Am 20. November 2022 fanden in Kasachstan vorgezogene Präsidentschaftswahlen statt. Für langjährige Beobachter:innen kasachischer Politik war das aus einem einfachen Grund keine Überraschung: Vorgezogene Neuwahlen sind in Kasachstan eher die Regel als die Ausnahme. Begründet wurde die »Notwendigkeit« vorgezogener Neuwahlen, wie schon in früheren Fällen, mit einem dringenden Erneuerungs- und Reformbedarf. Im Großen und Ganzen war also alles wie immer. Es gibt aber gewisse Nuancen, die sich im Detail anzuschauen lohnt.
Wenn man die Rolle der Wahlen für Tokajews umfassendere, wirtschaftliche und politische Reformagenda vor dem Hintergrund der aktuellen »De-Nasarbajewisierung« verstehen möchte, sollte man sich zunächst die Rolle der offiziellen Propaganda klarmachen. Die zuerst von Ak-Orda-Sprechern formulierte und später von einheimischen wie internationalen Kommentator:innen übernommene Behauptung, das Regime benötige zur Umsetzung der besagten Reformen ein neues Mandat der Öffentlichkeit, entspricht eher einer gezielten Manipulation denn Anzeichen eines ernstgemeinten Reformprogramms des Präsidenten – falls es ein solches überhaupt gibt.
Insgesamt ging es bei den Wahlen 2022 weniger darum, Raum für Reformen zu schaffen, als viel mehr die Beziehungen innerhalb der Elite neu zu justieren. Jede der vergangenen sechs vorgezogenen Präsidentschaftswahlen wurde als unmittelbare Notwendigkeit präsentiert, um weitreichende Verbesserungen im politischen und wirtschaftlichen Leben des Landes zu bewirken.
Wird es während Tokajews restlicher Präsidentschaft nun jedoch auch praktische Maßnahmen geben, um die angekündigte Reform von oben in die Tat umzusetzen? Der russische Politikwissenschaftler Alexej Malaschenko ist der Meinung, dass »Tokajew sich hauptsächlich darauf konzentriert, die Wirtschaft zu stärken, gleichzeitig aber versteht, dass dazu auch politische Reformen notwendig sind.« (https://news.ru/cis/mnogovektornyj-tokaev-chto-budet-posle-prezidentskih-vyborov-v-kazahstane/) Allerdings wird es ihm zufolge »eine Zeit dauern, die [autoritären] Traditionen, mit denen die Gesellschaft so vertraut ist, zu verändern und die Menschen davon zu überzeugen, dass Wahlen mit echten Alternativen vorteilhafter sind als rein formelle Wahlen.« Oder anders ausgedrückt: Es wird keine wirklichen politischen Reformen geben.
Dieser Prognose kann durchaus Glauben geschenkt werden. Schließlich sprechen Moskauer Expert:innen wie Malaschenko häufig genau das aus, was Ak-Orda-Strateg:innen denken. Es können in naher Zukunft also durchaus einige wirtschaftliche Veränderungen erwartet werden. Doch werden diese wirtschaftlichen Reformen mehr Erfolg haben als frühere Reformprojekte unter Nasarbajews Präsidentschaft? Das lässt sich noch nicht sagen. Eines ist aber sicher: Für die tatsächliche Umsetzung dieser Reformen wird das Ergebnis der jüngsten Wahlen kaum eine Rolle spielen.
Einige Expert:innen sind der Meinung, dass die Entscheidung, die Präsidentschaftswahl zu einem früheren Zeitpunkt abzuhalten, mit den aktuellen Beliebtheitswerten des amtierenden Präsidenten zusammenhängt. Dadurch konnte sich Tokajew einen deutlich sichereren Sieg ergattern, als dies womöglich 2024 der Fall gewesen wäre. Auch wenn das ein Grund der vorgezogenen Wahl sein mochte, dann sicherlich nicht der entscheidende. Die infolge des »Blutigen Januars« eskalierte Krise innerhalb der Elite ist für das herrschende Regime die viel dringlichere Herausforderung als irgendwelche Reformen oder die Frage, wie das Wahlergebnis wohl 2024 ausgesehen hätte.
Die russische Regierung, die Tokajew im Januar 2022 zur Hilfe geeilt kam, hat diesem nicht nur geholfen, an der Macht zu bleiben, sondern auch ihre eigene Rolle als »Königsmacher« in Kasachstan unterstrichen. Eine verbreitete Binsenweisheit besagt, dass die Macht des kasachischen Regimes »auf den Bajonetten des Kremls« beruht. Allerdings überdenkt die russische Regierung momentan ihre Sichtweise auf Nordkasachstan und distanziert sich zunehmend von dem Modell, das der Schriftsteller Solschenizyn 1989 vorgeschlagen hatte. Dieses Modell sah die Annexion des nördlichen Kasachstans, inklusive der dort lebenden Russ:innen, vor. Heute orientiert sich die russische Regierung offensichtlich mehr an dem 1821 implementierten Modell des damaligen sibirischen Generalgouverneurs Mikhail Speranskij, der den als solchen konstruierten Grenzraum zwischen Sibirien und dem Großverband der Mittleren Zhuz abschaffte und den sogenannten sibirischen Kasach:innen die russische Staatsbürgerschaft verlieh.
Mit dieser historischen Neuorientierung wirft die russische Regierung bereits den Schatten eines »zweiten Donbass« über den Nordosten Kasachstans, indem sie zwei große kasachische Bevölkerungsgruppen – die Großverbände von Älterer und Mittlerer Zhuz – gegeneinander ausspielt. Indizien dafür lassen sich in den halb-offiziellen Kanälen der russischen Medienlandschaft finden (siehe unter anderem https://topwar.ru/203015-kazahstan-dolzhen-vybrat-put-v-buduschee.html, https://deita.ru/article/508964 und https://www.om1.ru/news/politic/254686-soros_klany_zhuzy_ili_nakipelo_omskie_politiki_vyskazalis_o_prichinakh_konflikta_v_kazakhstane/). Tokajew hat das offenbar in Konflikt mit dem Kreml um die Sympathien der Eliten von Mittlerer Zhuz gebracht. Ein wichtiges Indiz dafür sind die neugeschaffenen Gebiete Abai und Ulytau in der Heimatregion dieser Eliten. Diese Territorialreform wurde zu einer Zeit umgesetzt, als Kasachstan nach offiziellen Angaben »über seine Verhältnisse« lebte, da die »Nettoeinkünfte des Staates nur 50 % der im Haushalt vorgesehenen Staatsausgaben decken konnten.« (https://lsm.kz/kazahstan-zhivet-ne-po-sredstvam--schetnyj-komitet)
Die Ereignisse vom Januar haben eine vollkommen neue Situation geschaffen. Vorher galt Tokajew als Schützling Nasarbajews, der angeblich unter anderem deshalb ausgewählt wurde, weil er dem Familienverbund der Jalaiyr angehört, der ranghöchsten Gruppe des Großverbandes der Älteren Zhuz. Seit Januar 2022 muss Tokajew auf eigenen Beinen stehen, als unabhängiger Präsident, der nicht mehr nur als Produkt eines von der Regierung inszenierten Machttransfers gesehen wird. Besonders deutlich wurde dies nach dem Referendum im Juni 2022, durch das Nursultan Nasarbajew seinen prestigeträchtigen Status als Elbasy verloren hat. Die Ankündigung der vorgezogenen Präsidentschaftswahl kurz nach dem Referendum ist unmittelbarer Teil dieser Entwicklung.
Tokajew hat zwar versprochen, dass es eine gründliche Untersuchung der Ereignisse vom Januar 2022 geben wird. Bisher hat er jedoch noch keinen angemessenen Umgang mit den Januar-Ereignissen gefunden. Bisher gibt es keine ausreichend unparteiischen Ermittlungen, die den Berichten über rechtswidriges Verhalten seitens der Sicherheitskräfte nachgehen. Und das trotz seiner Pläne, ein »Neues Kasachstan« zu erschaffen und den »Beginn einer neuen politischen Ära in Kasachstan« einzuläuten.
Wie hoch ist die tatsächliche öffentliche Legitimität Tokajews vor diesem Hintergrund? Vertreter:innen der Regierung vertrösten die Menschen gerne mit großen Versprechen, die sie nicht erfüllen können. Damit bedienen sie sich einer Methode, die in Kasachstan auf eine lange, noch aus der Sowjetzeit stammende Tradition zurückblicken kann. In dieser Hinsicht folgt Tokajew ganz dem Vorbild Nasarbajews. Sein Vorgänger hatte die Angewohnheit, vermeintlich innovative Initiativen mit reißerischen Titeln und noch reißerischen Slogans ins Leben zu rufen. Dieses Schauspiel fand Anfang des Jahres 2022 unter den lauten »Schal, ket!«- Rufen (»Alter Mann, hau ab!«) der Demonstrant:innen ein Ende. Tokajew hat bislang schlichtweg noch nicht genug Zeit gehabt, haufenweise Versprechen abzugeben, die er nicht erfüllen kann. Allerdings sieht es so aus, als würde er auch diese Tradition seines Vorgängers fortführen.
Seine Wahlkampagne von 2019 stand unter dem Motto »Wohlergehen für alle! Kontinuität. Gerechtigkeit. Fortschritt«. Kurze Zeit später warb er mit der Vorstellung eines »Staats, der den Menschen zuhört« und »schnell und effizient auf alle konstruktiven Anliegen seiner Bürger:innen reagiert«. Wäre es zu den Ereignissen des »Blutigen Januars« gekommen, wenn auch nur ein Bruchteil dieser Versprechen in den letzten Jahren umgesetzt worden wäre?
Möglicherweise gab es im Ak Orda vor der Wahl die Sorge, dass Wahlen der »traditionellen« Weise in der Art des »alten Kasachstan« Tokajews Manövrierfähigkeit einschränken würde, gute Beziehungen mit allen Großmächten zu unterhalten. Sollte es solche Bedenken tatsächlich gegeben haben, waren sie unbegründet. Es gibt aber trotzdem einen Haken. Von den Sprachrohren des Kremls sind in letzter Zeit immer schärfere Töne zu vernehmen, was die Politik des kasachischen Regimes angeht, ausgeglichene Distanz zu allen wichtigen externen Machtzentren zu wahren. Wäre Russland zum Zeitpunkt der Präsidentschaftswahl nicht mit seinem schon seit Monaten andauerndem Krieg in der Ukraine beschäftigt gewesen, hätten russische Politiker:innen und Medien der Regierung in Astana zweifellos eine Menge Probleme bereitet.
Die Ergebnisse von Tokajews Wiederwahl waren relativ exakt vorhersagbar und eignen sich deshalb nicht als Indikator für die Frage, in welche Richtung – ob autoritär oder demokratisch – sich das Land in Zukunft entwickeln wird. Für das herrschende Regime war die Wahl offenbar nur eine Routinemaßnahme, die notwendig war, um hinter den Kulissen Schritte zur endgültigen Überwindung der Januarkrise umzusetzen. Wie genau das Wahlergebnis ausfallen würde, war für niemanden besonders wichtig. Es ging nur darum, eine Wahl mit garantiertem Ausgang durchzuführen. Kritische Stimmen, die der Regierung die Inszenierung der Wahl ohne echte Konkurrenz für Tokajew vorwerfen, waren von staatlicher Seite vermutlich von Anfang an miteinkalkuliert.
Ebenfalls lässt sich anhand der Wahl kaum einschätzen, wieviel Spielraum das Regime besitzt, seine kontrollierte Liberalisierung von oben weiter fortzusetzen. Bisher war es jedoch immer in der Lage gewesen, wirtschaftliche Reformen durchzuführen, ohne sich über »Nebensächlichkeiten« wie Wahlergebnisse Gedanken machen zu müssen. Daran hat sich nichts geändert. Mittlerweile ist klar geworden, dass Tokajew von Anfang an kein Interesse an der Umsetzung von wirklichen politischen Reformen hatte. Bisher beruhte die Legitimität des Regimes auf der Gewährleistung einer sozialen und wirtschaftlichen Lage im Land, die für ein einigermaßen erträgliches Leben der Mehrheit der Bevölkerung ausreichte. Angesichts einer jährlichen Inflation, die laut offiziellen Angaben mittlerweile auf 20 % gestiegen ist, und einer Erhöhung der Lebensmittelpreise um 23 % bei unverändertem Einkommen der meisten Bürger:innen gibt es daher wenig Grund zur Annahme, dass die Wahlergebnisse allein die Stabilität des herrschenden Regimes garantieren können.
Aus dem Englischen von Armin Wolking