Jenseits religiöser Retraditionalisierung. Islamischer Aktivismus von Frauen als Element postsozialistischer Zivilgesellschaft in Kirgistan

Von Aksana Ismailbekova (Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO), Berlin)

Zusammenfassung
In Kirgistan haben islamische Organisationen und islamischer Aktivismus – vor allem der von Frauen – in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Dieser neue Einfluss muslimischer Frauen und ihrer Organisationen kann in unterschiedlichen Bereichen, von wohltätiger Arbeit bis Mode, online wie offline, beobachtet werden. Obwohl islamische Organisationen, die von Frauen geführt werden, mittlerweile etablierte Akteure der kirgisischen Zivilgesellschaft sind, wird ihre zentrale Rolle außerhalb muslimischer Kontexte noch immer verkannt. Der Beitrag untersucht, wie sich der islamische Aktivismus von Frauen vor dem Hintergrund der digitalen Revolution und der Verbreitung sozialer Medien als neuer Quelle religiöser Bildung weiterentwickelt.

Einleitung

Die Rolle des Islam in Zentralasien wird nach wie vor durch eine beschränkte Anzahl von Analyse- und Interpretationsschemen betrachtet. Erstens werden der Islam und islamische Gruppen, Organisationen und Parteien in der Regel aus einer sicherheitspolitischen Perspektive erforscht und im Resultat als Sicherheitsrisiko beschrieben. Unter diesem Gesichtspunkt werden Islamisierung und Islamismus als Gefahr für die Stabilität der Region wahrgenommen. Neben dieser dominanten Wahrnehmung hat sich in den letzten Jahrzehnten eine zweite Perspektive herausgebildet, die den Islam vor allem als Herausforderung für liberales Gedankengut interpretiert, vor allem die Meinungs- und Redefreiheit, Frauenrechte und die Möglichkeit zur individuellen Lebensgestaltung.

Die dritte und jüngste Perspektive interpretiert muslimische Aktivitäten in Zentralasien als einen integralen Bestandteil von regionaler Identitätspolitik seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Staatssozialismus. Während der Sowjetzeit wurden soziale Aktivitäten vor allem durch staatliche Institutionen wie Frauenräte (Schensowjet), Jugendverbände (Komsomol) oder die Organisation der Jungpioniere organisiert. Mittlerweile haben islamische Zusammenschlüsse aus der Zivilgesellschaft einen Teil dieser vormals staatlich dominierten Organisationen aus der Sowjetzeit ersetzt und bieten den Menschen damit Möglichkeiten zur Festigung oder Reorientierung politischer Identitäten.

Islamischer Aktivismus in Zentralasien und vor allem in Kirgistan kann jedoch auch noch aus einer weiteren Perspektive betrachtet werden. Muslime und muslimische Organisationen agieren mittlerweile als zivilgesellschaftliche Akteure mit sozialer Wirkmächtigkeit. Das gilt besonders für Frauennetzwerke und -vereinigungen, die innerhalb der islamischen Zivilgesellschaft Kirgistans einen festen Platz eingenommen haben. Die interessante Frage ist hierbei, wie muslimische Frauen die kirgisische Gesellschaft durch ihren Glauben und ihre Glaubenspraxis prägen und verändern.

Die zentrale Akteure dieser Netzwerke sind einerseits ustaz, angesehene Lehrmeisterinnen mit spezialisiertem religiösem Wissen, und andererseits Aktivistinnen, Influencerinnen und Bloggerinnen. Sie alle unterstützen andere Frauen, indem sie Beratung zu Themen wie Kindererziehung, Geschlechtergleichheit und mentaler Gesundheit aus einer religiösen Perspektive anbieten. Ihr Hauptanliegen ist die positive Darstellung ihres Glaubens. Der jüngeren Generation soll dadurch eine moderne Vision des Islam nähergebracht werden, die sich durch Progressivität, zeitgemäßem Stil und eine humanitäre Ausrichtung auszeichnet. Auf diese Weise sollen auch die unter Nichtmuslimen verbreiteten Vorurteile aufgebrochen werden, laut denen die islamische Lehre Frauen zu einer unterwürfigen Rolle verdammt und geschlechtsspezifische Gewalt gutheißt (Ismailbekova und Nasritdinov, 2022).

Dieser Beitrag wirft einen Blick auf die Aktivitäten dieser Frauen, deren Aktivismus sowohl online und offline stattfindet. Eine zentrale Frage ist, wie die Nutzung sozialer Medien die Entwicklung des islamischen Aktivismus beeinflusst und wie sich dieser im Kontext des autoritären Regimes in Kirgistan behaupten kann. Durch die weite Verbreitung von Smartphones und anderen modernen Technologien erreichen islamische Aktivistinnen teilweise Hunderttausende von Abonnent:innen. In den sozialen Medien entstehen neue Debatten und neue religiöse Praktiken unter Musliminnen, die so vorher nicht möglich waren, und im Austausch unterschiedlicher Meinungen werden alternative und kritische Perspektiven entwickelt, durch die Aktivistinnen wiederum distinktive Identitäten formulieren und ausprägen können.

Islamischer Offline-Aktivismus von Frauen: Wohltätigkeit, Einsatz für Toleranz, Mode

Besonders während der COVID-19-Pandemie ist deutlich geworden, welche Rolle islamische Organisationen mittlerweile als zivilgesellschaftliche Akteure einnehmen. Moscheen gehörten zu den ersten Einrichtungen, die ihre Türen für Kranke öffneten, während sich viele Frauen freiwillig engagierten, zum Beispiel durch das Sammeln von Spenden für den Kauf von medizinischem Equipment. Andererseits werden Frauen von islamischen Organisationen unterstützt. Die Organisation Datka-ajym verfügt zum Beispiel über Initiativen im Bereich der Unternehmensentwicklung und hat Projekte entwickelt, bei denen alleinstehenden oder verwitweten Frauen geholfen wird, Arbeit zu finden. Die Organisation setzt sich auch für die Rechte von Kindern mit Behinderung ein und ermöglicht ihnen die Teilnahme an Sport-, Kunst- und Musikwettbewerben. Ebenfalls auf wohltätiger Basis werden Stipendien an Waisenkinder oder Kinder mit Behinderungen vergeben. Außerdem wollen sie Aufmerksamkeit auf die Gewalt lenken, der Kinder mit Behinderungen ausgesetzt sind, aber auch auf häusliche Gewalt gegenüber Kindern im Allgemeinen. Sie geben Kindern mit Behinderung eine Stimme und sprechen über die Schwierigkeiten, mit denen ihre Eltern konfrontiert sind. Datka-ajym versteht sich dabei allgemein als Organisation, welche die Rechte marginalisierter Gruppen vertritt, die keine Unterstützung vom Staat bekommen.

Ein weiteres Feld des islamischen Offline-Aktivismus von Frauen ist der Einsatz für Toleranz. Gläubige Menschen haben oft den Eindruck, dass säkulare Menschen sie nicht akzeptieren, während säkulare Menschen von religiösen Gemeinden bisweilen als »Ungläubige« abgestempelt werden. Die islamische Organisation Mutakalim versucht zwischen beiden Gruppen zu vermitteln. Mutakalim legt viel Wert auf das gemeinsame Zusammenleben in einem säkularen Staat und betont wie wichtig es ist, unterschiedliche Einstellungen zu respektieren. Ihre Mitglieder vertreten dabei die Haltung, dass alle Menschen unabhängig von ihren individuellen Lebensentscheidungen Respekt und Toleranz verdienen. Die Organisation bietet in Medresen und religiösen Institutionen Kurse für Konfliktlösung an, in denen die Bedeutung von Respekt und Toleranz gegenüber anderen Religionsgruppen vermittelt werden soll. Andererseits setzt sich die Organisation für die Rechte muslimischer Frauen und Mädchen ein. Zum Beispiel hat sich die Journalistin und religiöse Führungspersönlichkeit Shamal Frontbek kysy als eine der ersten dafür eingesetzt, dass Mädchen mit Kopftuch die Schule besuchen können. Sie weist darauf hin, dass laut kirgisischer Verfassung alle Mädchen die Schule besuchen sollen, es für gläubige Menschen aber eine notwendige Bedingung sei, in der Schule ein Kopftuch tragen zu können. Ihrem Einsatz ist auch zu verdanken, dass Frauen erlaubt wurde, auf Passfotos ein Kopftuch zu tragen. Im Einsatz für die Rechte muslimischer Frauen arbeitet ihre Organisation eng mit Regierungsstellen und internationalen Organisationen zusammen.

Neben mehr Toleranz im gesamtgesellschaftlichen Kontext zielt islamischer Aktivismus aber auch auf Veränderungen innerhalb islamischer Strukturen als solcher ab, wie mir ein anderes Mitglied von Mutakalim erklärt hat:

Unsere Arbeit dreht sich um Fragen der Frauenrechte. In der Regel wird angenommen, dass Frauen über keine Rechte verfügen und an den Haushalt gebunden sind. Allerdings ist das im Islam gar nicht der Fall. Wir versuchen, die Rechte von Frauen zu schützen und auf Probleme wie häusliche Gewalt gegen Frauen und Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern aufmerksam zu machen. Auch wenn den Mullahs geschlechtsbezogene Fragen nicht gefallen, machen wir trotzdem weiter öffentlich auf sie aufmerksam. Außerdem versuchen wir das Muftiat davon zu überzeugen, einen Frauenrat oder eine eigene Frauenabteilung einzurichten und Frauen einen Platz im Muslimischen Beirat einzuräumen. Es ist nach wie vor ein Problem, dass die religiöse Gemeinschaft solche Haltungen nicht akzeptiert. Wir hoffen aber, dass sich das bald ändern wird.

Viele meiner Gesprächspartnerinnen brachten den Wunsch zum Ausdruck, ihre Religion in einem positiven Licht zu präsentieren und sich für eine alternative Vision des Islam einzusetzen, eines Islam, der progressiv, modern und stilbewusst ist und für humanitäre Werte steht. Sie sind der Meinung, es sei an der Zeit, ein positiveres Bild vom Islam zu zeichnen, das mit dem Stereotyp bricht, er sei »rückständig«, »radikal« und »fremd«. In diesem Zusammenhang nimmt das Thema Kleidung vor allem unter jungen Frauen mit höherem Bildungsgrad eine zentrale Stellung ein. Sie betrachten Modedesign als integralen Bestandteil ihres Aktivismus und wollen islamische Kleidung vielfältig, farbenfroh, und stylisch gestalten, um so die Diversität des Islam sichtbar zu machen. Als ich zum Beispiel Ainura traf, war sie vollständig in Rot gekleidet, einschließlich ihres Kopftuchs und des langen Kleids, das sie trug. Als Geschäftsfrau betreibt sie mehrere Modeläden während sie darüber hinaus sportlich aktiv ist. Sie will zeigen, dass praktizierende Musliminnen in der Geschäftswelt, im Sport und im Bildungssektor sichtbar sein können und sollen.

Die Rolle der Sozialen Medien und das weibliche Gesicht des Islamischen Online-Aktivismus

Das Angebot an kreativen Aktivitäten für junge Menschen, bei denen sie mehr über den Islam lernen können, nimmt stetig zu. Soziale Medien erschaffen einen virtuellen Raum, in dem religiöse Ressourcen auf formelle wie informelle Art ausgetauscht werden können, wodurch die partizipative Reichweite des islamischen Aktivismus zunimmt. Dabei entstehen auch ganz neue religiöse Praktiken. Im Folgenden möchte ich drei Frauen vorstellen, die islamischen Online-Aktivismus betreiben: Aijan Akylbekowa, Anjelika Kairatowa und Nursat Toktosunowa. Neben den Veranstaltungen, die sie offline organisieren, erfreuen sich die drei Frauen in den sozialen Medien großer Beliebtheit, vor allem auf Facebook, Instagram und Telegram. Besonders Instagram ist unter jungen Menschen sehr beliebt. Die drei organisieren Kurse für die Persönlichkeitsentwicklung und laden häufig bekannte Rednerinnen zu Online-Vorträgen und -Diskussionen ein.

Aijan Akylbekowa wurde 1983 in Bischkek (damals noch Frunse) geboren, hat drei Kinder und ist heute verwitwet. Sie war die zweite Ehefrau des berühmten, 2011 verstorbenen Geschäftsmanns Muchtar Omurakunow, weshalb es einige öffentliche Diskussionen um sie gab. Ihre Karriere begann als Schauspielerin, aber ihr ist auch wichtig zu betonen, dass sie Theologie studiert hat. Junge Menschen folgen ihr in den sozialen Medien vor allem, weil sie eloquent redet und ihr Publikum mühelos für sich vereinnahmen kann. Sie spricht fließend Russisch und Kirgisisch und hält Vorträge in beiden Sprachen, wobei sie sich mit Themen wie häuslicher Gewalt, Geschlechtergleichheit, Respekt vor Älteren und Verwandten und den Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern beschäftigt (siehe zum Beispiel https://www.youtube.com/watch?v=yIZhZj4GDpA). Sie ist auf Facebook (28.000 Follower), Instagram (150.000 Follower) und Telegram aktiv. Für junge Mädchen, die den Wunsch haben, Geschäftsfrau zu werden, dabei aber auch fromme Musliminnen bleiben wollen, ist Akylbekowa ein »ideales« Vorbild.

Eine andere einflussreiche Aktivistin ist Anjelika Kairatowa. Sie wurde 1989 in Bischkek (Frunse) geboren, hat drei Kinder und war mit dem Geschäftsmann Urmat Bekbolijew verheiratet. Sie ist Sängerin, Schauspielerin, Fernsehmoderatorin, Produzentin der TV-Serie »Adilet«, Autorin der Realityshow »Baktyluu Ajim«, Motivationscoach, Gründerin der Kosmetik- und Parfümmarke »Lika«, Betreiberin eines Schönheitssalons und Geschäftsfrau mit drei Millionen Followern auf Instagram. Nicht zuletzt ist sie auch Vorsitzende der islamischen Initiative »Sadaka Birge«, die seit 15 Jahren Kinder mit Behinderung unterstützt. Sie leitet außerdem die feministische Gruppe »Kyrgystan Ayymry« und setzt sich für gesunde Nahrung und sauberes Wasser ein. Sie spricht viel über Businesstipps für Frauen und wie man am besten flexibel bleibt, um sich als muslimischer Mensch weiterentwickeln zu können. Sie ist international unterwegs und lässt ihre Follower dabei stets an ihrem Leben teilhaben. Weitere Informationen zu Anjelika Kairatowa gibt es bei Wikipedia (https://ky.wikipedia.org/wiki/%D0%90%D0%BD%D0%B6%D0%B5%D0%BB%D0%B8%D0%BA%D0%B0_%D0%9A%D0%B0%D0%B9%D1%80%D0%B0%D1%82%D0%BE%D0%B2%D0%B0, auf Kirgisisch).

Zuletzt möchte ich die berühmte Journalistin Nursat Toktosunowa vorstellen, die 1983 in Issyk-Kul geboren wurde und Mutter zweier Kinder ist. Toktosunowa war viermal verheiratet. Auch sie hat sich dem Glauben zugewandt und organisiert seitdem Workshops zu Themen wie Selbstfürsorge, Verpflichtungen gegenüber den Eltern, Zeitmanagement und wie man seine Kinder zu guten Menschen erzieht. In den sozialen Medien ist sie auf Facebook (8.000 Follower) und Instagram (350.000 Follower) aktiv. In ihren Livestreams auf Instagram spricht sie zum Beispiel über weibliches Wohlbefinden und Möglichkeiten der Stressbewältigung für Frauen, die in traditionellen kirgisischen Großfamilien leben. In einem Livestream, an dem ich selber teilnahm, hatte sie eine Psychologin eingeladen, wobei das Gespräch auf Kirgisisch geführt wurde, was nur selten vorkommt, da kirgisischsprachige Psycholog:innen an sich eine Seltenheit sind. Die Psychologin gab dabei Tipps und Ideen, wie man toxische Personen ignorieren und sich mehr auf die positiven Seiten des Lebens konzentrieren kann. Ein im September 2021 auf YouTube veröffentlichtes Interview mit Toktosunowa wurde mehr als 500.000 Mal aufgerufen (https://www.youtube.com/watch?v=mwPqdRkRZkc, auf Kirgisisch).

Alle drei Frauen haben gemein, dass sie unternehmungslustige, finanziell unabhängige Geschäftsfrauen und zugleich fromme muslimische Führungspersonen sind. Ihre sozialen Profile stehen dabei in Kontrast zu allgemeineren gesellschaftlichen Normen. Zum Beispiel hat Anjelika Kairatowa von sich aus die Scheidung von ihrem Ehemann eingereicht, was im patriarchalen Kirgistan nur selten vorkommt. Auch die Tatsache, dass Nursat Toktosunowa viermal verheiratet war, ist in der Region alles andere als Normalität. Aijan Akylbekowa wiederum war eine der ersten Frauen, die sich öffentlich dazu bekannte, die zweite Ehefrau ihres Mannes, dem Geschäftsmann Muchtar Omurakunow, zu sein. Wie ungewöhnlich diese Fälle sind, wird besonders vor dem Hintergrund meiner früheren Forschung zu familiären Spannungen in Kirgistan deutlich. Damals konnte ich herausfinden, dass über die Herausforderungen, mit denen alleinstehende oder geschiedene Frauen in ihrem Leben konfrontiert sind, nicht offen gesprochen wird, sondern diese vielmehr totgeschwiegen und verheimlicht werden. Wie sich herausgestellt hat, sahen sich viele Frauen aufgrund der Schande (uiat), die ihnen nach einer Scheidung entgegenschlug, gezwungen, ihre Heimatgemeinden zu verlassen. In vielen lokalen Gemeinden bin ich auf negativ konnotierte Erzählungen getroffen, die von »schlechten Frauen« handeln. Sowohl die Schicksale als auch die möglichen Zukunftsperspektiven geschiedener Frauen werden von ihren Familien, Verwandten und ihrer vormaligen sozialen Umgebung oft nicht mehr zur Kenntnis genommen; die späteren Lebensentscheidungen dieser Frauen bleiben den lokalen Gemeinden unbekannt. In diesem Zusammenhang wird die transformative Kraft deutlich, die von diesen drei berühmten Frauen und praktizierenden Musliminnen ausgeht: sie brechen nicht nur kulturelle und soziale Normen auf, sondern projizieren durch ihre mediale Reichweite Abbilder moderner Lebensentwürfe in die Öffentlichkeit, bis auf die lokale Ebene.

Akylbekowa, Kairatowa und Toktosunowa sind Beispiele dafür, wie sich Frauen nach einer Scheidung oder dem Tod ihres Ehemanns ein von Grund auf neues Leben aufbauen und alternative Vorstellungen davon entwickeln können, was es heißt, ein gutes Leben zu führen. An ihnen werden aber auch die Herausforderungen wahrnehmbar, die es für Frauen wie sie mit sich bringt, konstant an ihrem Image als einer »neuen« muslimischen Version ihrer selbst zu arbeiten, während sie weiterhin mit uiat, dem Gefühl der Schande, ringen. Hierbei ist wichtig zu verstehen, dass uiat zwar als »Schande« übersetzt werden kann, als sozialer Kontrollmechanismus aber vor allem durch seelische Effekte vermittelt ist: uiat ist eine innere Stimme, welche die »Schande« hervorruft und als geistige und körperliche Komponente kultiviert. In allen Interviews, die ich mit den drei Frauen geführt habe, spürt man die Scham, die sie begleitet. Wie ist eine neue Vorstellung von einem »guten Leben« möglich, wenn die Fundamente des alten Lebens erschüttert wurden? Unter solchen Umständen erweisen sich Widerstands- und Anpassungsfähigkeit als wichtige Charaktereigenschaften, die persönliches Wohlbefinden und mentale Gesundheit sicherstellen. Dabei nehmen wiederum islamische Moralvorstellungen für sie eine wichtige Rolle ein, was sich zum Beispiel an den Onlinekursen beobachten lässt, die Akylbekowa, Kairatowa und Toktosunowa organisieren.

Neue mediale Quellen Islamischer Bildung und die Demokratisierung religiöser Landschaften

Jüngere Forschungen zeigen, dass soziale Medien mittlerweile eine größere Rolle spielen als Fernsehen, Bücher, Zeitungen oder Magazine. Das gilt vor allem für die jüngere Generation, die mit kurzen Videos auf YouTube, Instagram oder TikTok und Messengerdiensten wie Telegram großgeworden ist. Ein Vorteil sozialer Medien gegenüber traditioneller Medien besteht darin, dass man viel mehr Menschen in viel kürzerer Zeit erreichen kann. Auch für islamische Gelehrte sind die sozialen Medien daher mittlerweile von großer Bedeutung. Schließlich erlangen nur diejenigen überregionale Bekanntheit, die über eigene Onlinekanäle verfügen. Manche von ihnen haben Millionen von Abonnent:innen. Soziale Medien bieten dabei nicht nur etablierten Personen sondern auch jüngeren Influencer:innen und Gelehrten eine Plattform. Eine Aktivistin war der Meinung, dass die sozialen Medien das Potential haben, die religiöse Landschaft radikal zu verändern, die im Prozess der digitalen Revolution demokratischer, inklusiver und weniger hierarchisch wird. Heutzutage können junge Menschen auf eine Vielzahl medialer Quellen zugreifen, um mehr über den Islam zu erfahren.

Baktygul, eine Dozentin der Islamischen Universität, beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Dialekten der arabischen Sprache in den einzelnen Ländern. Als ich sie traf, trug sie einen hübschen weißen Schal und elegante weiße Kleidung mit schwarzen Streifen. Sie bringt Tausenden von Schüler:innen aus verschiedenen Teilen Kirgistans in Onlinekursen Arabisch bei. Als junge Frau mit sehr positiver Ausstrahlung möchte sie das Interesse junger Menschen am Islam wecken. Sie hat viele weibliche Follower und möchte ihren Schüler:innen ein Vorbild sein. Deshalb legt sie laut eigener Aussage viel Wert auf Eleganz, gute Bildung und eine vielseitig interessierte Persönlichkeit. Sie verkörpert den Islam auf eine positive, stilvolle und gebildete Art, die auf viele junge Schüler:innen attraktiv wirkt. Sie spricht fließend Kirgisisch, Russisch und Arabisch.

Eine weitere Frau namens Damira, mit der ich gesprochen habe, nimmt selbst an den Onlinekursen der Islamischen Universität zu den Themen Islam und Koran teil. Da sie sich zuhause um ihre vier Kinder kümmert, war dies für sie die beste Möglichkeit, ihre religiöse Ausbildung fortzusetzen. Damira hält sich strikt an das alljährliche Fasten und betet fünfmal am Tag. Frauen wie sie haben sich für einen leisen Aktivismus entschieden: Sie versuchen, mehr über den Islam zu erfahren und die Menschen in ihrem sozialen Umfeld positiv zu beeinflussen. Sie führen mit ihren Verwandten Gespräche über den Islam und betonen dabei vor allem seine humanitären Aspekte und den Respekt vor Älteren. Dabei zeigt sich erneut, wie wichtig vielen Frauen ist, in religiösen Fragen zum Islam progressive Einstellungen und Bildung in den Vordergrund zu rücken.

Fazit

Islamische Aktivistinnen haben sich als zentrale Akteure der kirgisischen Zivilgesellschaft etabliert und stellen durch ihre mediale Reichweite wirkmächtig sozial und kulturell bedingte Normen in Frage. Ihr Online- und Offline-Aktivismus erstreckt sich über unterschiedlichste Bereiche, von karitativer und sozialer Arbeit über Mode, den Einsatz für Toleranz und Lebenscoaching bis hin zu Bildungsarbeit. Die digitale Revolution und die Verdrängung traditioneller Kommunikationsmittel durch neue Medien haben den Aufstieg des islamischen Aktivismus von Frauen in Kirgistan maßgeblich ermöglicht und mitbestimmt. Andererseits zeigen diese Entwicklungen, dass der Islam zentraler Bestandteil der kirgisischen Zivilgesellschaft ist und bleibt und in der Zusammenarbeit zwischen internationalen Akteuren mit lokalen Partner:innen über verschiedene Themengebiete hinweg immer berücksichtigt werden sollte.

Schließlich nutzen immer mehr junge Muslim:innen ihre Smartphones, um ihren Alltag zu organisieren und mit Freund:innen und Familie in Kontakt zu bleiben. Darüber hinaus konsultieren sie soziale Medien wie Instagram oder Odnoklassniki – ein soziales Netzwerk aus Russland, das mit Facebook vergleichbar und in vielen postsowjetischen Ländern verbreitet ist – und mobile Anwendungen wie WhatsApp, Telegram oder TikTok, wenn sie Fragen zu religiöser Lebensführung haben oder Ratschläge für den Alltag aus religiöser Perspektive suchen. Über diesen konstanten Austausch von Informationen und Neuigkeiten zwischen Freund:innen und Freundesfreund:innen konstituiert sich der virtuelle Raum als Ort der neuen kirgisischen Zivilgesellschaft, für die der Islam jenseits religiöser Retraditionalisierung progressive Visionen der Zukunft verbürgt.

Aus dem Englischen von Armin Wolking

Lesetipps / Bibliographie

  • Hoelzchen, Yanti. 2022. Mosques as religious infrastructure: Muslim selfhood, moral imaginaries and everyday sociality. Central Asian Survey, 41: 2, 368–384.
  • Ismailbekova, Aksana. The Importance of Female Islamic Activism in Kyrgyzstan. The Diplomat. 30. Dezember 2022, https://thediplomat.com/2022/12/the-importance-of-female-islamic-activism-in-kyrgyzstan/.
  • Ismailbekova, Aksana und Emil Nasritdinov. ‘Islamic Activism in Kyrgyzstan’. Unveröffentlichte Arbeit. 2022.
  • Louw, Maria. 2007. Everyday Islam in Post-Soviet Central Asia. London: Frank Cass Publishers.
  • Pelkmans, Mathijs. 2017. Fragile Conviction: Changing Ideological Landscapes in Urban Kyrgyzstan. Ithaca, New York: Cornell University Press.

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