Der unerkannte Wandel? Turkmenistans kulturelle und architektonische Transformationen anhand der Beispiele Turkmenbaschy und Aschgabat

Von Franziska Tedesca (Aschgabat)

Zusammenfassung
Entgegen der allgemeinen Tendenz zu gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Öffnung in Zentralasien bleibt Turkmenistan bis heute eines der verschlossensten Länder der Welt. Aufgrund der vom herrschenden Regime forcierten Abschottung von der Außenwelt gibt es in der Sozial- und Kulturwissenschaft praktisch keine empirische Forschung über gesellschaftliche Transformationsprozesse in Turkmenistan. Die seit 2021 in Aschgabat lebende Autorin des Beitrages möchte daher einige persönliche Beobachtungen darlegen, die sie seit dem Beginn ihrer beruflichen Tätigkeit als Lehrkraft im Land gemacht hat. Anhand der Entstehung und des Bedeutungswandels von Denkmälern, Wahrzeichen und neuen Gebäudekomplexen in Turkmenbaschy und Aschgabat werden soziale und wirtschaftliche Gegenwartsphänomene analysiert, die Aufschluss über kulturelle Entwicklungen in der aktuellen Phase des turkmenischen Nation-Building geben. Die städtebauliche Transformation wird u. a. von sprachlichen Veränderungen begleitet, die sich vor dem Hinter- grund des architektonischen und kulturellen Wandels in Turkmenistan vollziehen.

Turkmenbaschy

Der Ausgangspunkt unserer Betrachtung des aktuellen kulturellen Wandels in Turkmenistan ist die am Kaspischen Meer gelegene Hafenstadt Turkmenbaschy, die seit dem 19. Jahrhundert als »Tor nach Zentralasien« eine wichtige Rolle spielt. Größter Wirtschaftsfaktor der Stadt ist das Kaspische Meer, das größte Binnengewässer der Welt, das hohe Kohlenwasserstoffvorkommen aufweist und an Turkmenistan, Iran, Aserbaidschan, Russland und Kasachstan grenzt. Das Kaspische Meer ist die wichtigste Ressource für die lokale Fischerei und international begehrte Meeresprodukte wie die Meeräsche und den Beluga-Stör, dessen Rogen als exklusiver Kaviar vermarket wird. Der Hafen mit seinem wachsenden Güterverkehr ist ein wichtiger Arbeitgeber in der Stadt und als internationale Devisenquelle von enormer ökonomischer Bedeutung für das Land. Von hier aus fahren Güterzüge bis an die afghanische Grenze, nach Usbekistan und in den Iran. Die internationale Bedeutung von Turkmenbaschy wird auch anhand der aktiven Bohrinseln vor der Küste deutlich, die von globalen Ölkonzernen wie Petronas oder der emiratischen Dragon Oil betrieben werden. Die hier erwirtschafteten Petrodollars schlagen sich allerdings nicht in Wohlstand für die lokale Bevölkerung nieder.

Der in Turkmenbaschy gefangene Meeresfisch wird täglich in die kaspischen Anrainerländer exportiert, ein Teil wird nach Aschgabat gebracht, wo er in den Töpfen der teuren Restaurants oder in den Auslagen auf den Märkten landet. Der Großteil der turkmenischen Bevölkerung, die von einem monatlichen Durchschnittseinkommen von umgerechnet 100 bis 150 US-Dollar lebt (umgerechnet nach dem inoffiziellen Parallelkurs, denn die Landeswährung Manat kann nirgendwo zum offiziellen Kurs in US-Dollar getauscht werden), kann sich die teuren Produkte aus dem Kaspischen Meer nicht leisten und greift daher auf die preiswerteren Fischsorten aus dem Amu-Darja oder Aquakulturen zurück. Ansonsten wird sowieso eher Fleisch gegessen. Rindfleisch, das praktisch immer erhältlich ist, kostet weniger als drei US-Dollar pro Kilogramm. Trotz Turkmenistans großer Fischereiwirtschaft am Kaspischen Meer bleibt Fisch eher ein Luxusprodukt und wird in den einfacheren Restaurants auch gar nicht angeboten.

Von Aschgabat verkehrt täglich ein Zug in die turkmenische Küstenstadt. In den Sommermonaten, wenn es die Hauptstädter zur Erholung ans Kaspische Meer zieht, sind die Züge nach Turkmenbaschy immer ausgebucht, genauso die Inlandsflüge. Tickets für Zug und Flugzeug sind dann nur schwer zu bekommen, weshalb oftmals nur eine lange und gefährliche Überlandfahrt als Option bleibt. Nahe Turkmenbaschy liegt die Resort-Stadt Awaza, die 2013 eröffnet wurde und das einzige vollwertige Feriengebiet im Land ist. Aufgrund ihrer Lage direkt am Kaspischen Meer ist die Anlage bei den Turkmenen, trotz der oftmals schwierigen Anreise im Sommer, mittlerweile sehr beliebt. Entgegen den Pressemitteilungen der staatlichen Kanäle kann man aber nicht von einer Resort-Stadt mit internationalem Status sprechen. So haben etwa im Gegensatz zur boomenden georgischen Küstenstadt Batumi keine internationalen Hotelketten in Awaza investiert. In der Folge entsprechen oft nur die Hotelpreise internationalen Standards, während die Qualität dahinter zurückbleibt. Hinzu kommt, dass die restriktive Visavergabe jeglichen Individualtourismus aus den Nachbarländern verhindert. So nimmt zum Beispiel niemand die unregelmäßig zwischen Baku und Turkmenbaschy verkehrende Fähre, um für ein paar Tage Erholung nach Awaza zu reisen. Und bisher ist auch niemand aus dem iranischen Maschhad nahe der turkmenischen Grenze auf die Idee gekommen, für einen Besuch von Awaza eine Tour nach Turkmenbaschy zu buchen. Die einzigen internationalen Touristen sind ausländische Diplomaten, die aus Aschgabat mit ihren Familien für ein paar Tage ans Meer kommen.

Schließlich trägt auch die nur für Ausländer geltende Doppelauspreisung von Zimmern und Unterkünften zum Ausbleiben von internationalen Gästen bei, die unter diesem System sechsmal mehr als Einheimische für ein Hotelzimmer bezahlen müssen. Zudem ist Ausländern die Übernachtung in privaten Wohnungen oder Häusern nicht gestattet. Ein weiterer Faktor, der sich negativ auf die touristische Entwicklung von Awaza auswirkt, ist das allgemeine Reiseverbot für alle ausländischen Geschäftspersonen, die sich in Aschgabat aufhalten. Schließlich bleiben die meisten für Ausländer ausgestellten Aufenthaltserlaubnisse auf die Hauptstadt begrenzt, die sie daher offiziell nicht verlassen dürfen. Die Autorin kannte einen chinesischen Studenten an einer staatlichen turkmenischen Universität, der in seinem ganzen fünfjährigen Studium Aschgabat offiziell nie verlassen hat. Trotzdem hat er manchmal das Risiko auf sich genommen, wobei seine wenigen unautorisierten Tagestrips aus der Hauptstadt eine mit Stress verbundene rechtliche Grauzone darstellten. Die wenigen internationalen Reisegruppen, die von Pauschalanbietern organisiert werden, wollen oft auch nur Aschgabat und archäologische Stätten wie Merw besichtigen. Es ist zudem nicht klar, ob von offizieller turkmenischer Seite überhaupt ein Interesse daran besteht, dass ausländische Reisegruppen die sichtlich ärmeren Städte im Rest des Landes zu sehen bekommen.

Das generelle Desinteresse, das ausländische Touristen Turkmenbaschy entgegenbringen, sollte jedoch nicht über die reichhaltige Geschichte der Stadt als »Tor nach Zentralasien« hinwegtäuschen. Bis heute zeugen unter Denkmalschutz stehende Überreste von der einstigen Festung, die der russische General Nikolai Stoletow hier 1869 als Ausgangspunkt für die weitere imperiale Expansion des Russischen Kaiserreiches in diesem Teil von Turkestan errichten ließ. Die Fertigstellung der transkaspischen Eisenbahn nach über 20 Jahren Bauzeit am Anfang des 20. Jahrhunderts markierte die vollständige wirtschaftliche und infrastrukturelle Integration Turkestans ins Russische Kaiserreich (Högselius 2022, S. 230). Auf dieser traditionsreichen, überwiegend eingleisigen Eisenbahnstrecke wurden seit dem späten 19. Jahrhundert Weizen nach Turkestan importiert und Baumwolle aus Turkestan exportiert, im Ersten und Zweiten Weltkrieg Soldaten und Ausrüstung an die Front und Flüchtlinge aus Osteuropa in Sicherheit gebracht. Mit ihr gelangt man heute in gut zwölfstündiger Fahrt nach Aschgabat (für die historische Bedeutung der transkaspischen Eisenbahn siehe auch Bailey 1992). Die Fahrt verläuft überwiegend entlang des Kopetdag und durch historische Orte wie Gökdepe. Dort befindet sich u. a. die größte Moschee des Landes, das Mausoleum des ersten Präsidenten Sapamurat Nijasow und seiner Familie sowie ein Museum zum Gedenken an die Niederlage der turkmenischen Teke-Dynastie gegen die russische Armee im Jahr 1881. Der Autorin wurde gesagt, dass die Moschee nur einmal im Jahr wirklich voll sei, nämlich am Todestag von Nijasow. Das spiegelt auch die eher geringe Rolle des Islam wider, der vor allem im Privaten praktiziert wird und sich in der Öffentlichkeit deutlich dem herrschenden Personenkult um »Nationalführer« Gurbanguly Berdymuchamedow unterordnen muss. So werden zum Beispiel auch Freitagsgebete als eher lapidare Angelegenheit behandelt und die Autorin des Beitrags hat noch nie erlebt, dass sich auch nur ein Student abmeldet um während der Unterrichtszeit zur Moschee gehen zu können.

Aschgabat

Aschgabat steht wohl am sinnbildlichsten für den kulturellen Wandel in Turkmenistan, der sich im Fall der Hauptstadt von verschiedenen zeitlichen und räumlichen Ausgangspunkten aus beschreiben lässt. Am zweckmäßigsten ist womöglich im Jahr 2017 mit dem Olympischen Sportkomplex zu beginnen, als sich Turkmenistan der Welt als scheinbar makelloser Gastgeber der 5. Asian Indoor and Martial Arts Games präsentierte. Das von der Regierung seit 2010 penibel geplante Multi-Sportevent sollte den internationalen Gästen in pompösen Prachtbauten und erstklassigen Sportanlagen präsentiert werden. Vom staatlich inszenierten Pomp abgelenkt richteten nur wenige ausländische Journalisten einen Blick auf die Kehrseite des Spektakels. So markierte das Jahr 2017 für einen Großteil der turkmenischen Bevölkerung auch den Beginn einer neuen Phase von finanzieller und sozioökonomischer Not, nachdem im Vorjahr die offizielle Möglichkeit zum freien Umtausch der Lokalwährung Manat in US-Dollar abgeschafft wurde. Die seit 2016 im Land vorherrschende Wirtschaftskrise hält bis heute an und drückt sich in hoher Inflation, einem schwankenden Parallelkurs (und damit unsteten Import ausländischer Güter) sowie einer immer weiter verschärfenden Ernährungsunsicherheit aus (Anceschi 2020). Unter den heimisch produzierten Grundnahrungsmitteln ist nur der Milchpreis relativ stabil, während sich die Preise für Butter und Sonnenblumenöl, trotz staatlicher Subventionierung, seit 2022 um 50 bzw. 75 % erhöht haben. Bei rund 100 US-Dollar monatlichem Durchschnittseinkommen ist aber selbst der staatlich preissubventionierte Liter Milch für umgerechnet 80 US-Cent sehr teuer. Trotz dieser wirtschaftlichen Umstände messen die Bewohner Aschgabats dem mittlerweile sieben Jahre zurückliegenden Sport-Event weiterhin große Bedeutung bei, nachdem die turkmenischen Sportler überraschend den ersten Platz im Medaillenspiegel belegt haben, noch vor den großen Favoriten wie Japan, Südkorea und China.

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Im März 2022 hat Turkmenistan den zweiten Wechsel im Präsidentenamt seit der Unabhängigkeit erlebt, nachdem Berdymuchamedow die Rolle des Staatsoberhauptes formal an seinen Sohn Serdar abgetreten hat. Dessen ungeachtet zeichnet sich das herrschende Regime selbst im Vergleich mit ähnlichen Systemen weiterhin durch eine erstaunliche Kontinuität im Grad an personalistischer Herrschaft aus, was Beobachtern schon nach dem ersten Machtwechsel im Jahr 2006 aufgefallen ist (Vgl. Bohr 2016, S. 7). Daher ist Aschgabat und der kulturelle Wandel, der sich hier besonders gut ablesen lässt, auch immer ein Abbild von aktuellen Dynamiken an der Spitze des Landes. In dieser Hinsicht stellt die Einweihung des goldenen Reiterstandbildes vom damaligen Präsidenten und heutigen »Nationalführer« Gurbanguly Berdymuchamedow im Jahr 2015 einen weiteren Ausgangspunkt zur Beschreibung transformativer Tendenzen in Turkmenistan dar. Im Staatsarchiv von Aschgabat gibt es eine Ausgabe der Tageszeitung des Ministerkabinetts, datiert auf den 26. Mai 2015, in der es über acht Seiten ausschließlich um die Einweihung geht. Das dort abgedruckte und von Fotos jubelnder Menschenmengen verzierte Gedicht Radost Duschi Naroda – Monument »Arkadag« ist eine kostbare Quelle für jeden, der einen authentischen Einblick in das Selbstverständnis des turkmenischen Regimes erhalten möchte, das in westlichen Medien oft auf seine besonders grotesken Erscheinungsformen reduziert wird. Verfasst wurde das Gedicht von der Poetin Gosel Schagulyjewa (geb. 1940), die trotz der Prominenz ihrer Werke noch nicht in die von Männern dominierte Galerie bedeutender turkmenischer Literaten im »Park der Inspiration« in Aschgabat aufgenommen wurde. Zum Zweck der Dokumentation und in Anbetracht des Mangels an zugänglichen Schriftdokumenten aus Turkmenistan, sei das auf Russisch abgedruckte Gedicht anbei in voller Länge nach einer freien Übersetzung zitiert:

Freude der Volksseele – Monument »Arkadag« (»Patron«)

Wir sind umgeben vom Blumenmeer,

das Schönheit und Duft verleiht.

Heute ist offen für die ganze Welt-

Unser turkmenischer Herd

Er ist großzügig, wie nie zuvor,

Und wie immer ist er heilig.

Freude der Volksseele – Monument »Arkadag«

Zwischen dem heutigen und dem gestrigen Tag,

Als wären Jahrhunderte vergangen.

Zeit vergeht mit dir noch schneller.

Du hast Kraft, die ist groß,

Die Seele ist offen für Freunde

Voll von Gutem und breit.

Freude der Volksseele – Monument »Arkadag«.

Sorge um den Menschen – das ist die Hauptdevise von heute.

Frieden in unserem Haus, wo jeder leicht und frei atmet,

die Blumen der Güte sind wunderbar,

ihre Schönheit ist edel.

Freude der Volksseele – Monument »Arkadag«.

Das Volk lebt besser und länger im glücklichen Land

So viel mit dir geschafft, viele Jahre im Voraus

Herzen sind für dich offen, Dankbarkeit ist in ihnen,

Freude der Volksseele – Monument »Arkadag«

Ich freue mich über die mächtige Kraft, die uns inspiriert,

Sitzt du auf dem weißen Pferd, dann wächst diese Größe noch mehr

In diesem Moment haben wir geflügelte Seelen,

und wunderbar ist der Flug.

Freude der Volksseele – Monument »Arkadag«.

Energie, Wille und Entschiedenheit – im Rhythmus deiner Schritte

Du hast eine besondere Haltung, das kommt von unseren Vätern,

Auf unserem Boden wurde Treue die wichtigste Grundlage

Freude der Volksseele – Monument »Arkadag«

Alles wurde für das Volk gemacht,

Zu seinem Wohle.

Liebe zu dir und Dankbarkeit wächst in unseren Herzen

Möge Gott die Größe deiner Arbeit segnen

Lass Gott dich erhalten

Freude der Volksseele – Monument »Arkadag«

Gosel Schagulyjewa

Volkskünstlerin Turkmenistans

Preisträgerin des Internationalen Magtymguly-Preises

Diesen Huldigungsversen entsprechend zeigt das komplett in Gold gehaltene Denkmal Gurbanguly Berdymuchamedow den Oberkörper aufgerichtet auf seinem Pferd sitzend. Das 21 Meter hohe Monument ist eine bewusste Reminiszenz an klassische Reiterstandbilder, die seit der griechischen Antike zur Verehrung von Königen und Kaisern errichtet wurden. Der Betrachter des Monumentes wird damit unweigerlicher Bestandteil des Ensembles zur Versinnbildlichung von personalisierter Staatsmacht und autokratischer Verfügungsgewalt im unabhängigen Turkmenistan. Die im Monument vom Nationalführer verkörperte Reifikation turkmenischer Staatlichkeit und Unabhängigkeit steht dabei in räumlicher Relation zu Aschgabats zahlreichen kleineren Denkmälern für turkmenische Dichter aus der Sowjetära. Diese hat man zwar lange hinter sich gelassen, bleibt durch die Statuen jedoch bewusst im Stadtbild archiviert. Mit dieser Denkmalpolitik hebt sich Aschgabat deutlich von Taschkent und Duschanbe ab, wo die monumentale Inszenierung von unabhängiger Staatlichkeit nicht den historischen Bezug zur eigenen Sowjetgeschichte, sondern vielmehr den Bruch mit ihr betont.

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Die aus der Sowjetzeit erhaltenen Denkmäler sind u. a. den Dichtern Puschkin, Schewtschenko und Magtymguly gewidmet, jedoch ist das Lenin-Denkmal wohl das prominenteste aus dieser Zeit. Es ist eines der wenigen außerhalb Russlands erhaltenen Monumente für den Gründer der Sowjetunion (siehe auch Atagarryev et al., 1974). Es steht auf der Rückseite des Magtymguly-Theaters in einem kleinen Park, der an das ehemalige Archiv der Kommunistischen Partei anschließt. Am Archiv befindet sich das gut erhaltene Relief des sowjetischen Bildhauers Ernst Neiswestny. Es war dessen letzte Arbeit vor seiner Emigration in die USA 1976. Für das 1927 aufgestellte Lenin-Denkmal wurden turkmenische Kunstelemente mit Majolika-Kacheln kombiniert, was für eine auffällige Gestaltung sorgt. Die in arabischer Schrift eingelassene Gravur »Lenin«, die bis heute unverändert ist, zeugt von der Zeit, in der für die turkmenische Sprache noch die arabische Schrift verwendet wurde. Schließlich wurde in der Turkmenischen SSR erst 1928 die lateinische Schrift eingeführt, die Anfang der 1940er Jahre erneut durch das Kyrillische ersetzt wurde.

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Nach der Unabhängigkeit wurde 1993 wieder zur Lateinschrift zurückgewechselt. Vor allem ältere Menschen, die nie Englisch gelernt haben, tun sich bis heute mit der lateinischen Schrift des modernen turkmenischen Alphabets schwer und können, laut den Studenten der Autorin, teilweise ihre eigene Sprache nicht richtig lesen. Hinzu kommt der zunehmende Verlust der Bedeutung des Russischen als Alltagssprache. Auch wenn die offizielle Presse gerne die angestrebte Dreisprachigkeit des Landes betont (Turkmenisch, Russisch und Englisch), ist die Realität doch eine andere. Ältere Menschen, die vor 1985 geboren wurden, sprechen in der Regel noch auf einem mittleren bis hohen Niveau Russisch, während die Jüngeren Russisch immer weniger beherrschen. Russisch ist jedoch weiterhin die Bildungssprache, weshalb die Bildungselite des Landes weiterhin gutes Russisch spricht. Zudem habe sehr viele Russen, die zu Sowjetzeiten in der Turkmenischen SSR gelebt haben, Turkmenistan seit der Unabhängigkeit verlassen. Aufgrund des repressiven Regimes und der katastrophalen wirtschaftlichen Situation gibt es jedoch auch einen schleichenden Exodus der Turkmenen selbst. Laut unabhängigen Beobachtern befindet sich Turkmenistan sogar in einem drastischen demographischen Zerfall, wobei davon ausgegangen wird, dass statt der offiziell sieben Millionen (Stand 2023) tatsächlich nur noch maximal 2,8 Millionen Menschen im Land leben (RFE/RL’s Turkmen Service 2023). Im Alltag macht sich das durch die auffällig leeren öffentlichen Plätze und Straßen bemerkbar. Große Sportveranstaltungen und andere offizielle Anlässe werden daher vor allem per Abordnung von Studenten und Lehrern aus den Universitäten abgedeckt. So ist es zum Beispiel auch verpflichtend, bei der Buchung einer Universitäts-Aula für eine Veranstaltung dafür zu sorgen, dass alle Plätze belegt sind. Man möchte von offizieller Seite in jedem Fall den Eindruck vermeiden, dass die Aula oder die Stadt leer seien. Durch die wiederholte Nötigung zur Teilnahme an Veranstaltungen geht Studenten regelmäßig wertvolle Studienzeit verloren, was oft als Grund für das Vermeiden eines Studiums an turkmenischen Universitäten genannt wird. Daher versucht jeder, der die finanziellen Möglichkeiten dazu hat, einen begehrten Studienplatz im Ausland zu finden. Beliebt sind Russland, Belarus, die Ukraine (vor dem Krieg), Kasachstan und die Türkei, aber auch China, Südkorea und Deutschland.

Fazit: Turkmenisches Nation-Building im Jahr von Magtymguly Pyragy

Laut dem Anthropologen Ernest Gellner ist Nationalismus nichts anderes als die Auferlegung einer Hochkultur auf die Gesellschaft durch eine nationale Elite. Für die turkmenische Elite, die sich zur Herrschaftslegitimation seit der Unabhängigkeit eines nationalistischen Diskurses bedient (Akbarzadeh 1999), ist Aschgabat das Aushängeschild ihrer Vision eines modernen Turkmenistan als einer Mischung aus postsowjetischer Tradition und architektonisch inszeniertem Neosultanismus. Der eklektische Charakter dieser Vision wird vor allem in der Figur des Poeten Magtymguly Pyragy (1724 – 1807) deutlich, der als turkmenischer Nationaldichter seit der Sowjetzeit eine prominente Rolle im Stadtbild von Aschgabat einnimmt. Neben mehreren Denkmälern ist heute auch eine zentrale Allee, der einstige »Boulevard der Freiheit«, nach ihm benannt. Zudem trägt eine der ältesten und renommiertesten Universitäten des Landes seinen Namen. Für 2024 wird es anlässlich von Magtymgulys 300. Geburtstag zahlreiche Veranstaltungen geben. Entsprechend ist auch das diesjährige Nationalmotto dem Poeten gewidmet, das da lautet »Die Quelle des Geistes von Magtymguly Pyragy«.

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Die Hafenstadt Turkmenbaschy und das heute von schneeweißen Marmorgebäuden gesäumte Aschgabat sind wie Brenngläser für den kulturellen Wandel, der sich vor dem Hintergrund der aktuellen Phase des Nation-Building in Turkmenistan vollzieht, doch aufgrund der weiterhin restriktiven Aufenthaltsbestimmungen wohl auch in den kommenden Jahren nicht angemessen erforscht werden kann. Im Stadtbild von Turkmenbaschy und Awaza spiegeln sich oberflächliche Visionen von regionaler Vernetzung und touristischer Erschließung, die ohne eine Lockerung der Visapolitik und ohne tatsächliche Impulse zur Entwicklung der Wirtschaft und Infrastruktur jedoch unerfüllt bleiben. In der architektonischen Transformation von Aschgabat spiegelt sich wiederum das Spannungsverhältnis zwischen prunkvoll inszenierter Macht, dem langsamen Verblassen des kulturellen Erbes der Sowjetära und dem beschwerlichen, zumeist von Not geprägtem Alltag der Bevölkerung. Von dieser vernimmt man immer wieder unter vorgehaltener Hand, dass der oberflächliche und ostentativ zur Schau gestellte Glanz der Hauptstadt nicht darüber hinwegtäuscht, dass Aschgabat schonmal bessere Tage gesehen hat.

Lesetipps / Bibliographie

Zum Weiterlesen

Kommentar

Die Funktionsweise des turkmenischen Herrschaftssystems: Kontinuität und Wandel

Von Hannes Meißner
In Bezug auf die Funktionsweise seines Herrschaftssystems zählt Turkmenistan wohl zu den spannendsten Forschungsobjekten weltweit. Dies liegt am Höchstmaß des Autoritarismus, grotesk anmutenden Merkmalen personalisierter Herrschaft und der staatlichen Verfügungsgewalt über den hohen Reichtum an Erdgasressourcen. Die Tatsache, dass Turkmenistan dennoch nach wie vor eher ein Schattendasein in der Forschung fristet, ist maßgeblich auf den anhaltend hohen Isolationsgrad des Landes und das ungastliche Umfeld für Feldforschung zurückzuführen. Allerdings ist die Zahl der Publikationen über das Land in den vergangenen Jahren ein wenig gestiegen.
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