Strategische Neutralität. Postsowjetische Institutionen und Zentralasiens komplexe Reaktion auf Russlands Krieg gegen die Ukraine

Von Alexander Cooley (Barnard College, Columbia University, New York)

Die westlichen Staaten haben auf Russlands vollumfängliche Invasion in die Ukraine im Februar 2022 mit einheitlicher Verurteilung reagiert und dabei große Geschlossenheit gegenüber Russland demonstriert. Dies zeigte sich auch bei der raschen und umfangreichen Sanktionierung Russlands, der Verhängung von weitreichenden Exportbeschränkungen sowie der Koordinierung der militärischen, wirtschaftlichen und politischen Unterstützung für die Ukraine seitens ihrer europäischen und nordamerikanischen Partner. Vor dem Hintergrund der politischen Stigmatisierung Russlands und den in Europa verbreiteten Sorgen über die geopolitischen Folgen des Überfalls, hofften die EU und USA, dass die zentralasiatischen Staaten der Ukraine bei ihrem Verteidigungskampf beistehen oder zumindest die russische Aggression verurteilen würden. Dennoch blieben alle zentralasiatischen Staaten hinsichtlich des Krieges neutral.

Im Kontrast zur Forderung mancher Wissenschaftler und Politiker, die Forschung zum postsowjetischen Raum zu »dekolonisieren«, hat der Krieg zu keiner postimperialen Entwirrung historisch bedingter Verbindungen und Abhängigkeiten geführt. Stattdessen ist das Zusammenspiel der unterschiedlichen Ströme und Beziehungen, die Russland und Zentralasien weiterhin aneinanderbinden, noch komplexer geworden. Hierbei ist zu betonen, dass die Ursprünge dieser Netzwerke eher »postsowjetischer« denn sowjetischer Natur sind. Schließlich haben die regionalen Rechtsregime, wirtschaftlichen Abkommen und zwischenstaatlichen Verträge während der letzten zwei Jahrzehnte zu einer umfassenden Neuvernetzung zwischen Menschen, einer Vertiefung der wirtschaftlichen Beziehungen und der gegenseitigen Angleichung von Regierungspraktiken in einem großen Teil des postsowjetischen Raumes geführt.

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat neue Vektoren der Bevölkerungsmobilität zwischen Russland und Zentralasien geschaffen und bestehende Netzwerke weiter gestärkt. Kurz nach Kriegsbeginn sind Hunderttausende IT-Fachkräfte aus Russland geflohen. Viele von ihnen sind kurz zuvor arbeitslos geworden, nachdem die russische Regierung westliche Technologieunternehmen des Landes verwiesen hat. Ein großer Teil der Fliehenden ist in die Türkei, nach Armenien und Georgien emigriert, während andere vorübergehend oder dauerhaft in Städten wie Astana, Bischkek oder Taschkent Zuflucht fanden. Dieser ersten Migrationsbewegung russischer Relokanty folgte im September 2022 eine weitere. Um sich der Mobilmachung für den Krieg zu entziehen, flohen erneut Hunderttausende russische Bürger u. a. in die Städte Zentralasiens. In einem Bericht von RE:RUSSIA von Juli 2023 wird die Zahl der Menschen, die Russland nach dem 24. Februar 2022 verlassen haben, auf zwischen 820.000 bis 920.000 geschätzt.[1] Laut einer diesjährigen Studie der University of Central Asia, die sich auf offizielle russische Migrationsdaten stützt, sind allein im Jahr 2022 über eine halbe Million Russen nach Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan gegangen, mehr als doppelt so viele wie vor der Covid-19-Pandemie.[2]

Unterdessen hielt die Arbeitsmigration von Zentralasien nach Russland an und wuchs zwischenzeitlich sogar, trotz der anfänglichen Sorgen vor negativen Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen. Der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) zufolge stieg die Zahl der Personen mit kirgisischer, usbekischer und tadschikischer Staatsbürgerschaft, die sich 2022 in Russland als arbeitssuchend gemeldet haben, im Vergleich zum Vorjahr um jeweils 11 Prozent (Kirgistan), 29 Prozent (Usbekistan) und im Fall von Tadschikistan um erstaunliche 45 Prozent.[3] Im ersten Quartal 2023 stieg die Zahl der nach Russland eingereisten Migranten auf 1,3 Millionen Personen, 60 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum[4] – und das trotz internationaler Sanktionen und der Schwächung des russischen Rubels gegenüber Dollar und Euro. Grund dafür war das Wachstum der russischen Wirtschaft im Kriegsmodus und der weiterhin anhaltende Arbeitskräftemangel in Russland. Laut der BBC und mit Verweis auf Angaben vom russischen Innenministerium arbeiten in Russland aktuell rund 10,5 Millionen Migranten aus Usbekistan, Tadschikistan und Kirgistan. Die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher liegen, da viele Migranten nicht offiziell registriert sind.[5]

Ein oft vernachlässigter Indikator für regionale Verbindungen ist die Mobilität im Hochschulbereich. Hierfür belegen die Zahlen deutlich, dass Russland für Studenten aus Zentralasien weiterhin die beliebteste Destination für akademische Auslandsaufenthalte bleibt. Während im Jahr 2021 noch 171.000 Studenten aus Zentralasien in Russland studiert haben, ist diese Zahl bereits im Jahr 2023 auf über 227.000 gestiegen.[6] Diese unterschiedlichen Zahlen zur Bevölkerungsmobilität suggerieren keine Entfremdung zwischen den Bevölkerungen in Russland und Zentralasien. Vielmehr hat Russlands Krieg gegen die Ukraine zu einer Neuvermischung der Bevölkerungen geführt, wesentlich ermöglicht durch Migrationsnetzwerke und postsowjetische Institutionen wie visumfreies Reisen.

Auch ist mittlerweile vollkommen klar, dass die zentralasiatischen Staaten ein wichtiges Drehkreuz zur Umgehung von Sanktionen und für Wiederausfuhren nach Russland sind – trotz vereinzelter Gegenmaßnahmen seitens der EU und USA und trotz der Dementis von zentralasiatischen Staatsoberhäuptern. Tatsächlich wächst die Wirtschaft in Zentralasien schneller als in anderen Regionen und für 2024 prognostiziert die Weltbank ein regionales Wirtschaftswachstum von 4,8 Prozent.[7] Aufgrund der Beschränkung des EU-Handels mit Russland hat der EU-Handel mit postsowjetischen Staaten im Südkaukasus und Zentralasien explosionsartig zugenommen. Gleichzeitig hat das Handelsvolumen zwischen Russland und Zentralasien ebenfalls beträchtlich zugenommen. Kasachstans Einfuhr von Computern im Jahr 2022 hat sich gegenüber 2021 versiebenfacht und ein Volumen von 1,2 Milliarden US-Dollar erreicht.[8] Auch werden in großen Mengen Haushaltsgeräte importiert, deren Mikrochips in der russischen Rüstungsindustrie benötigt werden.[9]

Auch diese Entwicklungen in den Bereichen Handel und Wirtschaft werden durch postsowjetische Institutionen und Praktiken begünstigt. Der hierfür wichtigste Faktor ist der Rechtsrahmen der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU), der zollfreien Handel und Unternehmensmobilität zwischen den Mitgliedern (Kasachstan, Kirgistan, Armenien, Belarus und Russland) fördert. In diesem Zusammenhang sind einige Trends bei der Neuregistrierung von Unternehmen in Kasachstan bemerkenswert. So hat die Anzahl russischer Unternehmen in Kasachstan in den ersten neun Monaten des Jahres 2022 um über 4.000 zugenommen. Nach Einschätzung der ADB waren diese aus Russland migrierenden Unternehmen auch der Grund dafür, dass ausländische Direktinvestitionen in Kasachstan im gleichen Zeitraum um 18 Prozent gestiegen sind.[10] Laut der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung haben seit Februar 2022 über eine halbe Million russischer Bürger ein Bankkonto in Kasachstan eröffnet.[11] Gleichzeitig erleichtern informelle Verbindungen zwischen Zollbeamten, Logistikern und Spediteuren innerhalb der regionalen EAWU-Lieferketten Praktiken wie »falschen Transit«, also die absichtliche Verschleierung des eigentlichen Ziels von Warensendungen.[12]

Diese informellen Praktiken gibt es bereits seit einiger Zeit, da zentralasiatische Staaten schon lange vorher eine Schlüsselrolle bei der Wiederausfuhr von Gütern über verschiedene Handels- und Rechtssysteme hinweg hatten. Das beste Beispiel hierfür ist Kirgistan. So hat Bischkek in den 2000er Jahren den eigenen Status als gleichzeitiges Mitglied von WTO und Eurasischer Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG, Vorläufer der EAWU) systematisch dafür genutzt, aus China importierte Güter in andere Staaten der EAWG zu re-exportieren.[13] Die Zahlen zum bilateralen Handel zwischen einzelnen zentralasiatischen Staaten und Russland verschleiern auch, wie China – Russlands wichtigster Lieferant von sanktionierten Gütern wie etwa Drohnen – seine Handelsverbindungen mit Zentralasien nutzt, um Russland weiter beliefern zu können.[14] Laut Wall Street Journal und mit Verweis auf chinesische Handelsstatistiken haben sich chinesische Exporte nach Kasachstan und Kirgistan seit Kriegsbeginn verdoppelt und belaufen sich mittlerweile auf über sieben bzw. sechs Milliarden US-Dollar.[15]

Schließlich bleiben die zentralasiatischen Machthaber zwar offiziell neutral, doch sind dabei sehr geschickt, die allgemeine Sorge vor regionaler Instabilität wirksam zur Konsolidierung ihrer autoritären Regime zu nutzen – vor allem vor dem Hintergrund der Wiedermachtergreifung der Taliban in Afghanistan 2021. Während der Westen weiter mit der Ukraine beschäftigt ist – und seit 2023 auch mit dem Nahen Osten – wird in Zentralasien weiterhin hart gegen unliebsame Presse, Kommentatoren in sozialen Medien und die politische Opposition vorgegangen. In Kirgistan ist dieses Jahr ein Gesetz über »ausländische Repräsentanten« in Kraft getreten. Wie das russische Vorbild gefährdet das Gesetz die Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen, die finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten. Seit der Unabhängigkeit benutzen zentralasiatische Machthaber die angebliche Gefahr von »drohender Instabilität« – sei es durch externe Kräfte, vom Westen inspirierte Proteste oder islamistische Bewegungen – als zynischen Vorwand, um ihre eigene autoritäre Herrschaft zu rechtfertigen. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine scheint die Region tatsächlich instabiler zu sein. Die Ursachen hierfür sind allerdings überwiegend interner Natur und Unruhen und Konflikte vor allem das Resultat von schwacher Regierungsführung. So zum Beispiel im Fall der tödlichen Grenzkonflikte zwischen Kirgistan und Tadschikistan 2021 und 2022, die über 40.000 Bewohner grenznaher Gebiete zur Flucht gezwungen haben. Als die Menschen im Juli 2022 in der Republik Karakalpakstan gegen die Streichung ihres verfassungsmäßigen Rechtes auf Sezession auf die Straße gingen, griff die usbekische Regierung sehr hart und gewaltsam durch. Zu diesem Zeitpunkt war die staatliche Kampagne zur militärischen Unterdrückung der pamirischen Bevölkerung des Autonomen Gebietes Berg-Badachschan (GBAO) in Tadschikistan bereits in vollem Gange. Und nur wenige Wochen vor der russischen Invasion in die Ukraine flammten in ganz Kasachstan Hunderte Proteste auf, die durch einen Anstieg der Treibstoffkosten im Westen des Landes ausgelöst wurden. Auch in diesem Fall hat die Regierung in Astana hart durchgegriffen und die anschließenden Straßenkämpfe mit militärischer Gewalt beendet. Währenddessen haben Truppen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) im Rahmen ihrer ersten »Friedensmission« strategische Objekte im Land bewacht und damit der Regierung von Präsident Tokajew den Rücken freigehalten.

Auch wenn diese Entwicklungen interne Ursachen haben, verringern sie nicht die sehr reale Furcht in der Region vor russischen Expansionsbestrebungen, oder womöglich eines Tages selbst einer militärischen Aggression Russlands ins Auge blicken zu müssen. Vorerst besteht die politische Strategie weiterhin darin, die Beziehungen zu Moskau pragmatisch fortzusetzen und gleichzeitig die Gelegenheiten zu nutzen, die mit dem Krieg in der Ukraine und den westlichen Sanktionen gegen Russland einhergehen.

Aus dem Englischen von Hartmut Schröder

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Verweise

[1] https://re-russia.net/en/review/347/

[2] https://ucentralasia.org/media/psdnh1p1/pbmigration-flow-change-in-central-asia-en.pdf

[3] https://www.adb.org/sites/default/files/publication/863591/ado-april-2023-special-topic.pdf

[4] https://www.caspianpolicy.org/research/central-asia/reshaping-realities-in-the-caspian-region-2023-in-review

[5] https://www.bbc.com/news/world-europe-68665896

[6] Berechnungen des Autors auf der Grundlage von Daten des russischen Ministeriums für Wissenschaft und Hochschulbildung: https://minobrnauki.gov.ru/press-center/news/mezhdunarodnoe-sotrudnichestvo/46158/

[7] https://astanatimes.com/2024/01/world-bank-economic-growth-in-europe-and-central-asia-remains-stable-amidst-global-slowdown/

[8] https://efile.fara.gov/docs/7246-Informational-Materials-20231017-20.pdf

[9] https://carnegieendowment.org/russia-eurasia/politika/2022/12/russia-and-central-asia-never-closer-or-drifting-apart?lang=en

[10] https://www.adb.org/sites/default/files/publication/863591/ado-april-2023-special-topic.pdf

[11] https://www.ebrd.com/economic-boom.pdf

[12] https://www.occrp.org/en/investigations/in-false-transit-loophole-russias-war-machine-is-supplied-through-kazakh-companies-and-belarusian-warehouses

[13] https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.2747/1539-7216.50.5.581

[14] https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/07/18/russia-sanctions-weapons-china-drones/

[15] https://www.wsj.com/world/russias-backdoor-for-battlefield-goods-from-china-central-asia-bd88b546

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