Die Ansichten russischer Migranten in Kasachstan und Kirgistan zu Russlands Krieg gegen die Ukraine

Von Félix Krawatzek, Gwendolyn Sasse (beide Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Berlin)

Seit dem Beginn der vollumfänglichen Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 ist es zu einer Umkehr der Migrationstrends zwischen Russland und Zentralasien gekommen. Während Russland für Arbeitsmigranten aus Zentralasien zunehmend unattraktiv wird,[1] ist Zentralasien seit 2022 selbst zu einer wichtigen Aufnahmeregion bzw. einem Drehkreuz für Menschen und Kapital aus Russland geworden. Gleichzeitig verstärkt der Krieg Veränderungen der regionalen politischen Landschaft. So weiß Kirgistans Präsident Sadyr Dschaparow die seit 2022 erhöhte russische Aufmerksamkeit für die Region zu nutzen, um seine autoritäre Herrschaft durch eine enge Abstimmung innenpolitischer Maßnahmen mit dem Kreml zu konsolidieren.[2] Währenddessen versucht Kasachstan seine multivektorale Außenpolitik fortzusetzen und eine innenpolitische Einflussnahme des Kreml zu verhindern. Kirgistan hilft der russischen Wirtschaft und Armee weiterhin indirekt bei der Umgehung von westlichen Sanktionen, vor allem durch die Wiederausfuhr von aus China und der EU importierten Gütern mit doppeltem Verwendungszweck (Dual-Use Goods). Kasachstan hingegen unterbindet seit 2023 den Re-Export von Dual-Use Goods nach Russland.[3]

Schätzungen über das Ausmaß der neuen Emigration aus Russland gehen weit auseinander, was auch an der teilweise temporären Natur der Migration mit anschließender Rückkehr nach Russland liegt. Neuesten Schätzungen zufolge verbleiben aktuell etwa 650.000 russische Staatsbürger*innen, die Russland seit 2022 verlassen haben, weiterhin im Ausland.[4]

Kirgistan und Kasachstan bilden zusammen mit Russland, Belarus und Armenien die Mitglieder der Eurasischen Wirtschaftsunion, weshalb russische Staatsbürger*innen ohne einen internationalen Pass einreisen können. In Kasachstan erlaubten die Einreisebestimmungen zunächst einen visumfreien Aufenthalt von bis zu 90 Tagen; nach einer Aus- und Wiedereinreise begann die Zählung von vorne. Dieses System wurde im Januar 2023 geändert: Nach den ersten 90 Tagen im Land ist nun unabhängig von einer erneuten Einreise die Registrierung eines temporären oder längerfristigen Wohnsitzes erforderlich. Im Januar 2024 hielten sich etwa 100.000 nach Februar 2022 eingereiste russische Staatsbürger*innen in Kasachstan auf. Am Anfang war die Zahl der aus Russland Eingereisten, genau wie im Fall von Kirgistan auch, höher, da aus beiden Ländern sowohl eine Rückkehr nach Russland als auch Weiterreise in andere Zielländer stattfand. In Kirgistan waren bereits bis Ende 2022 etwa 170.000 Migrant*innen aus Russland registriert, wobei sich die aktuelle Zahl nicht aus den offiziellen Statistiken entnehmen lässt. Kirgistan hat am Anfang versucht, vor allem von der kriegsbedingten Emigration russischer IT-Fachkräfte zu profitieren und dafür ein »Digital Nomads Programme« gestartet und Visa- und Steuererleichterungen für russische Staatsbürger*innen erlassen. U. a. aufgrund der explodierenden Nachfrage nach Wohnraum auf Bischkeks ohnehin angespanntem Wohnungsmarkt,[5] hat jedoch auch Kirgistan die Einreisebestimmungen verschärft. Im Oktober 2023 wurde eine »90/180-Regel« eingeführt, laut der ein 90-tägiger visumfreier Aufenthalt nur noch innerhalb eines Gesamtzeitraums von 180 Tagen möglich ist.[6]

Bisher ist wenig über das soziodemographische und politische Profil der neuen russischen Migrant*innen in Zentralasien und anderen Regionen bekannt.[7] Am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) haben wir von Juni bis August 2023 Face-to-Face-Befragungen unter insgesamt 4.300 russischen Staatsbürger*innen in fünf Ländern (Armenien, Georgien, Türkei, Kasachstan und Kirgistan) durchgeführt.[8] Die Umfrage deckt sowohl die jüngste Migrationsbewegung seit Februar 2022 ab, als auch jene Menschen mit russischem Pass, die bereits vor 2022 in den genannten Ländern gelebt haben. Dieser Vergleich hilft bei der Einordnung der neuen Migrationsbewegung aus Russland seit dem Überfall auf die Ukraine.

Für diesen Beitrag beziehen wir uns auf die Umfrageergebnisse aus Kasachstan (697 Befragte) und Kirgistan (608 Befragte). In beiden Ländern wurden die Teilnehmenden über eine Kombination von Methoden rekrutiert: direkt auf der Straße, über soziale Medien und per Schneeballverfahren. Eine repräsentative Umfrage im engeren Sinne ist aufgrund fehlender Grunddaten über die neue Migration nicht möglich. Die gewählte Vorgehensweise ist unter den gegebenen Voraussetzungen somit die bestmögliche für eine direkte Befragung (anstelle einer Online-Umfrage). Das Durchschnittsalter der Befragten liegt in beiden Ländern bei 35–36 Jahren und es handelt sich in erster Linie um Migrant*innen, die in Russland in größeren Städten gelebt haben. In Kasachstan erreichte die Umfrage einen deutlich höheren Anteil an russischen Staatsbürger*innen, die bereits vor Februar 2022 im Land waren.

Die Umfrage geht u. a. den Ansichten der Migrant*innen über den Krieg nach. In diesem Zusammenhang ist die Kooperation der beiden Länder in Fragen der Strafverfolgung mit Russland zu beachten: Seit Juni 2023 besteht zwischen den drei Staaten ein trilaterales Auslieferungsabkommen, das ein Risiko für russische Oppositionelle darstellt.[9]

Unterstützung und Verantwortung für den Krieg

Eine Unterstützung für den Krieg ist unter russischen Migrant*innen in beiden Ländern ähnlich gering. Mehr als 70 Prozent geben an, dass sie den Krieg nicht unterstützen. Die Unterstützung ist in beiden Ländern unter Männern sowie Befragten, die älter als 50 Jahre sind, höher. Auch unter Menschen mit einem geringeren Bildungsstand wird der Krieg tendenziell eher unterstützt.

Trotz der Präsenz russlandaffiner Medien und Diskurse in beiden autoritären Staaten wird die Verantwortung für den Krieg in beiden Ländern unterschiedlich bewertet. In Kasachstan wird die Schuld gleichermaßen Russland, der Ukraine und den Vereinigten Staaten angelastet (jeweils etwa ein Viertel der Befragten), wobei weitere 10 Prozent die Schuld bei der NATO sehen. In Kirgistan gibt knapp die Hälfte der Befragten an, dass Russland die Schuld am Krieg trägt; weitere 30 Prozent geben insgesamt den Vereinigten Staaten, der Ukraine oder der NATO die Schuld.

In beiden Ländern geben Menschen, die keine Kinder haben, Personen mit höherer Bildung, sowie diejenigen, die nach Februar 2022 angekommen sind, eher Russland die Schuld am Krieg. Darüber hinaus sind es in Kasachstan Befragte im Alter von 18 bis 24 Jahren, Menschen aus Moskau, sowie diejenigen, die sich ethnisch als nicht-russisch identifizieren (sondern z. B. als Kasachisch oder Tatar). In Kirgistan sind es vor allem jene Befragten, die weniger Kontakt zu Freunden oder Familie in Russland halten, die Russland die Schuld zuweisen, was in Kasachstan keinen Unterschied macht.

Das Profil derjenigen, welche die Verantwortung bei der Ukraine sehen, ist unterschiedlich: In Kasachstan teilen vor allem Befragte im Alter von 25–34 Jahren diese Ansicht, während das Alter in Kirgistan keine signifikante Rolle spielt. Zudem sind es in Kasachstan eher Personen mit einem geringeren Bildungsniveau, die diese Auffassung vertreten. Darüber hinaus äußern sich in dieser Weise häufiger russische Staatsbürger*innen, die sich selbst als ethnisch-russisch definieren und bereits vor Februar 2022 in Kasachstan gelebt haben. In Kirgistan sind es insbesondere Befragte aus Moskau oder St. Petersburg, welche die Ukraine für schuldig befinden, sowie diejenigen, die im engeren Kontakt mit Freunden und Familie in Russland stehen. Es sind auch diejenigen unter den Befragten, die sich für längere Zeit in Kirgistan sehen.

Interesse am Krieg

In Kirgistan gibt knapp die Hälfte der Befragten an, dem Krieg sehr genau oder genau zu folgen. Der entsprechende Wert für Kasachstan beläuft sich auf knapp ein Drittel – die restlichen Befragten folgen dem Krieg kaum oder haben mittlerweile aufgehört, sich dafür zu interessieren. In Kirgistan interessiert sich knapp ein Viertel nicht mehr für den Krieg. Höheres Interesse am Krieg zeigen in beiden Ländern männliche Befragte sowie diejenigen, die von einer längeren Aufenthaltsdauer im jeweiligen Land ausgehen. Das Interesse ist ebenfalls unter den Menschen höher, die Russland nach Februar 2022 verlassen haben. In Kasachstan ist das Interesse am Krieg unter denjenigen höher, die weniger häufig mit Freunden und Familie in Russland in Kontakt stehen.

In Kirgistan ist das Interesse am Krieg unter den 25–34-Jährigen, sowie denjenigen im Alter über 50 Jahren stärker ausgeprägt als in der Gruppe der 18–24-Jährigen. In Kasachstan hingegen spielt das Alter der Befragten keine Rolle, wohl aber der Bildungsstand: Höhere Bildung geht mit mehr erklärtem Interesse am Krieg einher.

Fazit

Kasachstan und Kirgistan gehörten aufgrund der relativ einfachen Einreisemöglichkeiten und der Präsenz russischer bzw. russischsprachiger Teile der Lokalbevölkerung zu den wichtigsten Ländern, in denen Migrant*innen aus Russland nach Februar 2022 temporär oder längerfristig Zuflucht gesucht haben. Trotz der zahlreichen Verflechtungen mit Russland und der Ähnlichkeiten der politischen Regime unterstützt die Mehrheit der Ausgereisten Russlands Krieg nicht. Die Antworten auf die Frage nach der Schuld für den Krieg geben einen Hinweis auf die Bandbreite der politischen Ansichten unter den Befragten. Die Daten zeigen, dass die Ansichten derer, die im Sommer 2023 in Kasachstan interviewt wurden, eher der offiziellen russischen Perspektive entsprechen, wohingegen die in Kirgistan geäußerten Ansichten weiter auseinandergehen. In Kirgistan fand unsere Umfrage einen größeren Kern an oppositionell eingestellten Personen. Ein interessanter Faktor sind die persönlichen Netzwerke der Migrant*innen: Der Abbruch von Kontakten nach Russland korreliert mit Interesse am Krieg bzw. einer realistischen Schuldzuweisung an Russland.

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Verweise

[1] https://carnegieendowment.org/russia-eurasia/politika/2024/07/russia-central-asia-migrants?lang=en

[2] https://www.voanews.com/a/kyrgyz-president-signs-russian-style-foreign-agents-bill/7554518.html

[3] https://kyivindependent.com/opinion-putins-silk-road-around-sanctions/

[4] https://en.thebell.io/russias-650-000-wartime-emigres/

[5] https://foreignpolicy.com/2022/10/04/russia-putin-mobilization-central-asia-conscripts-flee/

[6] https://kyrgyz.mid.ru/ru/embassy/news/o_novom_poryadke_prebyvaniya_grazhdan_rossii_v_kyrgyzstane/

[7] Eine der wenigen und wichtigen Informationsquellen, insbesondere zur politischen Opposition, ist das Projekt OutRush. https://outrush.io/

[8] Für eine vergleichende Analyse der verschiedenen Länder, siehe Félix Krawatzek und Gwendolyn Sasse, The political diversity of the new migration from Russia since February 2022, ZOiS Report 4/2024. https://www.zois-berlin.de/en/publications/zois-report/translate-to-englisch-the-political-diversity-of-the-new-migration-from-russia-since-february-2022.

[9] https://vlast.kz/obsshestvo/56171-ne-tranzitnaa-strana-budet-li-kazahstan-ekstradirovat-rossian.html

Zum Weiterlesen


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