Am 20. November 2022 fanden in Kasachstan vorgezogene Präsidentschaftswahlen statt, die ursprünglich für 2024 geplant waren. Der amtierende Präsident Kassym-Dschomart Tokajew erhielt über 81 Prozent der Stimmen und gewann die Wahl somit wie erwartet mit Leichtigkeit. Der Umstand, dass auf die Option »Gegen alle« mehr Stimmen entfielen (5,8) als auf irgendeinen der anderen Kandidat:innen, offenbarte einmal mehr das vollkommene Fehlen jeglicher ernstzunehmender Konkurrenz (https://masa.media/ru/site/okonchatelnye-itogi-vyborov-tokaev-pobedil-nabrav-8131-golosov-izbirateley). Sein Sieg ermöglicht Tokajew für die nächsten sieben Jahre an der Macht zu bleiben. Tokajews zentrales Versprechen ist, in dieser Zeit durch umfassende Reformen ein »Neues Kasachstan« zu schaffen. Dieser kurze Beitrag untersucht, wie die Wahl Tokajew bei der Sicherung von politischer Legitimität geholfen hat. Die Bedeutung dieser Legitimität wird dabei im größeren politischen Kontext des aktuellen Reformprogramms betrachtet, mit dem Tokajew das Erbe seines Vorgängers abschütteln möchte, der das Land jahrzehntelang beherrscht hatte.
Tokajews fragwürdige Legitimität nach dem ersten Amtsantritt
Tokajews Herrschaft begann 2019 durch einen von Kasachstans erstem und bis zu diesem Zeitpunkt einzigem Präsidenten, Nursultan Nasarbajew, orchestrierten Machttransfer. Die Tatsache, dass er von Nasarbajew eigenhändig als dessen Nachfolger ausgesucht wurde, nahm Tokajew von Anfang an jegliche persönliche Legitimität. Die Mehrheit der Menschen sah in ihm nur eine Neuauflage des Regimes von Nasarbajew, das sinnbildlich für Korruption, Nepotismus und Missmanagement stand. Selbst die im Juni 2019 abgehaltene Präsidentschaftswahl, bei der Tokajew 70 % der Stimmen erhielt, konnte nichts an seiner mangelnden Legitimität (https://masa.media/ru/site/tri-goda-nazad-tokaev-stal-prezidentom-kazakhstana-chto-proizoshlo-vstrane-zaeto-vremya) ändern. Aus Sicht der Bevölkerung war er immer noch eine reine Marionette. Dieser Eindruck wurde durch seine erste Amtshandlung als Präsident bestärkt, die darin bestand, die Hauptstadt Astana in Nur-Sultan umzubenennen.
Die ohnehin mangelnde Legitimität des Regimes von Tokajew erfuhr durch die heute als Qandy Qantar (Blutiger Januar) bekannten Ereignisse Anfang 2022 einen weiteren schweren Schlag. Kasachstan erlebte im Januar 2022 zunächst lokale Proteste gegen gestiegene Gaspreise, die sich bald zu einem landesweiten, gewaltsamen Aufstand ausweiteten, der von Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und politischem Wandel begleitet war. Tokajew bezeichnete die Demonstrant:innen als Terrorist:innen und gab den Sicherheitskräften den Befehl, scharf zu schießen, wodurch mindestens 230 Menschen zu Tode kamen (https://masa.media/ru/site/tri-goda-nazad-tokaev-stal-prezidentom-kazakhstana-chto-proizoshlo-vstrane-zaeto-vremya). Um die Lage zu stabilisieren bat er außerdem die von Moskau angeführte Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) um die Entsendung von Truppen. Damit setzte er sich heftiger Kritik aus, fremde Truppen auf kasachisches Territorium gelassen zu haben.
Tokajew war seit seinem Amtsantritt 2019 nicht in der Lage gewesen, sich selbstbewusst zum legitimen Machthaber Kasachstans zu erklären. Sich endlich tatsächliche politische Legitimität zu verschaffen war daher einer der zentralen Gründe, die Wahl zwei Jahre früher stattfinden zu lassen. Er wurde von Nasarbajew an die Macht gebracht und in den Augen der Öffentlichkeit war es Wladimir Putin, der ihn schließlich an der Macht hielt. Das sollte sich in dem Moment ändern, als die Zentrale Wahlkommission am 22. November 2022 das amtliche Endergebnis bekanntgab und einen erdrutschartigen Sieg Tokajews verkündete. Ohne die vorgezogenen Neuwahlen wäre ein Machterhalt Tokajews bis 2024 angesichts seiner mangelnden Legitimität alles andere als garantiert gewesen.
Popularitätsschub dank »De-Nasarbajewisierung«
Obwohl Tokajews Legitimität anfangs unter den Ereignissen im Januar litt, boten sie ihm doch zugleich eine Gelegenheit, politisch zu punkten und seine Popularität zu steigern. In der Zeit nach den Protesten wurde offenbar, dass sie die Kulisse eines Machtkampfes zwischen Tokajew und Nasarbajew gewesen waren, aus dem Tokajew schließlich siegreich hervorgegangen ist. Er nutzte die Gelegenheit, um sich von seinem politischen Patron zu distanzieren und sich selbst umfassende Macht zu sichern. Auf den Demonstrationen war immer wieder der Spruch »Shal Ket!« (»Alter Mann, hau ab!«) zu hören und in zahlreichen Städten wurden Denkmäler für Nasarbajew gestürzt (https://rus.azattyq.org/a/32123537.html). Tokajew reagierte auf diese wahrnehmbaren Wünsche der Bevölkerung und schlug einen Kurs der »De-Nasarbajewisierung« ein.
Unmittelbar nach den Protesten übernahm Tokajew den Vorsitz des nationalen Sicherheitsrates. Dieser einflussreiche Posten war ursprünglich bis zu dessen Tod für Nasarbajew reserviert gewesen. Als nächstes ließ Tokajew Nasarbajews mächtigsten Verbündeten, den Chef des Nationalen Sicherheitskomitees, Karim Masimow, absetzen und verhaften. Ihm werden seitdem Hochverrat und der Versuch einer gewaltsamen Machtübernahme vorgeworfen. Kurz darauf legte Nasarbajews Tochter Dariga Nasarbajewa ihr Abgeordnetenmandat nieder. Nasarbajews Neffe, der Geschäftsmann Kairat Satybaldy, wurde wegen Veruntreuung zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt (https://kaztag.kz/ru/news/kayrat-satybaldy-osuzhden-na-shest-let-zaklyucheniya). Andere Familienmitglieder Nasarbajews, die hohe politische und wirtschaftliche Posten innehatten, wurden entlassen. Im September 2022 wurde die Hauptstadt von Nur-Sultan in Astana zurückbenannt. Ebenfalls erklärte Tokajew, dass die Politik des früheren Regimes zu einer ungleichen Verteilung des Reichtums im Land geführt habe und deshalb einer Revision unterzogen wird. Sein Vorgehen gegen die Familie Nasarbajew brachte Tokajew zwar dringend benötigte Sympathiepunkte ein, verschaffte ihm aber noch nicht die gewünschte politische Legitimität.
Durch neue außenpolitische Akzente konnte Tokajew seine Popularität weiter steigern. Auf dem Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg im Juli 2022 erklärte er während einer gemeinsamen Podiumsdiskussion mit Wladimir Putin, dass Kasachstan die Unabhängigkeit der separatistischen Donbass-»Volksrepubliken« Donezk und Luhansk nicht anerkennen werde, die er stattdessen als »quasistaatliche Gebilde« bezeichnete (https://iz.ru/1351719/2022-06-18/tokaev-kazakhstan-ne-priznaet-nezavisimost-dnr-i-lnr). In diesem Zusammenhang erreichte Tokajews Popularität im Sommer 2022 ihren vorläufigen Höhepunkt. Vorgezogene Präsidentschaftswahlen stellten sich Tokajew als Möglichkeit dar, seine aktuelle Popularität in tatsächliche politische Legitimität umzuwandeln. Da hohe Beliebtheitswerte genauso schnell wieder verschwinden können wie sie gekommen sind musste also schnell ein neuer Termin für die Präsidentschaftswahl her. Tokajew war sich bewusst, dass sich seine Beliebtheit nach der ersten nächsten unpopulären Entscheidung wieder in Luft auflösen könnte.
Kleine Lösungsschritte für große Probleme
Mit Hinsicht auf die letzten drei Jahre von Tokajews Präsidentschaft gibt es nur wenig Anlass davon auszugehen, dass es in seiner bevorstehenden Regierungszeit mehr als ein paar geringfügige Änderungen des Status Quo geben wird. Eine umfassende politische Transformation kann nicht erwartet werden. Die Bevölkerung hat den Behörden klar signalisiert, dass sie soziale Gerechtigkeit, Transparenz und politischen Pluralismus sehen möchte (https://rus.azattyq.org/a/32123537.html). Bisher hat die Regierung mit rein kosmetischen Änderungen auf diese Forderungen reagiert, in der Regel umgesetzt mit den gleichen Techniken, die man noch aus Nasarbajews Zeiten kennt. Die Präsidentschaftswahl ist nur das jüngste Beispiel für die Versuche des Regimes, politische Trickserei als bedeutende Reformmaßnahmen zu verkaufen. Tokajew hat die Wahl als ein Vertrauensvotum für die Reformen präsentiert, die er in den nächsten sieben Jahren umsetzen möchte (https://www.akorda.kz/ru/poslanie-glavy-gosudarstva-kasym-zhomarta-tokaeva-narodu-kazahstana-181130). Die Wahl an sich wurde jedoch mit denselben unlauteren Methoden durchgeführt, auf die das Regime schon in der Vergangenheit zurückgegriffen hat. Angesichts dessen bleiben die Aussichten auf eine Demokratisierung Kasachstans begrenzt.
Die Präsidentschaftswahl ist nicht das einzige Beispiel dafür, wie geringfügige Veränderungen in große Versprechen von einer anderen Zukunft gehüllt werden. Auf die Wünsche der Öffentlichkeit nach einem Wandel des politischen Systems wird weiter mit technokratischen Lösungen reagiert. Bisher war die größte Errungenschaft von Tokajews Reformprogramm für ein »Neues Kasachstan« das erfolgreiche Verfassungsreferendum im Juni 2022, das für die weitere Umsetzung von Reformen erforderlich war. Obwohl insgesamt 50 Änderungen an 19 Artikeln und damit etwa einem Drittel der Verfassung vorgenommen wurden, hat sich kaum etwas verändert. Die Wurzel des Problems, die Übermacht des Präsidenten gegenüber allen anderen Staatsgewalten, bleibt bestehen (https://www.dw.com/ru/kakim-budet-novyj-kazahstan-samoe-vazhnoe-o-referendume-po-konstitucii/a-61989142). Auch die Art und Weise, wie die Verfassungsreform durchgeführt wurde, erinnert an das »alte Kasachstan« unter Nasarbajew. Die Bürger:innen hatten keine Möglichkeit, die Verfassungsänderungen mitzugestalten und öffentliche Diskussionen fanden auch nicht statt. Man bleibt den alten Methoden also fest treu.
Auch die mangelnde Transparenz der Ermittlungen zu den Ereignissen im Januar 2022 und die geringen Aussichten auf Gerechtigkeit lassen die Frage aufkommen, wie ernst Tokajew seine Pläne für ein »Neues Kasachstan« meint. Heute ist allbekannt, dass Sicherheitsbehörden während der Proteste massenhaft gefoltert haben. Todesfälle bleiben weiter ungeklärt und der Ermittlungsprozess an sich ist von massiver Intransparenz geprägt (https://www.hrw.org/ru/news/2022/05/09/kazakhstan-no-justice-january-protest-victims). Natürlich kann Tokajew nicht erwarten, ein anderes, »besseres« Kasachstan zu schaffen, das auf der verzerrten Interpretation eines derart zentralen Ereignisses beruht, das obendrein den Grundstein für den aktuellen Vorstoß gelegt hat, einen Wandel des politischen Systems herbeizuführen. Aktuell richten sich alle Augen auf die Untersuchung dieser Tragödie, der schlimmsten, die Kasachstan in den letzten dreißig Jahren erlebt hat. Tokajew wird sich wahrscheinlich an der Macht halten können, solange die Ermittlungen jedoch nicht zur Herstellung von Gerechtigkeit beitragen, wird er auf die langfristige Unterstützung der Öffentlichkeit verzichten müssen.
Schlussfolgerungen
Noch Anfang des Jahres 2022 befand sich Tokajew inmitten der größten Krise seiner bisherigen Amtszeit. Er hat es jedoch geschafft, so mächtig wie nie zuvor aus der Situation hervorzugehen. Nun steht ihm jedoch eine noch viel größere Herausforderung bevor, nämlich den Forderungen der Öffentlichkeit nach sozialer Gerechtigkeit und umfassenden politischen Veränderungen gerecht zu werden. Bisher lief für ihn alles nach Plan: das von ihm initiierte Verfassungsreferendum im Juni 2022 war erfolgreich und er konnte sich durch die jüngste Präsidentschaftswahl zum ersten Mal umfassende politische Legitimität sichern. Noch ist es zu früh für glaubwürdige Prognosen über die politische Zukunft Kasachstans in den nächsten sieben Jahren, eine weitere autokratische Entwicklung ist jedoch am wahrscheinlichsten. Vielleicht wird das Land aber auch auf den Pfad der Demokratie einschwenken. Oder es landet irgendwo dazwischen.
Aus dem Englischen von Armin Wolking