnlich tödliche Gewalt dar, die Ende April an der kirgisisch-tadschikischen Grenze ausbrach.

Edward Schatz

Viele tödliche Faktoren sind hier zusammenkommen – unter anderem Ressourcenknappheit, Unklarheiten angesichts einer komplexen und umstrittenen Grenze, und die abgelegene Lage weit weg von der Macht des Zentralstaats. Was in den Analysen jedoch nicht übersehen werden sollte, sind die sich verändernden internationalen Kräfteverhältnisse. Was die momentane Situation besonders gefährlich macht, ist die entschiedene Abkehr von Normen, die auf gemeinsamen, stabilitätsstiftenden Regeln der Zusammenarbeit beruhen.

In Tadschikistan baut das Regime von Rahmon seine wirtschaftlichen Beziehungen mit China und seine militärischen Beziehungen mit Russland weiter aus (…). Noch kennen wir die wirklichen Beweggründe des Regimes für den aktuellen tödlichen Konflikt nicht. Man sollte sich jedoch klarmachen, dass sowohl China als auch Russland im letzten Jahrzehnt auf eklatante und unverhohlene Weise gegen grundlegende internationale Normen verstoßen haben (Menschenrechtsnormen und Normen der territorialen Integrität und Souveränität). Das ist das Fahrwasser, in dem Tadschikistan nun schwimmt.

[…]

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking

Gibt es Gewinner im Krieg an der kirgisisch-tadschikischen Grenze?

Carnegie Moscow Center, 19.05.2021

https://carnegie.ru/commentary/84569

Von Temur Umarov

[…]

Sie [Emomali Rachmon und Sadyr Dschaparow] werden ihre Differenzen wahrscheinlich nicht überwinden können. Weder wirtschaftlich noch politisch ist momentan ein günstiger Augenblick für Kompromisse. Dschaparow wird seine nationalistische Rhetorik nicht mäßigen und Rahmon möchte bald die Macht an seinen Sohn übergeben, weshalb es für ihn kein guter Zeitpunkt ist, um Zugeständnisse zu machen.

[…]

Bemerkenswerterweise hat kein Drittland die Rolle eines Verhandlungsführers in Vermittlungsgesprächen zwischen den beiden Konfliktparteien übernommen. Sowohl die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit als auch die russische Regierung haben lediglich mitgeteilt, dass sie die Situation genau beobachten. Der usbekische Präsident Shawkat Mirziyoyev hat mit den Präsidenten beider Länder telefoniert, Kasachstan und Iran haben in begrenztem Maße Hilfe angeboten, und China – der größte Wirtschaftspartner sowohl Tadschikistans als auch Kirgistans – hat sich gar nicht zu den Vorfällen geäußert.

[…]

Der größte Gewinner der Eskalation ist Rahmon. Er hat mit diesem kleinen Krieg gezeigt, dass sein Regime immer noch in der Lage ist, das Land zu mobilisieren, wenn Gefahr droht. Seine gestiegene Popularität wird ihm bei der baldigen Machtübergabe an seinen Sohn behilflich sein.

Im Gegensatz dazu hat sich Dschaparows Ruf durch den Ausgang des Krieges weiter verschlechtert, nachdem er bereits vorher angeschlagen und scheinbar nicht in der Lage war, seine Wahlversprechen zu erfüllen. Sein Image ist das eines tapferen Nationalisten, was seine Außenpolitik zunehmend unberechenbar macht. China und Russland sind im Augenblick zu mächtig, als dass er eine Konfrontation mit ihnen riskieren würde. Dafür befinden sich nun die zentralasiatischen Nachbarn direkt in seiner Schusslinie. Die Gefechte an der Grenze haben gezeigt, welche unvorhersehbaren Folgen populistische Aussagen haben können, besonders in einer Region, in der Politiker:innen nicht vor Nationalismus zurückscheuen. Dschaparow kann sich nicht darauf verlassen, dass ihm jemand von außen zur Hilfe kommt. Niemand ist bereit, für ihn ein Risiko einzugehen, sieht es doch so aus, als könne er sich wahrscheinlich ohnehin nicht mehr lange als Präsident halten.

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking

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Analyse

Harte Zeiten für Arbeitsmigranten. Auswirkungen der globalen Rezession auf die Arbeitsmigration aus Zentralasien und die Rücküberweisungen

Von Brigitte Heuer
Im Herbst 2008 wurden düstere Prognosen hinsichtlich der Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Arbeitsmigration im GUS-Raum gestellt: Der Ausfall der für ihre Herkunftsländer lebenswichtigen Rücküberweisungen zusammen mit dem massenhaften Rückstrom »zorniger junger Männer« nach Zentralasien enthalte großen sozialen Sprengstoff. Der folgende Beitrag zeigt, dass die Vorhersagen sich nicht in diesem Ausmaß bestätigt haben. Dennoch gehören die ArbeitsmigrantInnen und ihre Familien in den Herkunftsländern zu den Hauptleidtragenden des wirtschaftlichen Einbruchs.
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Analyse

Ethnonationalismus in Kirgistan. Die Ereignisse im Juni 2010

Von Judith Beyer
In Kirgistan ist seit der Unabhängigkeit unter wechselnden Regierungen ein Staat errichtet worden, der sich an der Sprache, an imaginierten Ursprüngen, an der neu geschriebenen Geschichte und an als »typisch kirgisisch« verstandenen Werten und Traditionen orientiert. Andere ethnische Gruppen werden geduldet, aber nicht aktiv in den Prozess der Nationswerdung einbezogen. Der Konflikt zwischen ethnischen Kirgisen und ethnischen Usbeken im Juni 2010 geht daher nach Ansicht der Autorin nicht auf weit in der Vergangenheit liegende historische Unterschiede zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen oder die Problematik der Grenzziehung in der Sowjetzeit zurück. Das Problem liegt vielmehr darin, dass in den letzten zwanzig Jahren kirgisische Ethnizität zum Hauptmarker kirgisischer Staatlichkeit gemacht wurde.
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