Einparteienherrschaft mit pluralistischer Fassade. 
Die vorgezogene Parlamentswahl in Kasachstan 2023

Von Akbota Karibayeva (George Washington University), Nicole Anselmo (University of Oxford)

Am 19. März 2023 fanden in Kasachstan vorgezogene Parlamentswahlen statt, die den letzten Schritt von Tokajews »vollständiger Erneuerung des politischen Systems« darstellen sollten. Wie früher konnte die Regierungspartei »Amanat« allerdings wieder die überwältigende Mehrheit der Sitze auf sich vereinen. Die Wahlergebnisse legen also nahe, dass es nicht viel neues im »Neuen Kasachstan« gibt.

Im Anschluss an die Geschehnisse vom Januar 2022, die allgemein als »Blutiger Januar« bezeichnet werden, kündigte Präsident Tokajew ein Reformpaket an, welches das superpräsidiale System des Landes in eine »Präsidialrepublik mit einem starken Parlament« verwandeln sollte. Skeptische Stimmen äußerten Zweifel daran, ob die Reformen geeignet sind, ein wirksames Gegengewicht zur Exekutive zu schaffen und tatsächlichen Wettbewerb bei den Wahlen zu ermöglichen. Trotzdem hofften viele auf Veränderungen. Der Umstand, dass die herrschende Partei Amanat bei den Wahlen zur achten Majilis ihre Dominanz sichern konnte, macht zusammen mit Tokajews erdrutschartigem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im November 2022 deutlich, dass man zumindest auf der nationalen Ebene wohl nicht mehr mit einer politischen Liberalisierung rechnen kann.

Diesmal sollte alles anders werden…

Nach Jahrzehnten des politischen Stillstands und Wahlen, die keine wirkliche politische Bedeutung hatten, sondern eher ritueller Natur waren, sollte das Reformpaket von 2022 das Wahlsystem »grundlegend transformieren«. Bisher galt für die Majilis, das Unterhaus des kasachstanischen Parlaments, ausschließlich ein Verhältniswahlrecht, wodurch die Regierungspartei Nur Otan (jetzt Amanat) in der Vergangenheit ihre Dominanz absichern konnte. Tokajew erkannte die wachsende Apathie der Bevölkerung gegenüber Wahlen und betonte deshalb die Notwendigkeit eines politischen Pluralismus, der es kleineren Parteien und unabhängigen Kandidat:innen ermöglichen würde, als wettbewerbsfähige Optionen in Wahlen anzutreten.

Im Kontext der Reformen wurden die Hürden zur Registrierung neuer Parteien reduziert. Eine Initiativgruppe, die zuvor 1.000 aktive Mitglieder aus verschiedenen Regionen benötigte, benötigt nun nur noch 700 Mitglieder, die persönlich am Gründungskongress teilnehmen. Obwohl die erforderliche Mitgliederzahl fast um ein Drittel gesenkt wurde, sind die Registrierungsbarrieren noch immer hoch und stellen neue Parteien vor Herausforderungen. Diese neuen Parteien verfügen oft nicht über die organisatorischen und materiellen Kapazitäten, um genügend Personen aufzubringen, die bereit und in der Lage sind, zum Gründungskongress zu reisen. Neben den Änderungen an der Parteigesetzgebung wurde ein gemischtes Mehrheitswahlrecht eingeführt, in dem 70 % der Mandate (d. h. 69 Sitze) über Parteilisten vergeben werden, wobei eine Fünf-Prozent-Hürde gilt, während die übrigen 30 % Mandate durch Direktwahl in Einzelwahlkreisen vergeben werden. Dadurch konnten zum ersten Mal unabhängige und parteilose Kandidat:innen um 29 Direktmandate für das Parlament konkurrieren.

Auch wenn diese Veränderungen nicht revolutionär sind, erhöhten sie doch die Chancen für neue Stimmen, die politische Bühne zu betreten. Das Engagement zivilgesellschaftlicher Aktivist:innen blieb schließlich weiterhin hoch, weshalb im Vorfeld des 19. März echte Hoffnungen auf einen tatsächlichen Wandel aufkamen.

Hoffnung und Realität

Letztlich haben die Änderungen des Wahlsystems nicht zu mehr Pluralismus geführt, wie viele Menschen gehofft hatten. Trotz der geringeren Zulassungshürden stießen Aktivist:innen und Oppositionsparteien auf große Schwierigkeiten bei der Registrierung. Den Parteien »Alga Kasachstan« und »Namys« wurde die Registrierung wegen angeblich »unvollständiger Anträge« erneut verweigert. Die Parteien selbst bezeichneten die Entscheidung der Behörden als politisch motiviert.

Lediglich zwei neue Parteien konnten eine Registrierung erwirken – die grüne Partei »Baytaq« und »Respublica«. Beide Parteien gelten als Erfindung des Staates. Der Vorsitzende von Baytaq, Asamatkhan Amirtay, hat u. a. leitende Positionen in staatlichen Unternehmen wie der nationalen Eisenbahngesellschaft »Temir Scholy« bekleidet und war Mitglied mehrerer regimenaher Institutionen wie dem »Nationalen Rat für Öffentliches Vertrauten«. Er war bisher nicht dafür bekannt, sich für Umweltbelange einzusetzen. Unterdessen erklärte der Vorsitzende von Respublica, Beibit Alibekow, das Ziel seiner Partei sei die Unterstützung von Tokajews Reformen und dass keine »fanatischen Populisten an die Macht kommen.«

Fünf bereits zuvor existierende Parteien, die es auf den Wahlzettel geschafft haben, gelten allgemein als regimenah und traten im Wahlkampf daher gar nicht erst als Oppositionsparteien, sondern lediglich komplementäre Alternativen an. Die Partei »Auyl« (»Dorf«) positionierte sich im Wahlkampf als Vertretung ländlicher Interessen, »Ak Dschol« als Vertretung von Wirtschaftsinteressen. Weder die etatistisch orientierte Nationale Sozialdemokratische Partei noch die Volkspartei Kasachstans (ehemals Kommunistische Volkspartei) setzten sich im Wahlkampf vom Programm der herrschenden Partei Amanat ab.

Im Vergleich zur Listenwahl boten Einzelwahlkreise mehr Raum für Wettbewerb und Ergebnisoffenheit. Jedoch wurde auch hier vielen prominenten Aktivist:innen, die sich als unabhängige Kandidaten zur Wahl aufstellen lassen wollten, bereits im Vorfeld die Zulassung verweigert. Einige Kandidat:innen wurden aufgrund formaler Fehler in ihren Antragsformularen, Bankdeklarationen und Meldebescheinigungen abgelehnt. Andere, wie die prominente Aktivistin Aigerim Tleuschan, wurden wegen »krimineller Aktivitäten« während der Unruhen im Januar 2022 angeklagt oder als Verdächtige geführt. 82 der abgelehnten Kandidat:innen reichten Klage gegen die Entscheidung der Zentralen Wahlkommission ein. Sechs von ihnen wurde vor Gericht Recht gegeben und nachträglich zur Wahl zugelassen. Diese offensichtlichen Unstimmigkeiten zwischen der Wahlkommission und den Gerichten legen immerhin eine gewisse Unabhängigkeit von letzteren nahe.

Am Wahltag kam es nach Berichten zivilgesellschaftlicher Gruppen zu zahlreichen Fällen von Wahlbetrug und Regelverstößen. Ausgebildete Wahlbeobachter:innen, die von den Organisationen MISK und Erkindik Kanatty entsendet wurden, berichteten, von Vertreter:innen der Wahlkommissionen in den Wahlkreisen unter Druck gesetzt worden zu sein. Einige Beobachter:innen wurden aus Wahllokalen verwiesen, weil sie Fotos gemacht und Wahlrechtsverstöße dokumentiert haben. So wurden sie auch daran gehindert, die Stimmauszählung zu beobachten und die endgültigen Ergebnislisten einzusehen. Trotz solcher Behinderungen ihrer Arbeit konnten Beobachter:innen Videobeweise veröffentlichen, die zeigen, dass Wahlurnen en masse mit Stimmzetteln aufgefüllt wurden, einzelne Personen mehrfach abstimmten und Ergebnislisten mit gefälschten, schon vor der Wahl vorbereiteten Auszählungsergebnissen präsentiert wurden.

Entgegen dem Versprechen, einen wirklichen Wettbewerb zu ermöglichen, zeigen die am 20. März verkündeten Wahlergebnisse, dass die Zugeständnisse beim Wahlrecht weitgehend symbolischer Natur waren. Bei der Listenwahl gewann Amanat 54 % Prozent der Stimmen, Auyl 11 %, Respublica 9 %, Ak Dschol 8 %, die Volkspartei 7 % und die Sozialdemokraten 5 %. In 23 von 29 Einzelwahlkreisen gewannen von Amanat aufgestellte Direktkandidat:innen.

Forderungen unabhängiger Kandidat:innen nach einer Neuauszählung der Stimmen in ihren Einzelwahlkreisen wurden ohne Begründung abgelehnt. Eine Untersuchung der Ergebnislisten ergab, dass unabhängige Kandidat:innen vor allem die Wahlkreise gewinnen konnten, in denen Beobachter:innen in den Wahllokalen präsent waren, während Amanat in Wahllokalen ohne Beobachter:innen mit weitem Abstand vorne lag. Dies verdeutlicht, dass die Anwesenheit von unabhängigen Wahlbeobachter:innen trotz (oder gerade wegen) der gemeldeten Verstöße einen erheblichen Einfluss auf die Transparenz und Regelkonformität der Wahl hatte, weshalb sie in diesen Wahlkreisen »sauberer«, wenn auch nicht perfekt, ablief.

Sechs selbstnominierte Kandidaten gewannen Direktmandate für die Majilis. Zwei von ihnen – der Blogger und Journalist Daulet Mukajew und der MMA-Kämpfer Ardak Nasarow – sind aktuell Mitglieder von Amanat. Sie gehörten ursprünglich der regierungstreuen Partei Adal an, die 2022 in Amanat aufging. Zwei weitere erfolgreiche Kandidaten zeichnen sich durch ihre bereits gesammelte politische Erfahrung aus: der Geschäftsmann Jerlan Stambekow war 19 Jahre lang Mitglied in Amanats Vorgängerpartei Nur Otan, bevor er die Partei nach den Präsidentschaftswahlen 2019 verließ, weil er mit der Richtung, in die sich die Partei entwickelte, und den Repressionen des Regimes gegenüber friedlichen Demonstrant:innen nicht einverstanden war. Der Journalist Jermurat Bapi war Mitglied der Nationalen Sozialdemokratischen Partei, wurde jedoch aufgrund interner Streitigkeiten aus der Partei ausgeschlossen. Bapi hat Verbindungen mit im Exil lebenden kasachstanischen Dissident:innen, gehört aber gleichzeitig dem Nationalen Kurultai, einem Beratungsgremium des Präsidenten, an. Danijar Kaskarauow, der ebenfalls ein Mandat gewann und Präsident eines Kampfsportvereins ist, scheint indes keine politische Erfahrung oder eine besondere Agenda aufzuweisen.

Der letzte erfolgreiche selbstnominierte Direktkandidat ist Absal Kuspan, ein Anwalt aus der Region Westkasachstan, der auf eine solidere Vergangenheit als politischer Aktivist zurückblicken kann. In aufsehenerregenden Gerichtsprozessen verteidigte er 2012 die Opfer von Schangaösen sowie den Anführer einer Sufi-Vereinigung aus Almaty, der als politischer Gefangener galt. Während des Blutigen Januars trat Kuspan mit Forderungen nach politischen Reformen hervor. Später wurde er wegen »Teilnahme an einer illegalen Kundgebung« für zehn Tage verhaftet. Obwohl sein Wahlsieg von Verdacht auf Wahlbetrug und angeblicher Verbindungen zu Amanat überschattet wird, ist Kuspan womöglich der unabhängigste Abgeordnete in der neuen Majilis. Zusammen könnten die selbstnominierten Abgeordneten, die nicht Amanat angehören, ihre Plattform nutzen, um abweichenden Meinungen Gehör zu verschaffen, drängende Probleme auf die politische Agenda zu setzen und Raum für einen tatsächlichen politischen Pluralismus bei künftigen Wahlen zu schaffen.

Ein Neues Kasachstan?

Amanat konnte mit 63 von insgesamt 98 Sitzen die eigene Dominanz in der neuen Majilis erfolgreich behaupten. Abgesehen von vier parteilosen und selbstnominierten Kandidaten gingen die restlichen Sitze an regimenahe Parteien und Kandidaten. Das mag nicht der Pluralismus sein, der den Wähler:innen versprochen wurde, die Wahl ist allerdings trotzdem mehr als eine bloße Neuauflage der inszenierten Wahlen aus der Nasarbajew-Ära, in der Nur Otan mal alle Sitze gewann (wie 2007), mal die Wahlbeteiligung auf 95 % aufgebläht wurde (wie bei den Präsidentschaftswahlen 2015).

Die Wahlbeteiligung lag bei nur 54 %, was zumindest nahelegt, dass die Wahlergebnisse diesmal nicht so stark gefälscht wurden wie bisher. OSZE-Beobachter:innen vermuten zwar, dass die Anzahl der abgegebenen Stimmen größer war als die Anzahl von Menschen, die tatsächlich wählen gegangen sind, es gibt jedoch keine Beweise dafür, dass die Wahlbeteiligung in einem Maße wie bei früheren Wahlen aufgebläht wurde. Die Regierung hat den Universitäten dieses Jahr verboten, ihre Student:innen zu organisierten Massenstimmabgaben zu zwingen, was zweifelsfrei zur geringen Wahlbeteiligung beigetragen hat. Der Umstand, dass nur ein kleiner Teil der Gesellschaft überhaupt wählen gegangen ist, fügt der Legitimität der Regierungspartei einen empfindlichen Kratzer hinzu. Und die Tatsache, dass unabhängige Kandidat:innen nicht nur zur Wahl antreten durften, sondern einige von ihnen sogar tatsächlich ein Mandat erlangten, kann als kleiner Schritt einer allmählichen institutionellen Evolution gewertet werden.

Eine große Verbesserung zu früher ist die gestiegene zivilgesellschaftliche Beteiligung: die Menschen zeigen sich aktiv, engagiert und hungrig nach Fortschritt. An der Zusammensetzung der Regierung mag sich nichts geändert haben und auch das Reformprogramm hat nicht den erhofften Wandel gebracht. Trotzdem ist in der Zivilgesellschaft und der Bevölkerung im Allgemeinen eine veränderte Stimmung und Einstellung zu spüren. Die Menschen fordern Repräsentation und eine zu Verantwortung bereite Politik. Zwar wurden ihre Forderungen durch diese Parlamentswahl noch nicht erfüllt, doch wer weiß, wie es bei der nächsten aussehen wird?

Aus dem Englischen von Armin Wolking

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