Pamir: Berg-Badachschan (VMKB) und afghanisch Badachschan vis-à-vis
Die Autonome Provinz Berg-Badachschan (tadschikisch: Wilojati Muchtori Kuhistoni Badachschon, VMKB [Um Verwechslungen zu vermeiden, wird die Autonome Provinz Berg-Badachschan im Folgenden mit der Abkürzung VMKB bezeichnet, während mit »Badachschan« oder der »Provinz Badachschan« im Rahmen dieses Textes ausschließlich die afghanische Provinz Badachschan gemeint ist.]) grenzt unmittelbar an die gleichnamige afghanische Provinz Badachschan. Ähnlich wie im Falle des tadschikischen Pamirs ist diese kulturell als auch geographisch vom restlichen Afghanistan isoliert: Ihre Bewohner:innen sind größtenteils ismailitische Schiit:innen, die eine Reihe von Pamirsprachen sprechen, welche sich von Dari deutlich unterscheiden. Die beiden Ausreißer sind der darisprachige und sunnitische Distrikt Darwas sowie der Wachankorridor, wo sunnitische Kirgis:innen leben. Die Bewohner:innen Badachschans waren durch ihre abgeschiedene Lage lange sowohl von den urbanen Regionalzentren Faizabad und Kunduz als auch der afghanischen Hauptstadt Kabul abgeschnitten. Erst in den 2000er-Jahren wurde mit dem Aufbau einer lokalen Infrastruktur begonnen, um die Grenzgebiete mit dem Rest des Landes und dem Nachbarland Tadschikistan zu verbinden. Wie ein langjähriger Mitarbeiter des ismailitschen Aga Khan Development Network (AKDN) – der wichtigsten Nichtregierungsorganisation für Entwicklungsarbeit vor Ort – mir im Juli 2021 erklärte: »Vielleicht hätten wir diese Ergebnisse [die Entwicklung der afghanischen Grenzdistrikte] auch erreicht, wenn es die grenzüberschreitende Zusammenarbeit nicht gäbe, wahrscheinlich aber erst nach 50 oder 60 Jahren. Ich denke, dass die gemeinsame Grenze mit Tadschikistan den Prozess beschleunigt hat.«
Beim genaueren Blick auf die afghanische Region Badachschan fallen zwei entscheidende Besonderheiten auf: Zum einen haben sich die Grenzdistrikte bisher durch ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher religiöser und linguistischer Gemeinschaften ausgezeichnet. Zum anderen haben sie dank ihrer Nähe zu Tadschikistan auch ein gewisses Entwicklungsniveau erreicht. Als die Taliban in den Grenzgebieten ankamen, mussten sie sich an die lokalen Besonderheiten anpassen. Außerdem waren sie das erste Mal mit den dort lebenden Menschen konfrontiert. Diese hatten noch nie zuvor auch nur einen einzigen Talibankämpfer gesehen. Es muss jedoch beachtet werden, dass die Taliban in den Distrikten Darwas, Nusai, Kufab und Khawan bereits seit Mitte 2018 einzelne Dörfer, nicht aber die Verwaltungszentren, unter ihre Kontrolle gebracht hatten. In die Distrikte Scheghnan, Ischkaschim und Wachan hingegen drangen die Taliban erst im Zuge ihrer Machtübernahme im Sommer 2021 vor.
Tadschikistan schloss seine Grenzen zu Afghanistan bereits am 28. Februar 2020, fast anderthalb Jahre vor der Machtübernahme der Taliban. Während die meisten zentralasiatischen Republiken mit den Taliban über Kooperations- und Anerkennungsmöglichkeiten verhandeln, geht Tadschikistan einen Sonderweg: Das Regime verurteilt die Taliban-Herrschaft und zeigt bislang keine Bereitschaft zur Kooperation mit den neuen Machthabern in Kabul. Zudem ist sich die tadschikische Regierung bewusst, welchen Einfluss die Gemeinden beiderseits der Grenze aufeinander haben, weshalb sie sich bisher nicht dazu durchringen konnte, die Grenzübergänge wieder zu öffnen. Dadurch wurde ein Wiederaufleben produktiver Beziehungen zwischen den afghanischen und tadschikischen Grenzgemeinden verhindert. Weil die tadschikischen Behörden sich weigern, die Taliban als legitime Regierung Afghanistans anzuerkennen, bleibt eine Wiederaufnahme der grenzüberschreitenden Aktivitäten fürs Erste undenkbar. Anders als in der westlich der Grenze zu Afghanistan gelegenen tadschikischen Provinz Chatlon sind die Grenzbewohner:innen der VMKB stärker auf den grenzüberschreitenden Austausch angewiesen. Deshalb hat sich der Aufstieg der Taliban nicht nur in den afghanischen Grenzgebieten, sondern auch in den tadschikischen Grenzgebieten der VMKB auf das Alltagsleben ausgewirkt.
Die Taliban in Badachschan: Ein historisches Ereignis
»Ich habe es noch immer deutlich vor Augen. Am 5. Juli 2021 betraten die Taliban zum ersten Mal in der Geschichte mein Dorf. Ich werde mich an dieses Datum für den Rest meines Lebens erinnern.« An dieser Schilderung eines 36 Jahre alten Afghanen lässt sich die historische Tragweite der Ankunft der Taliban entlang der nördlichen Grenze Afghanistans ermessen. Als die Taliban zwischen 1996 und 2001 zum ersten Mal Afghanistan beherrschten, stand die gesamte Provinz Badachschan unter der Kontrolle der oppositionellen Nordallianz, die bewaffneten Widerstand gegen das Talibanregime leistete. Damals blieben die Grenzdistrikte von der Gewalt der Taliban verschont, wie sie aus anderen Teilen Afghanistans bekannt war. In den abgelegenen Grenzgebieten war die Zentralregierung weder physisch noch politisch präsent. Für ihre Einwohner:innen waren die Taliban eine fremde Realität, die sie nur aus dem Radio kannten, der einzigen Nachrichtenquelle zu jener Zeit.
Anfang Juli 2021 drangen die Taliban zum ersten Mal in die Grenzdistrikte ein, und stießen dabei auf keinen Widerstand. Mehr als 1.000 afghanische Streitkräfte waren bereits nach Tadschikistan geflüchtet, sodass sich in dem Gebiet keine Militär- oder Polizeieinheiten mehr aufhielten, um es zu verteidigen. Auch die lokale Bevölkerung beteiligte sich nicht an gewaltsamem Widerstand, wie er in anderen Teilen Afghanistans zu beobachten war, wo selbstorganisierte Bürgermilizen gegen die Taliban kämpften. Ein paar Stunden nach ihrer Ankunft hissten die Taliban ihre offizielle weiße Flagge über den Distriktverwaltungen, Grenzbrücken und Grenzübergängen. Dann trafen sie sich mit der lokalen Bevölkerung, den Dorfältesten und den Leiter:innen von Kliniken und Entwicklungsprogrammen, um ihnen zu versichern, dass sie keine Gewalt anwenden würden, und das Leben weiter seinen gewohnten Gang gehen könnte – jedoch nach ihren Regeln. Diese Regeln betreffen vor allem Frauen. Sie müssen ihr Gesicht und ihren Körper nach den Vorstellungen der Taliban bedecken, einen männlichen Verwandten als Begleitperson haben, und dürfen nicht mehr Seite an Seite mit Männern zusammenarbeiten – auch wenn es sich um ihre Kollegen handelt. Entlang der Grenze hat es solche strengen Vorschriften bisher noch nie gegeben.
Im Gegensatz zu verschiedenen Bildern, die in den Medien verbreitet wurden und aus anderen Regionen Afghanistans stammten, gehören körperliche Misshandlungen von Talibangegner:innen in den Grenzgebieten nicht zum Alltag. Der allererste Fall, der von dort gemeldet wurde, ereignete sich Monate nach der Übernahme der Region in der Nähe von Ischkaschim, als ein flüchtender Mann durch Talibankämpfer getötet wurde. In manchen Distrikten dürfen Mädchen weiterhin die Schule besuchen und Frauen können arbeiten gehen, solange sie die strengen Anweisungen der Taliban befolgen. Viele der Talibankämpfer, die in den Grenzgebieten die Kontrolle übernommen haben, stammen selbst aus Badachschan. Von Einheimischen wurde das als ein Grund genannt, warum sie sich ihnen gegenüber so ruhig verhielten. Diese Kämpfer seien mit dem Zusammenleben der unterschiedlichen Gruppen in den Grenzgebieten vertraut und hätten deshalb kein Interesse daran, es zu zerstören. Es kann jedoch trotzdem nicht geleugnet werden, dass das neue Regime ein bedrohliches Lebensumfeld entlang der Grenze schafft.
Früher hörten wir Musik vom anderen Flussufer
Neben der Einführung geschlechtsspezifischer Regeln fingen die Taliban sehr schnell damit an, als Regierungsbeamte aufzutreten, um ihre fehlende formale Autorität zu kompensieren. So trieben sie Steuern ein und verlangten Berichten zufolge von LKW-Fahrern aus Chatlon Transitgebühren, da der letzte sich noch in Betrieb befindliche Grenzübergang unter ihrer Kontrolle ist. In der VMKB breiten sich Gerüchte aus, dass die Taliban die Märkte an den Grenzen wieder öffnen wollten, von der tadschikischen Regierung jedoch eine Absage erhalten hätten. Einheimische berichten auch, dass alltägliche Probleme wie Kleinkriminalität oder der Konsum von Alkohol und Drogen von den neuen Machthabern eingedämmt wurden. Ein Einwohner/eine Einwohnerin von Porschinew, einem kleinen, grenznahen Ort auf der tadschikischen Seite, erzählte mir im Juli 2021: »Früher hörten wir Musik vom anderen Flussufer und sahen die Menschen auf der afghanischen Seite ununterbrochen tanzen und lachen. Seitdem die Taliban gekommen sind, herrscht dort absolute Ruhe. Weder hören wir Afghan:innen, noch sehen wir sie, außer ein paar Älteren und den Taliban mit ihren langen Bärten und Turbanen.«
Die Taliban verfolgen jedoch im afghanischen Badachschan und entlang der nördlichen Grenze keine einheitliche Politik. Die Regeln scheinen sich von einem Distrikt zum Nächsten zu unterscheiden. So wurden zum Beispiel in der Gegend von Kunduz Menschen aus ihren Häusern vertrieben, während aus den östlichen Grenzgebieten keine Vorfälle dieser Art bekannt sind.
Die trügerische Stille, die man in den Grenzgebieten beobachten kann, setzt die Menschen einem starken psychischen Druck aus. Das wirtschaftliche Überleben der meist armen Grenzgemeinden wird bereits durch die Covid-19-Pandemie und den damit einhergehenden Grenzschließungen bedroht. Vor diesem Hintergrund sorgen die teilweise sehr hohen Pflichtabgaben bei den Menschen vor Ort für Beunruhigung. Sie befürchten, dass das neue Steuersystem die Armut noch verstärken wird und die Versorgung mit essenziellen Gütern gefährden könnte. Unter anderem deshalb flohen im Juli 2021 dreihundertsiebzig ethnische Kirgis:innen aus dem Wachankorridor nach Tadschikistan. Angesichts der kürzlich erlassenen Beschränkungen der Rechte von Frauen stellt sich zudem die Frage, welche Konsequenzen es langfristig haben wird, wenn die Frauen vor Ort keine Möglichkeit mehr besitzen, unter vernünftigen Bedingungen ihrer Arbeit nachzugehen. Wie sollen zum Beispiel weibliche Patientinnen eine ordentliche Behandlung erhalten, wenn immer ein Mann anwesend sein muss? Auch auf der tadschikischen Seite der Grenze sind solche Befürchtungen zu spüren. Dort müssen die an der Entwicklung grenzüberschreitender Programme beteiligten Mitarbeiter:innen nun auf den täglichen Austausch mit den Menschen in Afghanistan verzichten, während sie sich um die Angehörigen ihrer ethnischen Gruppen sorgen, die auf der anderen Seite des Grenzflusses leben. Diese Sorge ist in den Grenzgebieten Tadschikistans weitverbreitet.
Welche Konsequenzen hat die schwierige Lage an der Grenze für die Menschen in Tadschikistan?
Ob in den sozialen Medien oder in zufälligen Gesprächen mit Einwohner:innen der tadschikischen Grenzgebiete, immer wieder stößt man auf ein tiefes Mitgefühl gegenüber den Menschen in Afghanistan. Die Vorstellungen vieler Tadschik:innen von Afghanistan haben sich seit Beginn des grenzüberschreitenden Austauschs in den 2000er-Jahren deutlich gewandelt: Galten Afghan:innen früher als ungebildet und rückständig, werden sie nun als Angehörige der eigenen ethnischen Gruppe gesehen, die eine ähnliche Religion und Sprache besitzen. Nachdem sie jahrelang einen Krieg nach dem anderen und nun die erneute Machtübernahme der Taliban erdulden mussten, werden sie von vielen Tadschik:innen als »arme Menschen« (tadschikisch: bichora) betrachtet, die schon viel zu lange unter politischer Instabilität zu leiden hätten. Wer mit Verwandten auf der anderen Seite der Grenze im Kontakt steht, ist in Sorge um sie und fragt sich, wann das nächste Mal ein Familientreffen möglich sein wird.
Auf einer allgemeineren Ebene haben sich die Grenzschließungen massiv auf das Leben der Menschen in den Grenzgebieten ausgewirkt. Sie müssen nun auf all die Vorteile verzichten, die ihnen das Leben an der Grenze bisher bot. Die Aussetzung des grenzüberschreitenden Handels schlägt sich in den Preisen für Grundnahrungsmittel wie Gemüse oder Speiseöl auf den lokalen Märkten der VMKB nieder. Seitdem die Grenze geschlossen ist, sind sie rasant in die Höhe geschossen. Allerdings sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Kirgistan seit dem Grenzkonflikt im Mai 2021 die Grenzen bis heute ebenfalls teilweise geschlossen hält und der Warenverkehr im Vergleich zum Vorjahr dadurch deutlich ausgebremst wurde. Auch die vom AKDN geförderte medizinische Mobilität wurde durch die Pandemie und die Ankunft der Taliban massiv beeinträchtigt. Im Rahmen der grenzüberschreitenden Programme der Aga Khan Health Services, einer Unterorganisation des AKDN, konnten medizinische Fachkräfte aus Tadschikistan in Afghanistan Patient:innen behandeln, und bekamen dafür zur Belohnung ein höheres Gehalt, als sie in Tadschikistan erhalten hätten. Afghanische Patient:innen hatten zudem in schweren Notfällen die Möglichkeit, im Aga-Khan-Gesundheitszentrum in Chorog, der Hauptstadt der VMKB, behandelt zu werden. Dabei stellten die Mitarbeiter:innen der Aga Khan Health Services sicher, dass sie problemlos einreisen konnten. Während in den Jahren zuvor Hunderte Notfallpatient:innen aus den afghanischen Grenzdistrikten in Tadschikistan behandelt wurden, waren es 2020 aufgrund der Grenzschließung nur noch vier. Die einzige Form grenzüberschreitenden Austauschs, die nicht so stark von den politischen Unruhen in Afghanistan betroffen zu sein scheint, ist die Energieversorgung.
In den tadschikischen Grenzgebieten klagen die Menschen über die geschlossene Grenze. Einige vergleichen sie sogar mit der Zeit des Bürgerkriegs von 1992 bis 1997, als man wenigstens, wie ein Einwohner von Ischkaschim mir erzählte, »die Grenze überqueren und Sachen mit Afghanistan austauschen konnte.« Mit der Pandemie und der Machtübernahme der Taliban brachen die grenzüberschreitenden Kontakte ab. Viele Menschen entlang der Grenze sind mit dieser Situation sehr unzufrieden.
Eine weitere, oft unterschätze Auswirkung der Nachbarschaft mit einem von den Taliban kontrollierten Land zeigt sich in den Reaktionen einiger Bürger:innen Tadschikistans. Ende August boten Hunderte Männer aus der an die VMKB angrenzenden tadschikischen Provinz Chatlon an, sich dem Widerstand anzuschließen und ihm eine größere Aufmerksamkeit in den lokalen Medien zu verschaffen. Als ich ein paar Wochen später mit einem Freund aus dem Wachantal über die aktuelle Lage diskutierte, erzählte auch er mir, dass er, wie viele andere Menschen in seinem Ort, losziehen möchte, um zu kämpfen. Seine Entscheidung hänge jedoch auch von der Haltung der Regierung ab. Am 13. September versammelten sich in New York Dutzende Tadschik:innen, um zur Unterstützung des Widerstands im Pandschirtal aufzurufen. Während der Kundgebung schwenkten sie die tadschikische Nationalflagge. Neben einem Gefühl der Empathie spiegelt sich in solchen Reaktionen auf die jüngsten politischen Entwicklungen in Afghanistan auch ein gewisser tadschikischer Nationalismus, der sich bis hoch zum tadschikischen Präsidenten beobachten lässt. Dass in Afghanistan viele ethnische Tadschik:innen leben, nahm er zum Anlass, eine multiethnische Regierung in Kabul zu fordern und um internationale Unterstützung für seine Forderungen zu werben. Eine solche Rhetorik ist von Emomali Rachmon nicht das erste Mal zu hören. Allerdings hat sie in der letzten Zeit deutlich zugenommen und wird angesichts der unsicheren Lage wohl auch in Zukunft verstärkt zu hören sein.
Für die Zukunft sind Rückschritte zu erwarten
Bevor die in Badachschan gelegene Grenze zwischen Afghanistan und Tadschikistan im Februar 2020 geschlossen wurde, um laut offizieller Begründung die Covid-19-Pandemie einzudämmen, konnten die Gemeinden entlang der Grenze zunehmend von der gegenseitigen Nachbarschaft profitieren. Nun, da es in Afghanistan zu einem Regimewechsel gekommen ist, lehnen die tadschikischen Behörden eine Wiederaufnahme grenzüberschreitender Aktivitäten ab. Das hat Konsequenzen für das Leben der Menschen vor Ort, insbesondere in den Grenzgebieten Afghanistans, die im Juli 2021 das erste Mal in ihrer Geschichte an die Taliban fielen.
Nur einen Monat nach der Machtübernahme in den Grenzgebieten sendete die Einnahme Kabuls am 15. August 2021 ein deutliches Signal an die Gemeinden entlang der Grenze, dass die Taliban so schnell nicht mehr verschwinden werden. Im Alltag sorgen sich die Menschen vor allem um die Sicherheitslage. Während sich seit Juli 2021 keine Vertreter:innen der früheren Regierung mehr vor Ort befinden und es kaum Hoffnung auf ihre Rückkehr gibt, genießen die Dorfältesten – und in bestimmten Distrikten auch die religiösen Institutionen – immer noch den Respekt und das Vertrauen der Einheimischen. Für diese informellen Autoritäten hat es höchste Priorität, unabhängig von den jeweiligen Machthabern die Sicherheit ihrer Dörfer zu gewährleisten und jeglichen Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Indes könnte es gut sein, dass die Taliban weiterhin auf Gewalt verzichten werden, um ihre moralische Überlegenheit gegenüber der früheren, international anerkannten Regierung und dem afghanischen Widerstand zu beweisen. Sie haben außerdem ein Interesse daran, den grenzüberschreitenden Handel – insbesondere mit dem ihnen extrem feindlich gesinnten Tadschikistan – wiederzubeleben, um die internationale Gemeinschaft von ihrer Regierungsfähigkeit zu überzeugen. Für den Alltag der Menschen wäre die Wiederaufnahme grenzüberschreitender Beziehungen eine große Erleichterung, da die nahegelegene Grenze ihnen in der Vergangenheit eine deutliche Verbesserung ihrer Lebensqualität gebracht hat.
Es besteht kein Zweifel, dass die Talibanherrschaft sich langfristig auf die Zukunftsperspektiven der Frauen in den Grenzgebieten auswirken wird. Einer der wichtigsten Arbeitgeber vor Ort ist das AKDN mit seinen seit den 2000er-Jahren entwickelten, grenzüberschreitenden Programmen. In ihnen sind viele lokale Mitarbeiter:innen, Männer wie Frauen, angestellt, die momentan ihrer Arbeit nicht mehr unter ordentlichen Bedingungen nachgehen können. Viele Frauen können nicht mehr zur Arbeit gehen, da sie in ihrem Umfeld keine männliche Begleitperson besitzen. Frauen, die aus weit entfernten Dörfern kommen, müssen von einem männlichen Mitglied der Familie begleitet werden, während diejenigen, die in der Nähe der medizinischen Zentren wohnen, allein zur Arbeit gehen können. Jüngere Frauen haben Angst, eines Tages bestraft zu werden, wenn sie die Schule besuchen. Vor diesem Hintergrund scheint es ausgeschlossen, dass die zuletzt erreichten Emanzipationsfortschritte beibehalten werden können.
Zahlreiche Afghan:innen, insbesondere ethnische Tadschik:innen, werden sich deshalb überlegen, das Land zu verlassen. Mit Ausnahme des sowjetisch-afghanischen Kriegs (1979–1989) ist es an der Grenze bisher nie zu Fluchtbewegungen größeren Ausmaßes von Afghanistan nach Tadschikistan gekommen. Der tadschikische Innenminister Ramazon Rahimzoda teilte am 01. September 2021 mit, dass das Land in den letzten Jahren mehr als 1.500 Geflüchtete aus Afghanistan aufgenommen habe und allein seit Anfang Juli 5.000 Angehörige des afghanischen Militärs die Grenze nach Tadschikistan überquert hätten. Ob es sich dabei um verlässliche Zahlen handelt oder nicht: Es ist nicht zu leugnen, dass Tadschikistan zur letzten Zuflucht vieler Afghan:innen geworden ist. In den sozialen Medien werden Videos von Afghan:innen geteilt, die sich an der Grenze versammeln, und der tadschikische Präsident hat die internationale Gemeinschaft persönlich dazu aufgerufen, Afghan:innen in Not zu unterstützen. Die tadschikischen Behörden sehen sich nach eigenen Angaben nicht dazu in der Lage, eine hohe Anzahl von Migrant:innen ins Land zu lassen. Da die europäischen Staaten jedoch eine Wiederholung der »Flüchtlingskrise« von 2015 verhindern und deshalb die Nachbarländer Afghanistans unterstützen wollen, könnte sich die Lage bald ändern. Bisher wurden jedoch keine nennenswerten Maßnahmen ergriffen, um afghanische Geflüchtete aufzunehmen. Geflüchtete, die bereits seit Jahrzehnten in Tadschikistan leben, sind zudem immer noch strengen Bestimmungen unterworfen. Die feindselige Rhetorik der tadschikischen Regierung gegenüber den Taliban könnte bei einigen Menschen das Verlangen wecken, illegal über den Grenzfluss Pandsch nach Tadschikistan zu flüchten. Seit dem Ende der Sowjetunion haben die tadschikischen Teile des Pamirs eine derartige Situation noch nicht erlebt.