Die Haltung der zentralasiatischen Staaten und Gesellschaften zum Krieg in Israel und Gaza. Ein Blick auf die diplomatischen, geopolitischen und sozialen Implikationen

Von Andrei Kazantsev-Vaisman (Bar-Ilan University, Tel Aviv)

Zusammenfassung
Der Überfall der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat eine internationale Schockwelle ausgelöst, die weit über den Nahen Osten hinausging und auch Zentralasien erfasst hat. Der Beitrag untersucht die diplomatischen Herausforderungen, mit denen die zentralasiatischen Staaten seit dem Beginn des Israel-Hamas-Kriegs konfrontiert sind. Trotz der propalästinensischen Einstellung ihrer Bevölkerungen setzen die zentralasiatischen Regierungen im Nahostkonflikt auf eine ausgewogene Positionierung zwischen Neutralität und Pragmatismus. Internationale Foren bieten den zentralasiatischen Staaten eine Möglichkeit, sich formal in den globalen antiisraelischen Konsens zu integrieren und gleichzeitig von der radikalen Pro-Hamas-Propaganda von Akteuren wie Iran und Türkei abzugrenzen. Vor allem Kasachstan und Usbekistan messen der bilateralen Zusammenarbeit mit Israel hohe Relevanz bei, wobei der Ausbau der Beziehungen von wirtschaftlichen Interessen und dem Streben nach multivektoraler Ausgeglichenheit geprägt ist. Angesichts propalästinensischer Aktivitäten seitens der Öffentlichkeit versuchen die zentralasiatischen Regierungen ihre neutrale Distanz im Israel-Hamas-Krieg zu wahren und eindeutig antisemitische Handlungen in der Öffentlichkeit zu unterdrücken.

Der Israel-Hamas-Krieg als diplomatische Herausforderung für die zentralasiatischen Staaten

Der von maßloser Brutalität gekennzeichnete Terrorangriff der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat in Westasien eine diplomatische Krise ausgelöst, die bis heute anhält und der sich kaum ein Land auf der Welt entziehen konnte. Die durch den Überfall aus dem Gazastreifen induzierte Eskalation ist selbst für den jahrzehntealten Nahostkonflikt beispiellos, was auch daran erkennbar ist, dass sich Staaten, die in dem Konflikt bisher kaum diplomatisch in Erscheinung getreten sind, zu einer Positionierung genötigt sahen. Das gilt unter anderem für die zentralasiatischen Staaten, die seit ihrer Unabhängigkeit generell gute Beziehungen mit Israel unterhalten und gleichzeitig die allgemein propalästinensische Haltung ihrer überwiegend muslimischen Bevölkerungen berücksichtigen müssen. Aus diesem Grund ergreifen die zentralasiatischen Regime im Nahostkonflikt traditionell eine ausgewogene Position zwischen Neutralität und Zurückhaltung, auch wenn sie zu jenen UN-Mitgliedern gehören, die den 1988 von der PLO proklamierten »Staat Palästina« offiziell anerkennen. In den offiziellen Stellungnahmen von zentralasiatischer Seite wurde generelle »Besorgnis« angesichts der Gewalt geäußert, wobei nur Kasachstan den Überfall der Hamas als solchen benannt und deutlich verurteilt hat, während Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan es ohne Nennung des Aggressors bei allgemeinen Aufrufen zu einem Ende der Gewalt und der Aufnahme von Verhandlungen belassen haben. Turkmenistan stellt die Ausnahme dar und hat keine Stellungnahme veröffentlicht, da die offizielle außenpolitische Doktrin der »positiven Neutralität« eine Einmischung in externe Konflikte verbietet.

In den offiziellen Stellungnahmen spiegelt sich die Herausforderung der zentralasiatischen Regierungen wider, angesichts der Eskalation die traditionell von Neutralität und Distanz geprägte Haltung im Nahostkonflikt beizubehalten. Besonders deutlich zeigt sich dieser Umstand im Abstimmungsverhalten bei den Vereinten Nationen, wo die vier Staaten tendenziell in Übereinstimmung mit der Mehrheit und damit gegen Israel abstimmen (zur allgemeinen Rolle der UN für die Delegitimierung von Israel siehe Feuerherdt, Markl 2018). Turkmenistan stellt auch hier wieder die Ausnahme dar und hat, wie bereits früher im Fall von anderen Konflikten, am 27. Oktober 2023 nicht an der Abstimmung der UN-Vollversammlung über die Annahme einer Resolution teilgenommen, die einen humanitären Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas fordert und von den anderen zentralasiatischen Staaten befürwortet wurde. Doch selbst die sonst eiserne Neutralität Turkmenistans ist nicht ganz vor dem diplomatischen Druck gefeit, den der aktuelle Israel-Hamas-Krieg ausübt, wie die Ausnahme von der Ausnahme belegt: am 28. November 2023 hat Turkmenistan in Einklang mit den anderen zentralasiatischen Staaten und der internationalen Mehrheit für die Annahme einer UN-Resolution gestimmt, die Israel zum Rückzug von den Golanhöhen auffordert (auf denen bis zu ihrer Einnahme durch die IDF im Jahr 1967 syrische Artillerie stationiert war, um zivile Ziele in Israel anzugreifen). Die Abstimmung vom 12. Dezember 2023 über die Annahme der Resolution A/ES-10/22, die abermals einen Waffenstillstand fordert, ohne die Hamas oder deren generelle Ablehnung israelischer Waffenstillstandsangebote zu erwähnen (geschweige denn die Hamas als Aggressor zu benennen), folgte wieder dem gewohnten Muster (Unterstützung durch Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan bei Abwesenheit Turkmenistans).

Abseits der allgemein neutralen Positionierung im Konflikt als solchen zeigt sich in der Haltung der zentralasiatischen Führungen eine propalästinensische Tendenz, die im Fall konkreter Ereignisse mit der teilweise antisemitisch motivierten Israelablehnung internationaler Medien konvergieren kann. Hierfür bezeichnend ist die staatliche Rezeption von Falschmeldungen über Vorfälle in und um Gaza, die zum Beispiel von iranischen (Tasnim), arabischen (Al-Jazeera) oder auch angeblich »linken« westlichen Medien aus dem antiimperialistischen und »postkolonialen« Spektrum verbreitet werden. So kritisierten die Außenministerien von Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan in nahezu identischen Stellungnahmen einen vermeintlich israelischen Luftangriff auf das al-Ahli-al-Arabi-Krankenhaus in Gaza-Stadt am 17. Oktober 2023. Erst später konnte ausreichend belegt werden, dass es sich bei der Information um eine Propagandalüge der Hamas gehandelt hat, die von besagten Medien willfährig international verbreitet und schließlich von der BBC, MSNBC und einflussreichen Tageszeitungen wie Le Monde und New York Times als Nachricht übernommen wurde (laut den Ergebnissen separater Untersuchungen von Associated Press, CNN, The Economist, The Guardian und dem Wall Street Journal deutet alles darauf hin, dass eine fehlgeleitete Rakete des Palästinensischen Islamischen Dschihad, einer mit der Hamas verbündeten Terrorgruppe, für die Explosion am Krankenhaus und den Tod dutzender Personen verantwortlich war, siehe Danner 2023).

Harmonisierung der zentralasiatischen Position mit jener internationaler Foren

Die ambivalente Haltung der zentralasiatischen Staaten gegenüber dem Israel-Hamas-Krieg zeigt sich besonders deutlich bei offiziellen Zusammenkünften internationaler Organisationen und multilateraler Foren (auch wenn geäußerte Stellungnahmen eine eindeutig propalästinensische Neigung aufweisen). So nahmen die zentralasiatischen Staaten während der letzten sechs Monate an einer Reihe multilateraler Treffen teil, die teilweise von den regionalen Feinden Israels missbraucht wurden, um ihre antiisraelische Position zu verstärken und zu legitimieren. Ein anschauliches Beispiel ist das letzte Gipfeltreffen der Organisation der Turkstaaten (OTS) am 3. November 2023 in Astana. Das offizielle Treffen hat u. a. die Präsidenten von Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan, der Türkei und Usbekistan, den Volksratsvorsitzenden von Turkmenistan sowie den ungarischen Premierminister Viktor Orban versammelt. Der türkische Präsident Erdoğan, der seinen eigenen Worten zufolge »fest hinter der Hamas steht«, war bestrebt die offizielle Abschluss­deklaration in maßgeblicher Weise antiisraelisch zu beeinflussen. Aufgrund der gemäßigten (oder im Fall Aserbaidschans eher proisraelischen) Haltung der anderen OTS-Mitglieder blieb die Abschlussdeklaration dennoch relativ ausgewogen. Der Abschnitt zum Nahostkonflikt, der ebenfalls keine Referenz zur Hamas oder deren Überfall auf Israel enthält, zeichnet sich vor allem durch die Forderung nach der Zwei-Staaten-Lösung als angeblich »friedlicher Lösung« des Konfliktes aus (für die Gründe warum dem nicht so ist siehe Graziano 2024).

Eine ähnliche Dynamik zeigte sich auf dem Gipfel­treffen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (ECO) am 9. November 2023 in Taschkent. Die 1985 gegründete ECO besteht neben den zentralasiatischen Staaten, Afghanistan (seit der Taliban-Machtübernahme im August 2021 nicht mehr teilnehmend) und Aserbaidschan aus der Türkei, Pakistan und Iran, die Israel offen feindlich gegenüberstehen (wobei die Türkei und Israel bis zum Überfall der Hamas eine Politik der Normalisierung ihrer Beziehungen verfolgt haben). Pakistan und Iran haben Israel bis heute nicht offiziell anerkannt, während das Streben nach der Vernichtung Israels seit 1979 integraler Bestandteil der antisemitischen Staatsdoktrin der »Islamischen Republik Iran« ist (vgl. Grigat 2023). In den Stellungnahmen der Präsidenten Usbekistans und Kirgistans wurde der Versuch manifest, sich von den offen israelfeindlichen Positionen der Türkei, Pakistans und Irans abzugrenzen, indem die formal propalästinensischen Erklärungen mit einer allgemeinen Forderung nach Frieden verknüpft wurden. Gleichzeitig waren die zentralasiatischen Präsidenten bestrebt, ihre gemäßigte Haltung so weit wie möglich mit der ECO-Gesamtposition zu harmonisieren, die maßgeblich von der Türkei, Iran und Pakistan vorgegeben wurde. Im offiziellen Abschlusskommuniqué kommt der mäßigende Einfluss der zentralasiatischen Staaten und Aserbaidschans nur noch in der Tatsache zum Ausdruck, dass Israel nicht namentlich für alles Übel im Nahen Osten (oder gleich der ganzen Welt) verantwortlich gemacht wird. Davon abgesehen wird hier nicht nur ein Waffenstillstand und die Zwei-Staaten-»Lösung« gefordert, sondern unverhohlen und einseitig für die palästinensische Seite Partei ergriffen, indem das Kommuniqué ein ausschließliches Leid der palästinensischen Bevölkerung insinuiert und die erklärte Solidarität direkt an »unsere Brüder und Schwestern im Gazastreifen« adressiert.

Die Divergenz zwischen der gemäßigten Haltung der zentralasiatischen Staaten und dem einseitig antiisraelischen Abschlusskommuniqué wird besonders durch dessen Gegenüberstellung mit den konkreten Erklärungen der einzelnen Präsidenten bzw. Premierminister auf dem ECO-Gipfel deutlich. Der usbekische Präsident und Gastgeber Schawkat Mirsijojew forderte eine Kompromisslösung in dem Konflikt und erklärte seine Unterstützung für das Recht der Palästinenser, auf dem Verhandlungsweg die Gründung eines eigenen Staates zu erwirken. Mit dieser Erklärung konnte sich Mirsijojew geschickt von der türkischen, iranischen und pakistanischen Unterstützung für die Hamas abgrenzen, ohne die propalästinensische Tendenz der eigenen Position aufgeben zu müssen. Schließlich entspricht Mirsijojews Erklärung vielmehr der Position der Palästinensischen Autonomiebehörde unter Mahmud Abbas als jener der Hamas.

Kasachstan war durch den damaligen Premierminister Alichan Smailow vertreten, was als indirekte Missbilligung von Präsident Kassym-Dschomart Tokajew verstanden werden konnte, sich an einem Forum zu beteiligen, das von der Türkei, Pakistan und Iran zur Verstärkung und Verbreitung ihrer antiisraelischen Propaganda missbraucht wird. Dementsprechend enthielt Smailows Erklärung auch keinerlei Referenz zum Israel-Hamas-Krieg und konzentrierte sich stattdessen konsequent auf die Kernbereiche der ECO, also die Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, den Ausbau der regionalen Konnektivität, die Erhöhung des Transportpotenzials und die Intensivierung von Handel und Austausch zwischen den Mitgliedern. Ähnlich und ganz im Sinne der »positiven Neutralität« Turkmenistans verhielt es sich mit der Erklärung des turkmenischen Präsidenten Serdar Berdymuchamedow. Kirgistans Präsident Sadyr Dschaparow blieb in seiner Erklärung mit Hinblick auf den Konflikt betont vage und reduzierte seinen Standpunkt auf eine allgemeine Forderung nach Schutz der Zivilbevölkerung vor Gewalt, eine Einstellung der Feindseligkeiten und die Aufnahme von Verhandlungen.

Unter den zentralasiatischen Staaten nimmt Tadschikistan die Israel gegenüber am meisten abgeneigte Haltung ein. Zwar verzichtete der tadschikische Präsident Emomali Rahmon in seiner Erklärung an den ECO-Gipfel ebenfalls auf eine Referenz zum Israel-Hamas-Krieg und konzentrierte sich, wie sein turkmenischer Amtskollege und der kasachstanische Premierminister, stattdessen auf Fragen der Konnektivität, den Ausbau multimodaler Transportinfrastruktur, die Förderung von Handel und das kürzlich wiederaufgenommene Projekt einer geplanten Hochspannungsleitung von Kirgistan und Tadschikistan nach Afghanistan und Pakistan. In Rahmons Erklärung wurde deutlich, dass es sich Tadschikistan nicht leisten kann, ein Forum wie den ECO-Gipfel nicht konsequent für die Förderung der eigenen wirtschaftlichen Interessen zu nutzen. Schließlich sieht Tadschikistan im Ausbau der infrastrukturellen Vernetzung mit Südasien eine wichtige Möglichkeit, mit der geographischen Isolation zu brechen und aus der eigenen Lage an der Schnittstelle von Zentral- und Südasien einen transkontinentalen Handels- und Transitknotenpunkt zu machen (Ikromov 2019). Vor dem Hintergrund dieser dringlichen geoökonomischen Agenda schien der Israel-Hamas-Krieg für Rahmon am 9. November einfach nicht relevant genug zu sein.

Anders verhielt es sich jedoch bei einer außerordentlichen Zusammenkunft der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC), die zum Austausch über die Lage in Gaza am 11. November 2023 in Riad einberufen wurde. Hier übte Rahmon deutliche und einseitige Kritik, als er äußerte: »Tadschikistan verurteilt aufs Schärfste die Angriffe auf zivile Objekte in Gaza, die zum Tod von Tausenden Zivilisten geführt haben, darunter Kinder und Frauen, sowie zur Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur.« Im Gegensatz zum kasachstanischen Präsidenten Tokajew, der seine indirekte Kritik am israelischen Vorgehen gegen die Hamas durch eine allgemeine Verurteilung von Terrorismus ausbalancierte, verlor Rahmon nicht einmal indirekt ein Wort über die Taten der Hamas und ihre Rolle als Auslöser des Krieges (oder die gängige Praxis der Hamas, sich in zivilen Objekten zu verschanzen und Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen). Hier sei jedoch angemerkt, dass der antiisraelische Ton auch bei diesem Gipfeltreffen allgemeiner Konsens war, dem sich Rahmon problemlos anschließen konnte, ohne die deutlich härtere und von antisemitischem Hass geprägte Position des Iran übernehmen zu müssen.

Schließlich kann festgehalten werden, dass die Hal­tung der zentralasiatischen Präsidenten zum Israel-Hamas-Krieg von einer gewissen Flexibilität geprägt ist und kontextabhängig angepasst werden kann. Angesichts ihrer gemäßigten propalästinensischen Tendenz verzichten die zentralasiatischen Staaten bei multilateralen Gipfeltreffen darauf den Ton anzugeben und versuchen stattdessen ihre eigene Position so weit wie möglich mit der allgemeinen antiisraelischen Stimmung der diversen internationalen Plattformen (UN, OTS, ECO, OIC) zu harmonisieren, ohne sich von radikalen Akteuren wie Iran vereinnahmen zu lassen. Auch sind die zentralasiatischen Staaten darauf bedacht, ihre verbale Unterstützung für die palästinensische Sache dezidiert an die Palästinensische Autonomiebehörde und nicht die Hamas zu adressieren. Die Regierungen in Zentralasien haben insgesamt kein Interesse an der Stärkung islamistischer Gruppen wie der Hamas und in Tadschikistan wurde 2015 die Islamische Partei der Wiedergeburt verboten, die wie die Hamas ideologisch der Muslimbruderschaft nahesteht. In den Haltungen der zentralasiatischen Präsidenten zum Israel-Hamas-Krieg wird auch deutlich, dass die Levante (im Gegensatz zu den Golfstaaten) keine Fokusregion zentralasiatischer Interessen ist, die sich im Fall des Nahostkonfliktes im Wesentlichen auf den Erhalt der guten Beziehungen mit Israel und die Wahrung von neutraler Distanz beschränken, wodurch das Ausgreifen gesellschaftlich polarisierender Tendenzen nach Zentralasien so gering wie möglich gehalten werden soll.

Die geopolitische Relevanz des Nahen Osten und Israels für die zentralasiatischen Staaten

Die zentralasiatischen Länder sind in Sachen Transit und Transport weiterhin stark von Russland abhängig und haben darüber hinaus keinen Zugang zu den Weltmeeren, was für die wirtschaftliche Entwicklung der Region ein großes Hemmnis darstellt. Mit ihrer Lage zwischen Osteuropa, Süd- und Westasien befinden sie sich außerdem in einer geopolitisch volatilen Nachbarschaft mit zahlreichen Konflikten, von denen der Nahostkonflikt am Ende nur einer unter vielen ist. Der russische Überfall auf die Ukraine 2022 hat vor allem das kasachstanische und usbekische Interesse verstärkt, die geoökonomische Abhängigkeit von Russland zu verringern und mittels Diversifizierung von Transit- und Transportrouten die eigene Wirtschaft zu entwickeln und neue Absatzmärkte und Handelsoptionen zu erschließen. Im Rahmen ihrer aktuellen Diversifizierungsstrategie versuchen die zentralasiatischen Staaten vor allem den südlichen Verkehrsvektor in die Golfregion und nach Südasien sowie den sogenannten Mittelkorridor über das Kaspische Meer und den Südkaukasus nach Europa zu entwickeln. Gleichzeitig ist man sich in Astana und Taschkent bewusst, dass Zentralasien von einer friedlichen Lösung des Nahostkonfliktes massiv profitieren würde. Der Hamas-Überfall auf Israel hat den zentralasiatischen Führungen erneut verdeutlicht, dass auch ihre Staaten von den destabilisierenden Auswirkungen des Nahostkonfliktes erfasst werden können. Auch verhindern der Nahostkonflikt und der bis heute andauernde Bürgerkrieg in Syrien die Entwicklung des westasiatischen Verkehrsvektors, der maßgeblich zu einer Diversifizierung der Transportrouten für Zentralasien beitragen könnte (ein erst im September 2023 beschlossener Transportkorridor zwischen Indien, Westasien und Europa wurde durch den Hamas-Überfall auf Israel praktisch zunichte gemacht, vgl. Sullivan 2024).

Die geopolitische Relevanz von Israel und der Levante für Zentralasien geht jedoch über die Frage der Diversifizierung von Transport- und Transitrouten hinaus. In Gesprächen, die der Autor des Beitrags mit zentralasiatischen Politikern und Experten geführt hat, wurde deutlich, dass Israel in Zentralasien als wichtiger Teil der westlichen Welt unter Führung der Vereinigten Staaten wahrgenommen wird. Die Beziehungen mit Israel spielen in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle in der außenpolitischen Strategie der zentralasiatischen Staaten, durch eine multivektorale Diversifizierung der internationalen Partner eine Balance zwischen den Einflüssen externer Akteure herzustellen. Mit dieser Politik der ausgeglichenen Beziehungen wollen vor allem die beiden regionalen Mittelmächte Kasachstan und Usbekistan ihre Unabhängigkeit gegenüber China, Russland und der westlichen Staatengemeinschaft wahren und eine zu große Abhängigkeit von einem der drei geopolitischen Hauptpole in Eurasien vermeiden. Für die kasachstanische und usbekische Führung gilt Israel als westasiatische Mittelmacht, deren internationaler Einfluss dank des technischen und wirtschaftlichen Know-hows über das demographische und militärische Gewicht des Landes hinausgeht. Israel ist für Kasachstan und Usbekistan somit ein wichtiger Vektor in ihrer außenpolitischen Strategie der »Mehrfachausrichtung«. Gleichzeitig sind die transnationalen Diasporanetzwerke, die seit dem Zerfall der Sowjetunion zwischen jüdischen Emigranten aus Zentralasien in Israel, Europa und Nordamerika entstanden sind, ein wichtiges Bindeglied für die Entwicklung der diplomatischen Beziehungen Kasachstans und Usbekistans mit der westlichen Staatengemeinschaft (Marsden, Skvirskaja 2023).

Implikationen des Israel-Hamas-Krieges für die zentralasiatischen Beziehungen mit Israel

Aufgrund der geopolitischen Relevanz, die Israel für Kasachstan und Usbekistan besitzt, sind die Führungen der beiden Länder darauf bedacht, die propalästinensische Tendenz ihrer offiziellen Haltung von den bilateralen Beziehungen mit Jerusalem zu trennen. Die demonstrative Unterstützung für die Ziele der Palästinensischen Autonomiebehörde kann in diesem Zusammenhang als Konzession an die propalästinensische Einstellung der eigenen Bevölkerungen verstanden werden, während die guten Beziehungen und die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Israel die eigentliche Priorität bleiben. U. a. beliefert Kasachstan Israel mit Öl und bezieht im Gegenzug israelische Militärtechnologie. Der Pegasus-Skandal im Jahr 2021 hatte kurzzeitig die technologische Zusammenarbeit zwischen Israel und Kasachstan ins Rampenlicht gerückt, als bekannt wurde, dass die gleichnamige Spyware der israelischen NSO Group von Tokajews Regierung zur Überwachung von Aktivisten missbraucht wurde (Kumenov 2021). Auch Usbekistan arbeitet an einer Intensivierung der Handelsbeziehungen mit Israel und an einem Ausbau der Zusammenarbeit im medizintechnischen Bereich. Und im April 2023 haben der damalige israelische Außenminister Eli Cohen und sein turkmenischer Amtskollege Raschid Meredow in Aschgabat die erste israelische Botschaft eröffnet und sich darüber hinaus auf eine Zusammenarbeit u. a. in den Bereichen Landwirtschaft und Wassertechnologie verständigt.

Um ihre formal propalästinensische Haltung im Angesicht der wachsenden Zusammenarbeit mit Israel nicht auf virtuelle Reaktionen zu beschränken, haben Kasachstan und Usbekistan der Bevölkerung im Gazastreifen öffentlichkeitswirksam humanitäre Hilfe im Wert von einer Million bzw. 1,5 Millionen US-Dollar zukommen lassen. Gleichzeitig sieht Kasachstan in den aktuellen UN-Blauhelmmissionen im Nahen Osten eine Möglichkeit, das eigene Profil als neutraler Friedensakteur zu schärfen. Im Januar hat die Regierung Kasachstans den Entschluss bekannt gegeben, das für UN-Friedensmissionen bereitgestellte Kontingent kasachstanischer Soldaten ab März 2024 deutlich auf 430 Einheiten zu erhöhen. Neben den UN-Missionen in Sudan und Südsudan beteiligt sich Kasachstan an der United Nations Disengagement Observer Force (UNDOF) auf den Golanhöhen, der United Nations Interim Force in Lebanon (UNIFIL) und der United Nations Truce Supervision Organization (UNTSO), die u. a. Beobachtertruppen auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel unterhält.

Fazit: der Nahostkonflikt als zentralasiatischer Balanceakt zwischen propalästinensischen Empfindungen, wirtschaftlichem Pragmatismus und geopolitischen Rationalitäten

Der Überfall der Hamas auf Israel und das anschließende Massaker an israelischen Zivilisten am 7. Oktober 2023 haben die Führungen der zentralasiatischen Staaten erneut vor die diplomatische Herausforderung gestellt, die priorisierte Entwicklung ihrer bilateralen Zusammenarbeit mit Israel mit der überwiegend propalästinensischen Haltung ihrer Bevölkerungen in Einklang zu halten. Der Israel-Hamas-Krieg und die durch ihn ausgelöste Welle an öffentlichen Affekten hat die zentralasiatischen Präsidenten, die dem Nahostkonflikt traditionell neutral und distanziert gegenüberstehen, zu Positionierungen genötigt, in denen Eindeutigkeit und Ausgewogenheit zueinander vermittelt werden mussten. Die Zusammenkünfte internationaler Organisationen und multilateraler Foren wie UN, OTS, ECO und OIC stellten für die zentralasiatischen Staaten Möglichkeiten dar, sich in den global vorherrschenden antiisraelischen Konsens zu integrieren und sich gleichzeitig von radikal antisemitischer Pro-Hamas-Propaganda wie jener Irans abzugrenzen.

Die Zusammenarbeit der zentralasiatischen Staaten mit Israel wird von wirtschaftlichem Pragmatismus und geopolitischen Rationalitäten getragen, während sich die zentralasiatischen Interessen im Nahostkonflikt hauptsächlich auf eine Eindämmung seiner negativen Auswirkungen belaufen. Die Priorisierung der Zusammenarbeit mit Israel beschränkt die formale Unterstützung für die palästinensische Sache von zentralasiatischer Seite auf symbolische Fürsprachen, wobei darauf geachtet wird, nicht die Hamas, sondern lediglich die Palästinensische Autonomiebehörde als legitime Vertretung palästinensischer Interessen zu adressieren. Die vor allem verbale Unterstützung für die Palästinenser wurde von Kasachstan und Usbekistan öffentlichkeitswirksam um begrenzte humanitäre Hilfe für den Gazastreifen ergänzt. Trotzdem gibt es in den zentralasiatischen Gesellschaften eine kleine aber auffällige Anzahl von Akteuren, die eine Reduzierung der Zusammenarbeit mit Israel und mehr propalästinensisches Engagement von den Führungen ihrer Länder verlangen. So gab es Boykottaufrufe gegen angeblich Israel unterstützende Marken und in Kasachstan wurde eine Online-Petition gestartet, in der ein Ende der Ölexporte nach Israel gefordert wurde. In Usbekistan haben sich Imame öffentlich mit Gaza solidarisiert und in Kirgistan haben muslimische und christlich-orthodoxe Aktivisten Hilfssammlungen für die Bevölkerung in Gaza initiiert.

Abseits der allgemeinen Solidarität für die Bevölkerung in Gaza versuchen die zentralasiatischen Regierungen jede öffentlich zur Schau gestellte Unterstützung für die Hamas sowie klar antisemitisch motivierte Aktionen und Formen gewalttätiger Selbstermächtigung gegen Juden zu unterdrücken. So wurden in Usbekistan über 100 Personen strafrechtlich belangt, die versucht hatten auf dem zentralen Amir-Timur-Platz in Taschkent eine nicht genehmigte Pro-Hamas-Demonstration abzuhalten. Im November 2023 wurden in Almaty zwei tadschikische Staatsbürger nach einem versuchten Brandanschlag auf ein jüdisches Bildungszentrum festgenommen. Im selben Monat wurden in Almaty vier weitere Personen aus verschiedenen zentralasiatischen Ländern festgenommen, die einen Brandanschlag auf das lokale Büro der Jewish Agency for Israel (Sochnut) geplant hatten. In Taschkent wurden zwei orthodoxe Juden attackiert und eine Synagoge mit propalästinensischen Parolen beschmiert, nachdem die Polizei den Schutz von Synagogen bereits verstärkt hat. Israels militärische Reaktion auf den genozidalen Hamas-Terror hat eine beispiellose globale Welle des antisemitischen Hasses auf Juden und den jüdischen Staat losgetreten. Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass Zentralasien in dieser Hinsicht keine Ausnahme ist. Eine Lösung des Nahostkonfliktes ist nach dem 7. Oktober 2023 so fern wie nie zuvor, weshalb die Führungen der zentralasiatischen Staaten auch in Zukunft eine Balance zwischen den propalästinensischen Empfindungen ihrer Bevölkerungen und den bestechenden Argumenten finden müssen, die für eine weitere Zusammenarbeit mit Israel als einzig rationaler Option sprechen.

Aus dem Englischen von Hartmut Schröder

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Dokumentation

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